Zum 250. Geburtstag: Die Bedeutung Caspar David Friedrichs für die Medizin

Von Lucas Milling (Rostock) und Katharina Fürholzer (Koblenz)



Caspar David Friedrich (1774–1840) gehört zu den wichtigsten Vertretern der romantischen Malerei. Seine ruhigen, von Spiritualität geprägten Naturdarstellungen haben bis heute nichts von ihrer Anziehungskraft verloren. Welche Bedeutung den meditativ-kontemplativen Potenzialen, die Friedrichs Werk innewohnen, auch für Auseinandersetzungen mit Krankheit und Vergänglichkeit zukommen kann, ist Gegenstand nachfolgender Überlegungen.

Friedrich war zweifellos ein sehr frommer Maler. Seine Bilder sind geprägt von Ehrfurcht vor der Natur und ihrem Schöpfer. Menschen werden vor der gewaltigen Natur zu Miniaturen vor einem allmächtigen Gott, was zur Demut anleitet (Felsental, Dorflandschaft bei Morgenbeleuchtung). Auch die häufige Verwendung der Kreuzsymbolik, die sich in Gebirgs- und Küstenlandschaften findet (Tetschener Altar, Kreuz an der Ostsee), oder die Darstellung von Kirchen, die selten in seinen Landschaften fehlen (Winterlandschaft mit Kirche, Der Abendstern), verweisen auf Friedrichs christliches Bekenntnis.[i]

Das Wissen um das Religiöse hilft, Friedrichs Werk rational zu erfassen. Es ist aber nicht zwingend erforderlich, um dessen Wirkung fühlend zu erfassen und darauf kam es Friedrich besonders an.[ii] Oft kritisiert er andere Künstler, die ein Bild zwar gut durchdacht und handwerklich meisterhaft ausgeführt haben, ohne jedoch von einem Gefühl getragen zu werden, was die Kunst zur „Künstelei“ verkommen lässt.[iii] Das andächtige Betrachten der Natur ist jedoch auch für jene möglich, die sich keinem Glauben verpflichtet fühlen. Deshalb kann man Friedrichs Bilder auch unabhängig von religiösen Implikationen schätzen. Die „erste Forderung der Kunst“ ist es laut Friedrich so, den Betrachter „in eine schöne Stimmung“ zu versetzen.[iv]

Friedrichs Bilder zielen nicht selten auf die Vermittlung von Hoffnung ab. Dies kann die während der Romantik aufkommende Hoffnung auf nationale Einigung und auf die Befreiung von den französischen Besatzern sein (Der Chasseur im Walde, Das Grab des Arminius).[v] Es kann eine verzweifelte Hoffnung auf Gott sein, wie sie möglicherweise der Mönch am Meer hegt: In der entgrenzten Einsamkeit am tristen Meeressaum deutet über den dunklen Wolken schon ein heller Streif besseres Wetter an, durch welche dieses Bild Hoffnung auf Tröstung und Erlösung in Gott erlaubt.[vi] Und es kann die Hoffnung auf Genesung sein, wie im Falle des Mannes in Winterlandschaft mit Kirche, der im Schnee seine Krücken fortwirft, um an einem Felsen im Schatten der Fichten zu beten.

Durch Gemälde, die wie Winterlandschaft mit Kirche körperliche Beeinträchtigungen explizit sichtbar machen, lässt sich erahnen, in welcher Weise die Betrachtung von Friedrichs Werk – sei es individuell oder angeleitet, im eventuell auch therapeutischen Gespräch – auch in medizinischen Kontexten Bedeutung erhalten kann.

Die meditativ-kontemplative Wirkung, die Friedrichs Gesamtwerk auszeichnet, und die damit ermöglichte Sensibilisierung für eigene und fremde Perspektiven laden jedoch auch bei Gemälden ohne explizite Krankheitsmotive zu einer (fühlenden) Auseinandersetzung mit Gesundheit, Krankheit und Vergänglichkeit ein.

