17 Dez

„Er ist wieder da!“ Die Renaissance des Stoizismus

Von Markus Rüther (Jülich)


In den USA erfährt der Stoizismus gerade eine Renaissance. Auf Workshops lassen sich Unternehmer und Manager mittels der antiken Philosophie coachen. Es gibt mittlerweile Apps wie „Pocketstoic“, die einem jeden Tag ein Zitat von Marc Aurel, Epiktet und Seneca näherbringen. Die Bücherregale sind voll mit Titeln wie „The Obstacle Is the Way“, „How to Be a Stoic“ oder „How to Think Like a Roman Emperor.“ Und wer sich intensiver mit dem Stoizismus auseinandersetzen will, kann das in den USA auf inzwischen regelmäßig stattfindenden Konferenzen wie der Stoicon oder der Stoic Week tun oder sich mittels eines stoic fellowships in regionalen Gruppen zusammenschließen. Dieser Trend lässt sich auch für Deutschland festhalten, wenngleich er (noch) nicht in der gleichen Weise „Feuer“ gefangen hat. Hierzulande beschränken sich die Bemühungen des „Modern Stoicism“, so nennt sich der Zusammenschluss von Stoikern, vor allem auf kleinere Beiträge im Feuilleton (Für ausgewählte Beispiele siehe etwa SZ I und SZ II und Die Zeit. Ebenso sind die praktischen Überlegungen der Stoa mehr oder weniger regelmäßig Gegenstand von öffentlichen Publikumsvorträgen, wie etwa auf der Phil.Cologne (siehe für ein Beispiel aus 2019), der größten deutschsprachigen Vortragsmesse für Philosophie, oder auch in Philosophischen Cafés (siehe für ein Beispiel in Münster).

Warum ist die stoische Philosophie aktuell für viele besonders attraktiv?

Ein erster Ansatzpunkt könnte sein, dass der Stoiker der römischen Antike in das gleiche Horn stößt wie die derzeit populäre psychologische Selbsthilfe- und Ratgeberliteratur. Epiktet, Marc Aurel und Seneca verstehen Philosophie vor allem als eine Kunstfertigkeit (technê), die nicht dem Endzweck dient, theoretische Wahrheiten zu ermitteln, sondern das Leben in einem praktischen Sinne besser zu machen. Denn, so heißt es bei Seneca: „Die Philosophie beruht nicht auf Worten, sondern auf Handlungen.“ (Seneca, Epist. mor. 16,3) Um den praktischen Charakter zu veranschaulichen, wird die Philosophie häufig mit einer Medizin verglichen[1]: So wie die Medizin sich um die Gesundheit des Körpers kümmert, bemüht sich die Philosophie um die Gesundheit der Seele. Philosophen sind demnach Seelenärzte, die mit ihren eigenen philosophischen Lehren versuchen, zum guten Leben der Schülerinnen und Schülern beizutragen.

Darüber hinaus scheint der Stoizismus auch zum säkularen Mainstream zu passen. Es gibt keine Offenbarung und kein Damaskus-Erlebnis, die einem die Pforte in eine neue ethische Realität aufstoßen. Ebensowenig gibt es Gurus, denen bedingungslos zu folgen wäre, und „heilige Bücher“, die gemäß ihrer ursprünglichen Wortbedeutung ausgelegt werden müssen. Stoiker orientieren sich in den ethischen Grundsätzen ihres Handelns an der eigenen reflektierenden Vernunft und sind auch nicht zu eitel, die Lehren von Andersdenkenden zumindest selektiv zu berücksichtigen. So hat insbesondere Seneca betont, dass die Fähigkeit des Stoikers, eigene Urteile zu fällen, auch beinhalten kann, dass auf die Lehren von vermeintlichen Antagonisten wie Epikur zurückgegriffen werden muss (vgl. Seneca, Epist. mor. 33).

