17 Okt

Kleidermode als ästhetisch-empathische Alteritätserfahrung: Eine phänomenologische Bestimmung des Modedesigns anhand von Thierry Muglers La Chimère und anderen Haute Couture Kostümen (Teil 2)

Von Hannes Wendler (Köln) & Janne Krippl (Heidelberg)

[Dies ist der zweite von zwei Teilen des Gesamttexts. Der erste Teil findet sich hier.]

Die Phänomenologie der Chimäre: Vom Wesen eines Mischwesens

Wir stoßen nun zur im engeren Sinne phänomenologischen Untersuchung von Thierry Muglers Haute Couture Kostüm La Chimère (Die Chimäre) vor, die in der wiederkehrenden Coutureissme-Ausstellung das center-piece des 5 Aktes Métamorphoses: le bestiaire fantastique darstellt. Nachdem die hierfür unabdingbare deskriptivpsychologische und hermeneutische Vorarbeit geleistet ist, die die Erlebnisseite der Betrachtung der Chimäre auf dem Laufsteg beschreibt und ihren symbolischen Gehalt auswertet, setzen wir nun erneut bei dem Faszinosum an, dass dem Kunstwerk Kostüm gleich wie seiner Darstellungsform auf dem Laufsteg ein irreduzibel intersubjektives Moment eingeschrieben ist: In der Darstellung von Kleidermode setzt der Designer das Modell vor dem Blick der anderen in Szene, indem sein Leib kostümiert wird.

Das Unterfangen einer Phänomenologie der Chimäre steht vor einigen grundsätzlichen Schwierigkeiten. Kommentatorinnen und Kommentatoren dieser Denkart haben wiederholt hervorgehoben, dass die vielfältigen und teils radikal unterschiedlichen Ansätze, die unter dem Reiter ‚Phänomenologie‘ versammelt sind, in ihrer Berufung auf die Erfahrung und ihrer Korrelate sowie im Wesensbegriff ihren gemeinsamen Nenner haben. Nun kann Chimäre allerdings gleich viel wie ‚Trugbild‘ bedeuten und so wird es von vornherein fragwürdig, ob wir in ihrer phänomenologischen Analyse werden hinter den Schein dringen können oder ob wir auf eine platonische Schattenwissenschaft zusteuern. Diese Schwierigkeit vertieft sich schließlich in dem Problem, das unklar bleibt ob die Frage nach dem Wesen eines Mischwesens, der Chimäre überhaupt Sinn hat. Seit alters her heißt dasjenige, das wir nicht auf den Begriff bringen können, das aber dennoch da ist und sein Unwesen treibt, monstrum. Wenn die Wesenheiten einfache und überdauernde Entitäten sind, dann ist die Chimäre wahrhaft monströs, denn sie ist zusammengesetzt und wandelbar. Die monströse Chimäre spottet unseren Versuchen, sie auf eine eindeutige Form festzulegen, gaukelt uns mit jedem ihrer Teile etwas Wesenhaftes vor, nur um uns auf falsche Fährten zu bringen, die allesamt zu ihrem Unwesen führen.

