04 Okt

Homos Digitalos – Persönliche Identität

von Stefan Pfeifer (Wien)


Einführung

Wir stehen am Abgrund! Das Smartphone lässt uns verblöden, die Digitalisierung entfremdet den Menschen, macht ihn arbeitslos und überflüssig. Der Mensch beutet sich in einer Art von Burn-Out-Euphorie selbst aus und der Klassiker der Kulturpessimisten , dass der grassierende Nihilismus der Jugend uns alle zugrunde richtet, ist auch wieder, oder besser gesagt noch immer, en vogue. In der Geschichte der Menschheit sind diese oder ähnliche Aussagen keine Seltenheit, vor allem nicht während kultureller oder technischer Umbruchsphasen. Auf der anderen Seite der Medaille finden wir die „everything is awesome“ (vgl. Lego Movie) Gesellschaft, die nicht weniger fanatisch aber wenigstens optimistisch in die Zukunft schaut. Was macht der digitale Umbruch mit unserer Identität, unserer Gruppenidentität und unserem traditionellen Verständnis von Macht? Diese Fragen werden in den nächsten drei Kapiteln behandelt.

Persönliche Identität – Homos Digitalos

Was ist der Mensch? Diese Frage ist nicht nur eine der ältesten Fragen der Welt, sie ist auch eine der gefährlichsten. Ihre „wahrhaftige“ Beantwortung führt nicht selten zum Krieg zwischen den verschiedensten Lagern. Dabei wussten schon die Griechen, dass man diese Frage lieber anders stellt. So steht auf dem Orakel von Delphi auch „Erkenne dich selbst“. Auf den zweiten Blick ist das ein gewaltiger Unterschied und es zeigt auch: das Identitätsfindungsproblem ist keine Herausforderung der heutigen Zeit, es begleitet uns über alle Jahrhunderte hindurch. Doch die Beantwortung der Frage nicht im Kontext der Zeit und Kultur zu beantworten – d.h. für uns: ohne Digitalisierung – greift zu kurz. Denn der Mensch lebt längst in einem selbst geschaffenen Technotop, in einer Symbiose aus Fleisch, Blut und Technik. Es wird also höchste Zeit Technologie in unserer Identität zu berücksichtigen, vor allem, weil wir in einer technisierten Kultur lernen, arbeiten und leben.

Der Imperativ der Selbsterkenntnis ist im digitalen Zeitalter öfter gefordert als wir zuerst glauben. Wir schaffen ständig neue Abbilder von uns selbst, unsere Social Media Profile erwarten es ganz konkret von uns: Hier ein Bild, da eine Kurz-Biographie, ein Lebensmotto, was ich „Like“. Milliardenkonzerne tun nichts anderes als mit ausgeklügelten Algorithmen unsere Identität zu bestimmen. Dabei liegt genau hier der erste Fallstrick der Digitalisierung: Denn wie ich mich auf meinen Profilen gebe, also wie ich mein Selbst darstelle, hat noch nichts mit dem zu tun, wer ich eigentlich bin, wer ich sein möchte.

Die Diskrepanz zwischen Selbstdarstellung und Selbstbestimmung ist eine der versteckten Herausforderungen unserer Zeit. Versteckt deshalb, da es die Spannung zwischen: „Was wollen die anderen von mir?“ Und „Was will ich?“ auch schon seit Anbeginn der Zeit gibt. Doch was früher mit klaren religiösen oder ideologischen Dogmas formuliert wurde und dem Individuum nahezu keine Wahl ließ, ist heute freier denn je, aber eben nur in einem gewissen Rahmen. Diesen Rahmen bestimmen wir heute zum überwiegenden Teil selbst. Doch die Chance der Zeit, zum Selbstbestimmer und nicht Selbstdarsteller zu werden, schreckt, trotz Start-Up-Hypes, viele ab. Das hat drei Gründe:

Zum einen verwechselt man heute allzu oft Selbstbestimmung mit Selbstoptimierung. Auch wenn sich die zwei Begriffe nicht ausschließen, eine Selbstoptimierung aus der Motivation heraus anderen zu gefallen, wird spätestens in der Midlife- bzw. in der immer häufigeren Quarterlife-Crisis ein Thema. Konzentrieren wir uns rein auf die Selbstoptimierung, ohne zu fragen wohin wir uns eigentlich «optimieren» wollen, drehen wir uns womöglich im Kreis.

