20 Apr

Digitalisierung und grüne Hightech Zivilisationen

Von Bernhard Irrgang (Dresden)


Thema des Blogbeitrags ist die Entwicklung einer neuen kognitiv orientierten praktischen Philosophie für eine neue Technologiezivilisation nach der Industriegesellschaft, die sich seit ca. 1990 (erste Anfänge im Zweiten Weltkrieg) entwickelt. Dabei sollen in der Geschichte entwickelte Interpretationsmodelle praktischer Philosophie nicht nur fachkundig interpretiert werden, sondern angesichts der doch recht neuartigen Probleme in Technologie, Gesellschaft und Kultur dynamisch, kreativ und experimentell weiterentwickelt werden. Es geht um eine neue Grundausrichtung der Philosophie jenseits der alten Aufteilung in Theorie und Praxis. Ich nenne diesen Ansatz eine Cyberphilosophie des algorithmic und synergetic turn vor dem Hintergrund einer phänomenologisch-hermeneutischen Interpretation der Alltags- und Lebenswelt.

Unterschiedliche Formen und Umfänge der Energieausbeutung erlauben eine gewisse Freiheit gegenüber der der Natur. In der zu erwartenden hypermodernen Technologie geht es nicht mehr nur um eine Art von Energieerzeugung und Verwendung, sondern um sehr unterschiedliche technologische und zivilisatorische Ansätze, die insbesondere miteinander korreliert werden und konvergieren. Dabei lässt sich Komplexitätssteigerung von Technologie nicht unbedingt mit kultureller oder gar moralisch-wertbezogener Höherentwicklung identifizieren. In der vierten Stufe wäre als Hauptenergie die elektrische zu nennen, die allerdings mit unterschiedlichen Technologien erzeugt werden muss. Hypermoderne Technologie wird sich aus drei Bereichen technologisch-zivilisatorischer Entwicklung heraus konstituieren. Diese sind (1) die Entstehung einer Infosphäre mit zwei Hauptbereichen von Cyberspace und virtueller Realität (Multimedia und VR-Techno Research-Modellwelten), (2) wechselseitige Verflechtung künstlicher Intelligenz und artifiziellen Lebens im Kontext einer Weiterentwicklung natürlich-kultureller Evolution des menschlich Mentalen und (3) einer über die Globalisierung hinausgehende konvergierenden Technologiebewegung zur Realisierung der UNESCO-Millenniums-Entwicklungsziele.

Die Gestaltung von Technik ist das Ergebnis eines andauernden Prozesses gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Hoffnung in die Digitalisierung als Retter in Sachen Ökologie wird vielfach propagiert. Digitalisierung setzt aber bislang eher die Wild-West-Tradition der gewaltsamen tabula rasa gegenüber der Natur, der indigenen Bevölkerung und lokalen Kulturen fort. Der Zusammenhang von Design und Nutzung im Kreislauf von Design, Produktion, Gebrauch, Recycling und Redesign sollte in den verstehenden und wissenden Umgang von der Wiege bis zur Wiedergeburt von technologischen Strukturen und Verfahren führen. Bemühungen um den sinnvollen Einsatz von Digitalisierung und künstlicher Intelligenz im Kontext der Konvergenz bionisch orientierter Zukunfts-Technologien des 21. Jahrhunderts im Modus der Langzeitverantwortung und ihrer Realisierung konzipiert muss das Paradigma der Industrialisierung 4.0 hinter sich lassen, denn es hat zu viel Kontinuität mit dem der industriellen Moderne, welches in den letzten 70 Jahren sehr stark zu einer Ausweitung ökosozialer Probleme auf der ganzen Erde geführt hat.

Digitale Geräte, Infrastrukturen und Anwendungen erfordern schon in ihrer Herstellung Ressourcen und Energie. Und am Ende müssen die – oft noch dazu kurzlebigen – Geräte als Elektroschrott auch wieder entsorgt werden. Für alle, die nachhaltiger konsumieren möchten, eröffnet die Digitalisierung großartige neue Optionen und Chancen. Die bittere Ironie der digitalen Beschleunigung des Konsums ist allerdings, dass sie offenbar nicht zu einer größeren Befriedigung führt. Und das Konzept der Just-in-Time-Logistik hat den Energieverbrauch der Logistik erhöht. Die Annahme, dass die Digitalisierung zur ökologischen Nachhaltigkeit der Wirtschaft beitragen könnte, berücksichtigt weder Rebound-Effekte, noch die Energie und Ressourcen, die nötig sind, um die Infrastruktur der Digitalisierung bereitzustellen. Man fragt sich also, woher die Visionäre des Silicon Valley den Mut (oder sollen wir lieber sagen die Ignoranz) hernehmen, uns eine derartige Fortschrittsgeschichte der anwachsenden künstlichen Intelligenz bis hin zum Transhumanismus zu erzählen.