Dennoch muss die Phänomenologie der Chimäre deshalb nicht scheitern. Denn gerade in ihrer Widerspenstigkeit gegen begriffliche Fixierung gleicht sie dem Menschen und die Reflexion auf das Mischwesen wird zur Allegorie für die menschliche Selbstreflexion. Der Verlauf der Analyse wird darlegen, inwiefern der Laufsteg als künstlerisch verdichtete, anthropologischen Grundsituation aufzufassen ist, in der der Modedesigner anhand der Kostümierung und Inszenierung des Modells die Möglichkeiten der menschlichen Form variiert und somit ihre Grenzen auslotet. In diesem Sinne ist Muglers Chimäre ein paradigmatisches Kostüm für die Modekunst, denn es macht diese Grunddynamik der künstlerischen Gesamtsituation für die Anschauung verfügbar. Womöglich mehr als jedes andere Kostüm richtet die Chimäre den Blick der Kunstbetrachtung damit auf das Modell, das dabei nicht mehr nur als modisches Modell i.S. einer so oder anders proportionierten Trägerin des Kostüms sondern vor allem als anthropologisches Modell für den Menschen in den Fokus gerät und dadurch Modedesigner, Kunstbetrachter und sich selbst gleichermaßen in Frage stellt. Mit Federkleid maskiert und durch Schuppenpanzer kostümiert tritt uns dieser Mensch endlich als er selbst gegenüber und zeigt sich in seiner monströsen Natur, die sich jedem letzten Zugriff durch unseren Verstand verwehrt, offen bleibt und uns auf eine unheimliche Weise anrührt und vertraut ist.

Da das Unterfangen einer Phänomenologie der Modekunst einen Vorstoß in noch unkartiertes Gebiet bedeutet, gilt es seinen experimentellen Charakter hervorzustreichen. Die spärlichen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit Muglers Kleidermode betrachten diese tendenziell unter klassifikatorischen (Joo & Lee, 2001) oder gesellschaftskritischen Gesichtspunkten (Skelly, 2019) für die Modetheorie. Aus der Perspektive der Phänomenologie bleibt solch ein Zugang an äußerlichen, formalen Charakteristika der Kunstbetrachtung verhaftet und ist folglich durch eine inwendige Analyse der Erfahrung der Kunstbetrachtung zu ergänzen und zu fundieren. Der Königsweg für solch eine Reise ins Fremde ist der der phänomenologischen Deskription. Bevor wir allerdings zu unserem Thema des Chimärenkostüms vordringen können, ist eine Vorstudie vonnöten, die die Begriffsklärung und die phänomenologische Bestimmung von Haute Couture betrifft.

Haute couture und prêt-a-porter-Mode

Gemeinhin wird Haute Couture gegenüber der mindestens seit den 1950ern etablierten prêt-á-porter-Mode abgegrenzt. Während diese – auf deutsch – Konfektionsbekleidung industriell organisiert ist, seriell mit festgelegten Stückzahlen und Größenreihen produziert wird und fertig, d.h. ohne Anproben und Korrekturen durch den Schneider, auf den Markt kommt, meint die ‚gehobene Schneiderei‘ – Haute Couture – individuell maßgeschneiderte und oftmals aus luxuriösen Materialen hergestellte Kleidungsstücke in limitierter Auflage. Die Bezeichnung Haute Couture ist heute in Frankreich geschützt – anders als die italienische ‚Alta Moda‘ – und wird von der Fédération de la Haute Couture et de la Mode für Damenmode vorbehalten. Historisch geht der Begriff auf den englischen Modeschöpfer Charles Frederick Worth zurück, der 1857 das erste große Modehaus in Paris gründete und unter anderem Kaiserin Eugénie, Königin Victoria, die Fürstin Pauline von Metternich und die Kaiserin Elisabeth „Sissi“ von Österreich einkleidete. Vor diesem Hintergrund ist es auch zu verstehen, wenn der Soziologe Pierre Bourdieu sagt: „[W]hen I speak of haute couture I shall never cease to be speaking also of haute culture“ (2020, 46).

Es wäre jedoch falsch, zu meinen, dass alles, was hier zur Sprache kommt, wäre, dass die Trägerin von Haute Couture Mitglied einer privilegierten gesellschaftlichen Klasse wäre. Stattdessen kommt es zu einer Überhöhung und Veredelung der Trägerin von Haute Couture, etwas, das Bourdieu als Weihe, „consecration“ anspricht und das durch die wechselseitige Anerkennung und Bewunderung von den Herstellern, den Trägerinnen, der Presse, ja, schlicht aller an der Kleidermode Beteiligten erzeugt wird: „What makes the value, the magic of the label is the collusion of all the agents of the system of production of sacred goods.” (2020, 51).[1] Dass der Ausdrucksgehalt der gehobenen Kleidermode, die buchstäblich den Menschen aus dem ‚bloß weltlichen Zusammenhängen‘ herauszuheben sucht und eine Fühlungnahme mit dem Heiligen und dem Schönen erwirkt, durchaus nicht an Stand und Klasse gebunden, sondern zeitlos ist und seine existenziale Wurzel in der Fähigkeit zum Entwurf hat, bestätigt der Blick auf die zeitgenössische Haute Couture.

