Habermas zum 95. Geburtstag
Von Detlef Horster (Hannover)
Jürgen Habermas war sein Leben lang ein beharrlicher Aufklärer. Immer hat er sich in politisch brisanten Situationen eingemischt und Diskussionen auf hohem intellektuellem Niveau geführt, bereits in der Adenauer-Ära, dann bei den Notstandsgesetzen, in der Studentenbewegung, bei der Hochschulreform, später in der gefährlichen Pogromstimmung des deutschen Herbstes von 1977, bei den NATO-Beschlüssen zur Nachrüstung, im Historikerstreit, in dem es wieder einmal um unsere unzulänglich aufgearbeitete Vergangenheit ging, dann wieder bei der deutschen Vereinigung, im Irak-Krieg, beim NATO-Einsatz in Jugoslawien und zuletzt in der Gentechnik-Debatte. Auch seine wissenschaftlichen Werke zur Gesellschaftstheorie waren politisch motiviert: Habermas wuchs in einer Zeit auf, in der die Menschen sich dem Konformitätsdruck der Nazi-Ideologie beugten, um das zu tun und zu denken, was anderen gefiel, und was opportun war.
Aus dieser persönlichen Erfahrung resultierten seine sozialphilosophischen Forschungen, die von der Feststellung ausgingen, dass sich in der Zeit der Aufklärung das Modell des öffentlichen Vernunftgebrauchs in der bürgerlichen Öffentlichkeit entfaltete. Habermas stellte sich die Frage, wie sie derartig ausgezehrt werden konnte, dass der Stumpfsinn des Nationalsozialismus obsiegte. Dieses Problem behandelte er in seinem ersten wissenschaftlichen Buch Strukturwandel der Öffentlichkeit, das zugleich seine Habilitationsschrift an der Universität Marburg war. Habermas’ Rezept gegen einen erneuten Verfall bürgerlicher Öffentlichkeit war die hochaufmerksame Wachheit in bezug auf das politische Geschehen, die bei ihm lebenslang nicht nachließ.
Sein sozialphilosophisches Interesse war darauf gerichtet, die Ursachen für die negativen Effekte des technischen Fortschritts aufzuspüren. Dabei war er zunächst an Heidegger orientiert, in dessen Philosophie er gelebt hatte, wie er selbst einmal formulierte. Heidegger hatte bei seiner geschichtlichen Betrachtung zwar die Entwicklung gesehen, die zum rechnenden und auf Beherrschung zielendes Denken führte. Er hatte aber die gleichzeitige Entfaltung moralischen Bewusstseins nicht entdeckt, das ein Korrektiv des technisch-instrumentellen Denkens ist. Das moralische Denken als Korrektiv des technischen wurde Gegenstand Habermasscher Untersuchungen.
Habermas’ Forschungsgegenstand konnte man fortan als „Dialektik der Rationalisierung“ bezeichnen, aber nicht mit dem ausschließlich negativen Ergebnis der Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor Adorno, die Habermas’ Lehrer waren, und an deren Institut er von 1956 bis 1959 als Forschungsassistent arbeitete. Habermas legte sein Forschungsdesign im Gegensatz zu seinen Lehrern als Dreischritt an: Das Ideal einer gerechten Gesellschaft war der normative Maßstab seiner soziologischen Analysen; zweitens offenbarte er, welche Mechanismen in der unzulänglichen Gesellschaft die Weiterentwicklung verhindern, und drittens zeigte er das Entwicklungspotenzial auf, das auf dem Weg zu einer gerechteren Gesellschaft zu entfalten sei.
Für Habermas war demnach klar, dass beide Stränge, positive wie negative Auswirkungen des Rationalisierungsprozesses, verfolgt werden müssten. Das führte ihn zu der Unterscheidung von Arbeit und Interaktion, in seiner Schrift Technik und Wissenschaft als ‚Ideologie’ von 1968, zu einer Zeit, da er bereits Professor in Frankfurt/M. war. Die Arbeit im Kapitalismus sei bestimmt durch den technisch-instrumentellen Rationalisierungstypus, den man auch als zweckrationales Handeln zu bezeichnen pflegte. Demgegenüber steht die normative Rationalität, die am besseren Argument, das vorgetragenen wird, orientiert ist. Damit waren erstmals die beiden gesellschaftlichen Bereiche benannt, die zum Zentrum seiner Gesellschaftstheorie in seinem 1981 erschienenen zweibändigen Hauptwerk Theorie des kommunikativen Handels wurden, das ihn weltberühmt machen sollte und ihm viele Ehrungen bescherte. Zu dieser Zeit war er Direktor des „Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt“ in Starnberg. (Das Foto über diesem Text zeigt Jürgen Habermas im Gespräch mit Oskar Negt (rechts vorne) und Detlef Horster (links vorne). Das Gespräch fand 1981 unmittelbar nach der Fertigstellung von Habermas‘ Hauptwerk statt.)