Zweitens, die Angst Verantwortung zu übernehmen, für sich, seine Handlungen und sein Denken, schreckt noch viele ab. Doch die strukturelle Gewalt („Es machen alle so“ vgl. Kapitel Macht) oder die Hierarchien („Man hat mir nicht gesagt, dass ich XYZ tun soll“), hinter denen man sich die letzten Jahrhunderte verstecken konnte, verschwinden langsam in der neuen digitalen Arbeitswelt. Der Ruf nach einer neuen Fehlerkultur, aber auch der Ruf nach einem verantwortlichen Miteinander, wird immer lauter (vgl. Kapitel das Gute). Vor allem kleine Unternehmen, Start-ups, aber auch Bewegungen mit politischen Zielen sind angewiesen auf Mitwirkende, denen man nicht ständig sagen muss, was diese zu tun bzw. zu unterlassen haben.

Drittens, wir lassen uns ablenken bzw. noch schlimmer: wir lenken uns selbst ab. Die nicht nur digitale Unterhaltungskultur macht es uns immer schwerer uns Zeit für Selbstreflexion zu nehmen. Dabei spielt die Digitalisierung hier nicht nur den Störenfried, sie kann auch dazu beitragen unsere Selbstreflexion erst zu ermöglichen. Denn so paradox es heutzutage klingt, durch die Technologisierung in den letzten zwei Jahrhunderten hat der Mensch Unmengen an Zeit gewonnen. Auch wenn die einen oder anderen „Früher-war-alles-Besser“-Romantiker das Gegenteil behaupten, ist es Fakt, dass unsere Arbeitszeit sinkt, unsere Kommunikation reibungsloser und schneller funktioniert (Briefe schreiben vs. WhatsApp), wir länger, aber vor allem besser, leben (Qualitiyears) und wir immer mehr schneller und unkomplizierter selbst erledigen können (Appflut, etc.). Woher also kommt all der Stress?

Genau aus der Kombination der drei oben genannten Gründe. Was uns zur neuen alten Herausforderung unserer Zeit bringt: Erkenne dich selbst 2.0. Denn es war noch nie so einfach wie heute sein eigenes Ding zu machen, noch nie war der Mensch so unabhängig von unterdrückenden Strukturen (vgl. Macht – Strukturelle Gewalt) oder von Einschränkungen. Noch nie konnte sich das Individuum so frei entfalten wie heute, nicht nur in geistiger, sondern auch in politischer (Bürgerbewegungen), sexueller (#gaymarriage) und emanzipativer (#Metoo) Natur.

Die Chance der Selbstbestimmung muss jedoch aktiv ergriffen werden, es braucht eine neue, eine digitale Mündigkeit im Sinne der Aufklärung um sich nicht (ständig) in Timeline und Katzenvideos zu verlieren. Menschen müssen lernen, im kantischen Sinne, mit sich selbst zu reden und sich selbst zuzuhören, denn genau das ist für Kant Denken. Der Trend, sich dafür von der schnelllebigen Welt abzukoppeln, was früher den Gang ins Kloster bedeutet hat und heute unter Digital Detox läuft, ist auch keine Lösung. Es kommt, frei nach Aristoteles, auf das rechte Maß an. Die Extreme der Digitalen-Euphorie und des radikalen Technologieskeptizismus führen beide in die Sackgasse.

Das menschliche Streben nach Glück, eine der wenigen Aussagen über den Menschen, die auf die meisten zutrifft (aber eben nicht alle), dafür gibt es keine Formel. Es konstituiert sich in einem selbstreflexiven Leben und seiner Umwelt. Dass der Mensch diese Selbstreflexion startet, liegt in seiner Verantwortung, doch kann es, vor allem in unserer heutigen Gesellschaft, auch die Verantwortung vieler sein, solche Gedanken anzustoßen. Ein Philosophie- bzw. Ethikunterricht und/oder ein Fach zur digitalen Mündigkeit sind interessante Ansätze ein notwendiges Selbst-Bewusstsein in einer neuen Zeit zu fördern und zu erhalten


Stefan Pfeifer schreibt um nicht den Verstand zu verlieren oder schreibt weil er den Verstand verloren hat … schwer einzuschätzen. Ist Berater-Veteran und verarbeitet seine posttraumatische Businessstörung in satirischen Novellen. War langweiliger EU Experte für Sicherheitspolitik, Militärethiker und ist seit einem Jahrzehnt unerfolgreicher Student der Philosophie laut Bologna-Prozess.


Stefan und wir haben uns darauf verständigt, dass wir einige seiner Beiträge bei uns auf prae|faktisch ko-veröffentlichen.