Trotz dieser säkularen und ökumenischen Ausrichtung kann die stoische Lehre jedoch auch an die Restspiritualität vieler Menschen andocken. Es gibt zwar keinen personalen Gott, aber doch ein „design without a designer“, wie es Thomas Nagel einmal genannt hat.[2] Die Stoiker setzen mittels ihrer oikeisôsis-Lehre den Gedanken in Szene, dass „unsere Naturen (…) Teile des Ganzen sind. Aus diesem Grund besteht das Ziel darin, in Übereinstimmung mit der Natur zu leben.“ (Diog. Laert. 7.88=LS 63 C) Im Allgemeinen bedeutet es: Der Mensch muss seinem ergon (d. h. seiner ihm eigentümlichen Natur) folgen, nämlich vernünftig und sozial handeln. Im Konkreten heißt das: Er muss einen bestimmten Charakter ausbilden, was für Stoiker beinhaltet, das eigene Denken, Fühlen und Handeln so zu trainieren, dass am Ende ein tugendhafter, das meint: ein vernünftiger, gerechter, mutiger und selbstbeherrschter, Mensch zu erkennen ist.  

Das führt zu einem weiteren Attraktivitätsmerkmal. Denn das stoische Glücksversprechen passt zum Zeitgeist: Es ist zugleich egalitär und individualistisch. Egalitär ist vor allem, dass jeder die Möglichkeit hat, ein gutes Leben zu führen – egal, von welcher Abstammung er ist, welchen Bildungsgrad er genießt und welchen sozialen Rang er bekleidet. Das einzige, was zählt, ist die Formung des eigenen Charakters, die eine Praxis darstellt, die jedem prinzipiell offensteht. Individualistisch daran ist, dass mit dieser These auch verbunden ist, dass das gute Leben nur vom jeweiligen „Selbstformer“ abhängt. Es hat nicht nur jeder die Möglichkeit auf ein gutes Leben. Das Individuum hat es auch – wie es der stoische Merksatz: ominia mea mecum porto, ausdrückt – immer schon im Gepäck. Es liegt in ihm, nämlich in seinem Denken, Fühlen und Handeln – kurzum: in seinem eigenen Charakter. Entsprechend kann es durch nichts beeinträchtigt werden – weder durch andere Menschen noch durch widrige Umstände. Der stoisch geformte Charakter ist, so legt Pierre Hadot in seinem gleichnamigen Buch nahe, wie eine uneinnehmbare „innere Burg“.[3]

Die Stoa als mentales Betriebssystem im Silicon Valley

So weit die Allgemeinplätze. Was aber reizt die Menschen im Silicon Valley am Stoizismus? Bei näherer Betrachtung scheinen es nämlich insbesondere Manager und Entrepreneurs zu sein, die dem Stoizismus besonders aufgeschlossen gegenübertreten und zu neuem Ruhm verhelfen. Zwei Stars der Szene, Ryan Holiday und Tim Ferriss, selbst PR-Profis, vermarkten die Philosophie als eine Art mentales Betriebssystem für High Stress Environments. In ihren Buch-Bestsellern, Youtube-Beiträgen und Seminaren zeichnen sie das Bild des stoischen Weisen als maximal resiliente Person, die sich durch mentale Unerschütterlichkeit auszeichnet. Ihren Kunden versprechen sie schnelle life-hacks, gut konsumierbar und mit dem Flair der antiken Lebensweisheit. Es geht darum, als Person sein volles Potenzial auszuschöpfen, was vor allem bedeutet: beruflichen Erfolg zu haben und gesellschaftlich anerkannt zu sein und – wenn es der Zufall so will – auch viel Geld zu verdienen. Es verwundert daher auch nicht, dass die Musterbeispiele des guten Lebens in Holidays und Ferriss’ Werken nicht die gescheiterten, aber trotzdem standhaften Existenzen wie Herkules oder Odysseus sind, sondern die erfolgreichen Manager und Entrepreneurs der Szene – Bill Gates, Warren Buffett und Steve Jobs. Das ist vermutlich kein Zufall, sondern soll suggerieren, dass die stoische Unerschütterlichkeit kein Selbstzweck ist, sondern im Dienste eines produktiven beruflichen Lebens stehen soll.  