Exemplarisch dargelegt sei dies anhand des Gemäldes Frau vor der untergehenden/aufgehenden Sonne (um 1818–1820, unter beiden Titeln bekannt). Im Zentrum des Bildes sehen wir die Rückenansicht einer Frau, die ein bodenlanges, bläulich schimmerndes Kleid im Stil altdeutscher Tracht trägt. Das für uns nicht sichtbare Antlitz ist dem Horizont zugewandt, auf eine in mehreren Ebenen gestaffelte Hügellandschaft. Hinter dem mittigen, mächtigsten Hügelkamm strahlt die Sonne, die selbst nicht zu sehen ist, aber erahnbar durch breite Lichtbahnen, die sich wie ein Fächer in den Himmel erstrecken. Das Licht umgibt den Oberkörper der Frau, ihre Handflächen sind der Sonne zugekehrt, die Finger in zarter Geste gespreizt. Die Frau befindet sich auf einem ockerfarbenen Weg, der sich aus dem Sichtfeld des Betrachters abrupt weg biegt, auf jeder Seite von schroffen Felsbrocken gesäumt. Neben und vor der Frau erstrecken sich dunkelgrüne Wiesen. Zwischen einer Gruppe von Sträuchern auf der linken Bildseite sieht man den dunklen Turm einer entfernten Kirche. Wiesen und Felsbrocken, die das untere Bilddrittel füllen, werden durch einige dunkelbraun colorierte Hügel von den dahinterliegenden, im diffusen Sonnenlicht badenden Hügeln abgegrenzt, die sich in einen fein lasierten Himmel aus gelben, orangen, roten und grau-violetten Farbschichten erheben.[vii]

Friedrichs Rückenfiguren verstellen oftmals den Blick auf schöne, gewaltige oder neblige Szenerien (Morgen im Riesengebirge), meist in der Natur, manchmal auch in Städten oder privaten Wohnräumen (Frau am Fenster). Um erfassen zu können, was diese Figuren wahrnehmen, müssen wir ihre Perspektive übernehmen. Diese Sogwirkung in das Bild hinein lässt sich für viele Gemälde Friedrichs verzeichnen, wie etwa nachahmende Instagram-Posts von Wanderer über dem Nebelmeer zeigen. Und auch bei Frau vor der untergehenden/aufgehenden Sonne möchte man ihre Perspektive einnehmen und ist dabei zugleich versucht, die Augen zu schließen und der wärmenden Sonne, dem Duft der grünenden Wiesen, der verankernden Präsenz der Felsen – im Sinne Friedrichs – fühlend nachzuspüren.

Die Einladung zum Perspektivwechsel und damit zugleich zur Schulung von Empathie ist nun der Kunst generell inhärent. Durch Friedrichs Rückenfiguren wird diese Einladung in gewisser Weise potenziert. In medizinischen Settings kann eine gezielte Auseinandersetzung mit Friedrichs Werk so Ärzteschaft und Pflege als Erinnerung daran dienen, in welchem Maße – selbst bei unmittelbarer Nähe – der Blick auf das Ich- und Welterleben eines kranken oder sterbenden Gegenübers mitunter versperrt bleibt. Ein hiermit verbundener (nach- und ein-)fühlender Bild- und damit Menschenzugang vermag zugleich das Bewusstsein für die individuellen körperlichen Erlebensdimensionen von Krankheit und Sterben zu schärfen, die sich auch unter Patienten erheblich unterscheiden können.

Dies führt uns weiter zur kontemplativen Dimension des Gemäldes, die sich durch dessen spirituelle Implikationen wie auch dessen ambigues Lichtspiel eröffnet. So erlauben die Kirche und auch als Todessymbole deutbare Bildelemente wie der plötzlich abbrechende Weg, die rauen Felsen oder die Dämmerung eine religiöse Deutung. Außerdem gleicht der Lichtfächer demjenigen, der die Christusfigur im berühmten Tetschener Altar anstrahlt,[viii] und der von Friedrich explizit mit Gott gleichgesetzt wurde.[ix] Der formale Aufbau des Bildes erzeugt einen Eindruck, „der mit Begriffen wie ‚Ernst‘ und ‚Feierlichkeit‘ oder auch ‚Stille‘ und ‚Hingabe‘ zu charakterisieren ist“, wobei unklar bleibt, ob wegen der in der Natur zelebrierten Religiosität „ein Pantheismus konstatiert werden darf“.[x] Die Frau lässt mit ihrer dem Licht entgegengestreckten, einer Umarmung gleichenden Geste ihre Empfänglichkeit für die Präsenz Gottes erahnen, und damit verbunden eine erkennende Wertschätzung von Diesseits und Jenseits.

Damit verbunden ist die Lichtstimmung des Bildes. Deutet man Frau vor der untergehenden/aufgehenden Sonne als Abenddämmerung, kann das scheidende Licht, das in seiner Unaufhaltsamkeit die Vergänglichkeit des Moments bewusst macht, melancholisch stimmen. Verstanden als Aufgang der Sonne, symbolisiert diese Kraft und Zuversicht auf den neuen Tag, die Vergegenwärtigung der Kostbarkeit des Augenblicks, eben weil er vergänglich ist. So spiegelt und weckt das Bild eine Hoffnung auf Wiederkehr, auf einen weiteren Tag, und kann dabei zugleich zu einem bewusst geführten Leben anregen.