Wenn der englische Künstler Simon Peers und der amerikanische Modedesigner Nicholas Godley mit einem 80-köpfigen Team täglich über ca. vier Jahre die Seide von 1.2 Millionen Madagaskar-Seidenspinnen (Nephila inaurata madagascariensis) sammeln, um ein weiteres Jahr später einen Umhang aus dem seltensten Material der Welt im American Museum of Natural History vorzustellen, dann drückt dies eben jenen Versuch aus, in dieser Welt durch Kleidermode etwas zu verwirklichen, das eigentlich jenseits dieser Welt liegen müsste. Die Künstler beleben so eine Tradition der Weberei mit Spinnenseide wieder, deren letzter dokumentierter Fall eine Garnitur goldener Bettvorhänge war, die durch den französischen Missionar Jacob Paul Camboué 1898 auf der ‚Paris Exposition Universelle‘ präsentiert worden sind. Das Überschießende und Transgressive in der Betrachtung von Kleidermode wird für Peers in dem Augenblick evident, da er seine Kreation zum ersten Mal durch ein Modell aufgetragen zu Gesicht bekam. Nicht nur beseelt das Modell anders als eine Puppe das Werk von innen her, sondern ihr Auftragen des Umhanges bezweckt eine globale Änderung in der Erfahrungsstruktur, erzeugt eine Atmosphäre der Gravität „[it] transformed the entire room“ (Peers zitiert nach Hottary, 2012). Zur Vision hinter dem Entwurf äußert Peers sich im Interview mit dem ‘Victoria Albert Museum’ im Gleichen Sinn: „[A]t a time when it sometimes feels like it’s all been done, we wanted to produce something magical, something to marvel at“ (Peers zitiert nach Hottary, 2012). Auch sein Kollege hebt auf den transmundanen, den magischen Aspekt der Kreation ab, die er durch den Begriff der ‚Fabel‘ Ausdruck verleiht “There is really a fairy-tale aspect to this“ (Godley zitiert nach Hottary, 2012). Und er fährt in unserer These, dass Haute Couture eine Kunstform ist, fort: “This isn’t about fashion. This is about creating something extraordinary, magical. It’s about something, which is unique. We are not using that word glibly. There is no collection in the world that has something like this. There is nothing” (Godley zitiert nach Hottary, 2012).

Der künstlerische Schöpfungsakt des Entwurfs im Modedesign

Es gehört zum Wesen des Entwerfens die natürliche Ordnung der Dinge durch eine künstlerische Gegenordnung zu kontrastieren, die zu einem gewissen Grad immer auch eine künstlich bleibt. Eben dies meint Paul Klee, wenn er 1924 vor dem Kunstverein in Jena spricht und sagt, dass „[e]r [der Künstler] sich dann auch den Gedanken [erlaubt], daß die Schöpfung heute kaum schon abgeschlossen sein könne.“ (Klee, 1971, 82).