Ist das noch Stoizismus?

Sicherlich ist es angesichts der Quellenlage nicht einfach, den „wirklichen“ Kern des Stoizismus auszumachen, und darüber hinaus kann man darüber streiten, ob es die Stoiker mit einer einheitlichen Theorie überhaupt gegeben hat.[4] Halbwegs klar scheint aber den meisten philosophischen Erstsemestern zu sein, dass die Silicon-Valley-Deutung des Stoizismus ein gewisses Unbehagen verursachen sollte.

Da wäre zunächst die Orientierung am Idealbild des erfolgreichen Unternehmers. Diesen als Musterfall eines Stoikers zu interpretieren, erscheint wenig überzeugend. Es mag an der einen oder anderen Stelle inhaltliche Überschneidungen geben zwischen den Haltungen, aber beide scheinen sich bereits mit Blick auf das grundlegende Ziel ihres Lebens zu unterscheiden. Dem Unternehmer geht es typischerweise vor allem um das next big thing, steigende Aktienkurse und monetären Wohlstand. Bei einigen mag man auch einen natürlichen Drang nach Selbstverwirklichung, Produktivität und sozialer Anerkennung entdecken. Und dem Stoiker? Ihm geht es vor allem um die eigene Charakterbildung, denn – wie Seneca sagt – „die Tugend ist das einzige Gut.“ (Seneca, Epist. mor. 71,32). Das primäre Ziel eines stoischen Lebens besteht darin, ein tugendhafter Mensch zu werden, nämlich ein solcher, der vernünftig, gerecht, mutig und selbstbeherrscht ist. Das bedeutet aber auch, dass ein solches Leben kein besonders erfolgreiches Leben im materiellen Sinne sein muss, nicht einmal eines, das von anderen anerkannt wird. Allerdings: Das impliziert nicht, dass dem Stoiker diese Dinge vollkommen gleichgültig sind. Als natürliches Wesen wird er Wohlstand und Ansehen gegenüber Armut und Einsamkeit bevorzugen. Gleichzeitig behandelt er sie jedoch – ähnlich wie auch Lust und Schmerz, Gesundheit und Krankheit sowie Leben und Tod – als Indifferenzien (adiaphora). Weder ihr Vorkommen noch ihre Abwesenheit machen sein gutes Leben aus. Das einzige, was wirklich für ihn eine Bedeutung hat, ist seine innere Haltung.

Sich der eigenen Charakterbildung zu verschreiben ist – anders als Holiday und Ferriss nahelegen – kein Zuckerschlecken. Um ein solcher Mensch zu werden, reichen keine life-hacks, die man innerhalb einer 4-Hour Work Week – so ein Buchtitel von Ferriss – wie ein Kochrezept anwenden kann. Ein wenig premeditatio hier ein wenig reflectio dort und schon ist man auf dem Weg zum stoischen Weisen. Im Gegensatz dazu betonen die Stoiker mehr als einmal, dass die eigene Selbstformung ein lebenslanges Projekt darstellt, das die meisten von uns – so lautet die bittere Wahrheit – nie vollenden werden. Der stoische Weise, so heißt es, ist so selten wie der Phoenix, und der taucht nur alle 500 Jahre auf (Alex. Aphr., De fato 199,14-22). Die meisten von uns bleiben also ein Leben lang Lehrlinge, oder wie die Stoiker es nennen: ein prokoptôn. Mehr noch: Es ist sogar so, wie Chrysippus nach Plutarchs Überlieferung zu meinen scheint, dass wir im Bereich der Tugend nicht mal Fortschritte machen können. Ein Ertrinkender ist eben ein Ertrinkender, egal, ob er nahe der Wasseroberfläche ertrinkt oder weiter unten (Plutarch, Comm,. not. 10. 1063 A-B). Es ist wohl verständlich, dass die frohe Botschaft von der Vergeblichkeit und Unvollkommenheit des eigenen Lebens im Silicon Valley bisher auf taube Ohren gestoßen ist, denn sie passt nicht sonderlich gut zum Perfektionismus der Tech-Szene. 