Die sich aus ihrer inhärenten Ruhe speisende Kraft der Bilder, die sich auch auf den Betrachter zu übertragen vermag, verweist in diesem Kontext nicht zuletzt auf ihre potenzielle Bedeutung für die Hospiz- und Palliativversorgung. So können Friedrichs Gemälde Patienten wie auch die um sie Sorge Tragenden zur Kontemplation von Gesundheit, Krankheit und Vergänglichkeit gereichen – und daran erinnern, dass entsprechende Reflexionen selbst Räume und Zeiten der Stille erfordern.

Das Bekannte mit anderen Augen anzuschauen ist nach Novalis‘ berühmter Definition ein Bestandteil des Romantisierens.[xi] Die Natur liegt in ihrer sinnlichen Schönheit jeden Tag vor uns, wir müssen uns nur die Zeit nehmen, sie bewusst zu genießen. Der Kranke kann Zuversicht für den kommenden Tag fassen oder Dankbarkeit empfinden für die Schönheit des heute noch durchlebten Tages. Die Einsamkeit der Frau auf dem aus den Augen verlorenen Pfad stößt uns auf Erinnerungen an Situationen, in denen wir einsam waren. Krankheit und bevorstehender Tod können Menschen voneinander scheiden. Hinter dem Horizont dieses Lebens kann Erlösung warten, oder auch ein Verströmen in der Natur nach einem bewusst geführten Leben, das sich entlang des Lichtfächers in den glühenden Himmel erstreckt.


Lucas Milling studierte Philosophie und Zivilrecht an den Universitäten Jena und Zürich. Er ist gegenwärtig Assistent an der School of Management der Universität St. Gallen und unterstützt Forschungsprojekte der Interdisziplinären Fakultät der Universität Rostock. Seine Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Ethik, Staatsphilosophie und Ästhetik des 18. und 19. Jhr., insbesondere in den Epochen der Aufklärung und der Romantik.


Katharina Fürholzer ist Literaturwissenschaftlerin mit zusätzlichen Stationen in der Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin sowie den Ageing Studies. Seit 2024 ist sie Juniorprofessorin für Interdisziplinaritätsforschung an der Universität Koblenz. Ihre Arbeit konzentriert sich u.a. auf den Forschungsbereich der Medical Humanities, Repräsentationen sprachlicher Ohnmacht, sowie Ethik und Ästhetik im Kontext von Altern, Sterben und Tod.




[i] Das zeigt sich auch mit Blick auf das Private, etwa in Friedrichs Korrespondenzen (vgl. z.B. Grave, Johannes, Petra Kuhlmann-Hodick und Johannes Rößler (Hg.). 2023. Caspar David Friedrich. Die Kunst als Mittelpunkt der Welt. Ausgewählte Schriften und Briefe. München: C. H. Beck. Hier S. 52, 71, 74).

[ii] Grave et al. 2023. Hier S. 116–120.

[iii] Grave et al. 2023. Hier S. 22.

[iv] Grave et al. 2023. Hier S. 21.

[v] Warren, Richard. 2017. „Caspar David Friedrich, Ancient Rome and the Freiheitskrieg.” Open Cultural Studies 1: 66–74.

[vi] Vgl. hierzu auch Illies, Florian. 2023. Zauber der Stille. Caspar David Friedrichs Reise durch die Zeiten. Frankfurt a.M.: S. Fischer. Hier S. 111–115.

[vii] https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/7/7e/Caspar_David_Friedrich_-_Frau_vor_untergehender_Sonne.jpg. Zum Entstehungshintergrund des Bildes siehe Wolf, Norbert. 2022. Caspar David Friedrich (1774-1840). Der Maler der Stille. Köln: Taschen. Hier S. 50; Cibura, Sabine. 2019. Die Schiffe und Boote im Werk von Caspar David Friedrich. Dissertation, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:5-54890. Hier S. 64–70; Grave et al. 2023. Hier S. 17.

[viii] https://de.wikipedia.org/wiki/Tetschener_Altar#/media/Datei:Friedrich_Tetschener_Altar_1808.jpg.

[ix] Grave et al. 2023. Hier S. 23–24.

[x] Noll, Thomas. 2011. „Die allegorische Landschaft bei Caspar David Friedrich. Möglichkeiten und Grenzen der Interpretation.“ Wallraf-Richartz-Jahrbuch 71: 281–296. Hier S. 282–283.

[xi] Morton, Marsha. 2002. „German Romanticism: The Search for ‘A Quiet Place’.“ Art Institute of Chicago Museum Studies 28: 8–23, 106–107. Hier S. 13.