Jede moderne Gesellschaft hat zwei Sphären. Auf der einen Seite steht eine durch Kommunikation bestimmte Lebenswelt, auf der anderen die durch instrumentelle Rationalität bestimmte Welt der Systeme, die ein Eigenleben entwickeln und die Menschen beherrschen. Hier finden wir erste Übernahmen aus den Analysen der Luhmannschen Systemtheorie, die Habermas in seine Gesellschaftstheorie integrierte. Die Lebenswelt ist darin ein Komplement zu den Systemen. Die Lebenswelt besteht im Gegensatz zu den Systemen „aus individuellen Fertigkeiten, dem intuitiven Wissen, wie man mit einer Situation fertig wird, und aus sozial eingelebten Praktiken, dem intuitiven Wissen, worauf man sich in einer Situation verlassen kann, nicht weniger als aus den trivialerweise gewußten Hintegrundüberzeugungen.“ Dies alles sei in unserer Sprache konserviert, fand Habermas. Die Lebenswelt ist erst zugänglich, wenn diese Hintergrundüberzeugungen problematisch werden, wie jetzt bei der Gentechnik. Habermas vertrat in dieser Debatte den Standpunkt, dass der genetischen Verfügbarkeit deshalb Grenzen zu setzen seien, weil dem Menschen, dessen Leben aus einer genetischen Manipulation entstanden ist, seine unkorrigierbare Existenz irgendwann bewusst werde. Kinder, die vorgeburtlichen Eingriffen unterworfen waren, könnten mit ihren Eltern nie gleichwertig sein. Sie müssten sich zeitlebens als Schöpfung ihrer Eltern, und damit als Unterlegene betrachten.
Hintergrundüberzeugungen können also diskursiv behandelt und verändert werden. Systeme hingegen sind starr. Sie entlasten zwar die Lebenswelt und automatisieren die immer wiederkehrenden, aber für den Alltag notwendigen Handlungsabläufe. Doch sind sie nicht mehr verhandelbar. Will man einen anderen Ablauf, dann stößt man auf den Widerstand, der in Aussagen gipfelt, wie: „Diesen Verwaltungsakt können wir nicht ändern, da könnte ja jeder kommen.“ oder: „Das mag zwar moralisch richtig sein, ist aber nicht Rechtens“, wie es ein Richter im Prozess gegen Atomwaffengegner sagte, die die Tore einer Fabrikationsanlage blockierten: „Ich teile zwar Ihre moralische Auffassung, dennoch muss ich Sie verurteilen, weil Ihr Handeln nicht Rechtens war.“ – Je mehr Freizeit, Kultur, Erholung, Tourismus vom instrumentellen Denken erfasst würden und Schulen die Funktion übernähmen, Berufs- und Lebenschancen zuzuteilen, desto stärker würde die Lebenswelt von Systemen bestimmt, analysierte Habermas.
Aber von ihm werden auch die Ambivalenzen gesehen, denn auf der einen Seite wird der Rechtsschutz erweitert, werden Schule und Familie der Willkür entzogen; es werden Handlungsbereiche für bürokratische Eingriffe und gerichtliche Kontrollen geöffnet. Der Rechtsschutz wird aber – und das ist die wiederum andere Seite – mit einer tief in Lehr- und Lernvorgänge eingreifenden Justizialisierung und Bürokratisierung erkauft. Und die Tragik ist, dass wir in dieser Hinsicht Opfer unseres eigenen Tuns sind.
Wie ein großer Teil der Soziologen vor ihm, ging auch Habermas von der Überzeugung aus, dass es einen kontinuierlichen, fast gesetzmäßigen Geschichtsverlauf in Stadien gibt. Diese Stadien sind für ihn: Neolithische Gesellschaften, frühe Hochkulturen, entwickelte Hochkulturen, Moderne. Sie sind gekennzeichnet durch immer höhere, entwicklungslogisch angeordnete Lernniveaus, entsprechend Jean Piagets Stufenmodell, das Habermas in seinem Buch Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus von 1976 ausführlich behandelte. Die Lernniveaus reichten also von mythischen Weltbildern bis hin zu rationalen.
Die zentrale Aussage in Habermas’ Theorie ist, dass es die beiden genannten Rationalitätsebenen gibt. Wie sieht deren Verbindung aus, und wie kann es trotz Kolonialisierung der Lebenswelt durch die Systeme Entwicklungen in Richtung auf eine gerechtere Gesellschaft geben? Habermas gab darauf die folgende Antwort: Kristallisationspunkt für diese Entwicklung ist das Konfliktpotential, das an den Nahtstellen von System und Lebenswelt entsteht. „Die alternative Praxis richtet sich dann gegen die gewinnabhängige Instrumentalisierung der Berufsarbeit, gegen die marktabhängige Mobilisierung der Arbeitskraft, gegen die Verlängerung von Konkurrenz- und Leistungsdruck bis in die Grundschule. Sie zielt auch gegen die Monetarisierung von Diensten, Beziehungen und Zeiten, gegen die konsumistische Umdefinition von privaten Lebensbereichen und persönlichen Lebensstilen.“ Ob sich allerdings die Lebenswelt gegen die Systeme wird behaupten können „ist eine Frage, die theoretisch nicht zureichend beantwortet werden kann und daher in eine praktisch-politische Frage gewendet werden muß“. Damit schließt sich der Kreis: Habermas konnte auf der Basis seiner wissenschaftlich ausgearbeiteten Gesellschaftstheorie zeigen, wie notwendig politische Aktivität ist. Daraus speiste sich seine Motivation zum Eifer für den Eingriff ins politische Tagesgeschehen, der bis heute nicht nachließ. Nun muss man fragen, wer von den Jüngeren diesen Part übernehmen könnte. Die ernüchternde Antwort lautet, dass weit und breit kein ebenbürtiger Zeitgenosse mit soviel politischem Sachverstand und derart fundierter philosophischer Bildung zu sehen ist.
Detlef Horster ist emeritierter Professor für Sozialphilosophie an der Leibniz Universität in Hannover.