Wenn man Holiday und Co. liest und zuhört, gewinnt man aber nicht nur den Eindruck, dass uns die stoische Lehre mit schnell konsumierbaren Häppchen zum beruflichen Erfolg führt, sondern auch, dass dafür lediglich praktische Übung notwendig ist. Verbunden wird diese Ausrichtung geradezu mit einer lamentohaften Absage an jegliche Art der philosophischen Reflexion. Nach dem Motto: Auf die Praxis kommt es an, nicht auf die Theorie. Das verkennt allerdings den Doppelaspekt der stoischen Philosophie als Übung (askêsis) und Theorie (theoria): Die Stoiker stehen in der sokratischen Tradition, die Tugend mit einem umfassenden Wissen gleichsetzt. Ein solches Wissen beinhaltet aber nicht nur, dass der Stoiker eingeübt hat, das Richtige im fraglichen Moment procheiron, also vor Augen zu haben, sondernauch, dasser es kohärent begründen kann – und zwar in der gesamtem philosophischen Tiefe von Logik, Physik und Ethik. Der stoische Weise hat nicht nur eingeübt, aus dem richtigen Grund heraus, alten Menschen über die Straße zu helfen, sondern er weiß auch, warum genau dieser Grund entscheidend ist, von welcher ontologischen Art dieser Grund ist und wie diese Ansicht über Gründe zum gesamten Gefüge der Wirklichkeit passt. Der stoische Weise ist also beides: Es ist lebensnaher Praktiker und reflektierender Philosoph.

Stoizismus im Silicon Valley: ein kurzes Fazit

Das alles scheint darauf hinzudeuten, dass ein Stoizismus, der im Fahrwasser der Selbstoptimierungstrends des Silicon Valley agiert, wenig mit dem Stoizismus der römischen Kaiserzeit zu tun hat. Er ist zu einseitig, ja nicht selten verzerrend und manchmal auch falsch. Stoikern kommt es einzig auf die Arbeit am eigene tugendhaften Charakter an; der Weg dorthin ist steinig und vermutlich sogar vergeblich und beinhaltet neben täglicher Praxis auch eine Menge an philosophischer Reflexion. Und das sind drei Aspekte, die bei Holiday und Ferriss – und bei vielen anderen in der Tech-Szene – bestenfalls eine untergeordnete Rolle spielen. Um einem Missverständnis vorzubeugen: Ich möchte nicht in Abrede stellen, dass das Lebensmodell des Silicon Valley durchaus für einige Menschen etwas Gewinnbringendes beinhalten kann. – Es geht mir nicht um antikapitalistische oder antikonsumerische Kulturkritik. Worum es mir geht, ist ein Appell, nämlich, dass man ein solches Lebensmodell nicht unter dem Banner „Stoizismus“ segeln lässt, um höhere Verkaufszahlen zu generieren. Das ist, wie gesehen, sachlich nicht angemessen, weil es die Philosophie der Stoa nicht widerspiegelt, und es gerät – wenn das Motiv dahinter der eigene Erfolg sein sollte – sogar in Konflikt mit dem, was den Stoikern wichtig ist – mit der Ausbildung eines eigenen tugendhaften Charakters.


Dr. Markus Rüther ist Ethiker und Philosoph am Forschungszentrum Jülich. Zurzeit arbeitet er unter anderem an einem Buch zum Verhältnis von Philosophie und Lebenspraxis in der römischen Stoa. 


[1] Vgl. John Sellars: The Art of Living. Bristol 2009. S. 64-68.

[2] Vgl. Thomas Nagel, Mind and Cosmos. OUP 2012.

[3] Vgl. Pierre Hadot: Die innere Burg. Gatza 1997.

[4] Vgl. für diese Herausforderung Anna Schriefl: Stoische Philosophie. Reclam 2019. S. 33-41.

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