Digitalisierung steigert die kapitalistische Wirtschaftsordnung zu einem neuen, bisher unbekannten Grad an Perfektion. Beide – Digitalisierung und Kapitalismus – haben Wachstum und Effizienz als gemeinsame Grundlage. Technologische Entwicklung folgt zwar nicht grundsätzlich strikt ökonomischen Interessen, im Bereich der Digitalisierung ist dies aber in hohem Maß der Fall. Darum muss es das Interesse der Politik und der Gesellschaft sein, die Entwicklung der Digitalisierung in Bahnen der Nachhaltigkeit zu lenken. So scheint Digitalisierung trotz aller angebliche Disjunktionen mit den Mustern der Industriemoderne und dem ökonomischen Neoliberalismus nicht nur mit diesen kompatibel zu sein, sondern als deren direkte Fortsetzung. Dies manifestiert sich im Bereich des Klimawandels und des Turbokapitalismus in der Globalisierung. Also sind andere technologische Entwicklungspfade zu suchen, die einen wirklichen Transformationskurs unterstützen und das Konzept der Industrie 4.0 wirklich beenden könnten. Für mich ist allerdings Digitalisierung nur ein Vorspiel für Hypermoderne, da KI ihre volle transformative Kraft erst im Zusammenspiel mit weiteren hypertechnologischen Grundtrends entfalten wird. Industrie 4.0 ist daher in meiner Perspektive ein Auslaufmodell der Industriemoderne, das Hypermoderne verzögert und ökosoziale Problemen vergrößert und perpetuiert. KI und neue Technologien müssen ökosozial eingebettet weiterentwickelt werden über die bestehenden Formen von Digitalisierung und Plattformökonomien hinausgehend.

Die anwendungsorientierte Dimension der Cyberphilosophie setzt die Grundtendenzen meines Konzeptes einer hermeneutischen Ethik fort. Sie verbindet wie im Alltag üblich kognitive und pragmatische Aspekte des gemeinsamen Handelns und stellt die Realisierung sittlicher Verpflichtung in den Mittelpunkt einer anwendungsorientierten Ethik. Sie entwickelt damit für das Verhältnis von instrumentellem und ethischem Umgangswissen eine neue Beziehung. Seit Kant werden hypothetische und kategorische Imperative, strategisches Umgangswissen, nämlich wie ein bestimmtes Ergebnis erzielt werden kann, und eigentliche sittliche Verpflichtung als Gegensätze gesehen. Und nur letztere sind für Kant Gegenstand der Ethik. Es ist nicht zu leugnen: Effektivität kann unsittlich sein. Perfekte Kooperation einer mafiösen Organisation ist effizient im Sinne des Gruppenegoismus, keinesfalls darum schon sittlich. Anwendungsorientierte Ethik ist von Problemen bestimmt, die sich aus der Verschränkung von Technik, empirischen Naturwissenschaften und den Formen menschlichen Zusammenlebens ergeben. Technisches Umgangswissen entspringt spezifischen Formen des Umgangs mit Situationen. Dabei wird „Techne“ zunächst in seinem weiten Sinn als jede menschliche Fertigkeit verstanden, etwas zu bewegen und zu bewirken. Die Zielorientierung des Bewirken Wollens verweist dabei auf Bewertung, auf die Orientierung hypothetischer Imperative hin zu Kategorischen Imperativen. Erst diese antworten auf die eigentliche Frage, warum etwas unbedingt und unter allen Umständen erreicht werden soll. Meist sind solche unbedingten Normen nicht erforderlich, denn es geht um pragmatische Lösungen.

Sittliches Umgangswissen als Verfahrenswissen etabliert eine Konzeption, in der Tatsachenwissen und Verpflichtungswissen ineinandergreifen. Dazu wird im Rahmen einer hermeneutischen Ethik ein Vier-Stufen-Modell anwendungsorientierter Ethik entwickelt, welches es erlaubt, empirisches Wissen ohne naturalistische Fehlschlüsse in die Formulierung konkreter sittlicher Verpflichtungen einzubeziehen. Es überwindet die „Zwei Kulturen“, führt aber nicht zum Aufweis apodiktisch gültiger Verpflichtungen. Es werden vielmehr Interpretationsvorschläge einer sittlichen Verpflichtung in konkreten Situationen. Durch reflektierte Anwendung sittlichen Umgangswissens werden so moralische Vorurteile überwunden und sittlich-normative Prinzipien geklärt. Der Prozess der Klärung unterscheidet dabei verpflichtende oder verbietende Urteile von weiter zu klärenden Fragen. In den Bereichen einer Philosophie der Technologie wie nach der Ausrichtung ihrer (ethischen) Gestaltung ist die alte disziplinäre Trennung zwischen theoretischer und praktischer Philosophie schon seit längerer Zeit hinfällig geworden.


Bernhard Irrgang, Prof. Dr. philhabil., Dr. theol; Lehramtsassessor (TU Dresden, seit 2019 i. R.) lehrte Technikphilosophie, auch Wissenschaftsphilosophie und angewandte Ethik im gesellschaftlichen Kontext an den Universitäten Würzburg, München und Siegen sowie an den TUs in Braunschweig und Dresden, zwischen 1995 und 2009 in Süd/Ostasien, Ostafrika, Südamerika und den USA, Gastprofessur Indien IIT Madras 2003, Mitarbeit in Instituten für Verhaltens- und Molekularbiologie vor, sowie Medizin, Informatik, diverse Ingenieur- und internationale Forstwissenschaften in Dresden; heute Forschung (mit Team von Nachwuchswissenschaftlerinnen; Projekt: KI und Commonsense) und Beratung im Home-Office.

Wissenschaftlicher Beraterkreis ITA (Analyse innovativer (Zukunfts-) Technologien und ihrer gesellschaftlichen Einbettung) des BMBF; Kompetenznetzwerk Bionik der TU Dresden

Nähere Informationen: Wikipedia Artikel und Forschungsprofil auf Research Gate

Homepage: www.tu-dresden.de/phfiph/dozenten/irrgang.htm

Homepage: http://www.bernhard-irrgang.eu/