So erschöpft sich Haute Couture nicht im luxurierenden Auftragen seltener und teurer Stoffe und auch noch die technisch anspruchsvollste Veredelung der Materialien macht ein Kostüm nicht zur Kunst. An ihrer Wurzel liegt nicht der Exzess, sondern die Vision. In diesem Sinne ist Florian Arnold beizupflichten, wenn dieser sagt, dass die von Robert Musils eindimensionalen Mensch herkommende Unterscheidung zwischen Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn für die Logik des Entwerfens im Design nicht hinlangt, und deshalb um einen Virtualitätssinn ergänzt werden muss:

[W]oran es jedoch mangelt, ist Virtualitätssinn, gleichsam dem Vermögenssinn des Entwurfs für die Kontingenz, Potenz und Existenz nicht allein unserer selbst, sondern auch der Dinge und Zeichen, die uns nicht weniger gestalten, als wir sie. Was es für die Gestaltung heute insbesondere braucht, ist die Geistesgegenwart einer ‚neuen Einbildungskraft‘ im Verein mit einer neuen Urteilskraft

Arnold, 2018, 353.

Im Kostümentwurf werden die menschenmöglichen Formgrenzen überschritten, jedoch ohne dass der Modedesigner sich je ganz von ihnen lösen könnte – die künstlerischen Möglichkeiten im Kostümentwurf sind in dieser Hinsicht enger als die z.B. der Malerei. Trotzdem bleibt eine neu entworfene Menschengestalt nicht einfach eine weitere, mögliche Form des Menschen, sondern wird gleichsam zu einem Spiegel, der ihn sich selbst in erneuerter und gesteigerter Gestalt zeigt. Ganz im Sinne Arnolds (2020) Bestimmung der Designphilosophie als „morpho-logisches Gestalt-Denken“ artikuliert das Modedesign auf diese Weise eine bestimmte Vorahnung, die der Mensch von sich selbst hat, nämlich dass auch er in seinem Wesen nicht ganz zum Rest der Welt passt; eben diese Ahnung der eigenen Absonderlichkeit wird im Modedesign virtuell bewältigt, künstlerisch verdichtet und schließlich im Kostüm verwirklicht. So verwandelt Haute Couture sich schlussendlich von der Formkunst zur Ausdruckskunst.

In dieser expressiven und nicht zuletzt auch therapeutischen Funktion des Entwurfs im Modedesign kommen Peers und Godley, wenn sie etwas spielerisch den Superhelden Spiderman neben dem Mythos von der Spinne als der Schöpferin der Welt als Inspirationsquelle für ihren Umhang benennen, und Thierry Mugler überein, denn auch dieser will sein Design als Versuch verstanden wissen, den Menschen zu erhöhen: „In my work I’ve always tried to make people look stronger than they really are” (Mugler zitiert nach Skelly, 2019, 10).

Der Modedesigner als Wertpersontypus des Künstlers

Was bedeutet das für die Auffassung des Modedesigners? Zunächst bestätigt sich hierdurch die klassische Auffassung, dass der Designer oder – zu deutsch – der Gestalter – „natürliche Potentiale auf künstlichen Wegen [entfaltet], sodass [er] sich dabei als Gestaltwandler begreifen [kann]“ (Arnold, 2020, 435). Ganz in diesem Sinne äußert sich Mugler in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Alles, was ich entwerfe, existiert auch! Ich sammle es nur – meine Arbeit ist eine Hommage an die Natur. Das ist meine Motivation: eine Hommage ans Leben, an die Welt“ (Mügler zitiert nach Dürrholz, 2020). Hierdurch verwandelt sich aber gleichsam unsere Frage zu der danach, was Arnolds „entfesselte Metamorphose alles vermag, geschweige denn welchem übergeordneten Ziel sie folgt“ (2020, 435).

Um dieser Frage beizukommen, ist es erforderlich, eine grundsätzlichere Bestimmung des Modedesigners vorzunehmen. Unter den zahlreichen, hierfür möglichen Betrachtungsrichtungen wählen wir die des phänomenologischenPersonalismus. Unter diesem Gesichtspunkt gehört der Modedesigner zum ‚Wertpersontypus‘ des Künstlers, wobei in Mugler als ‚Personwerttyp‘ faktisch das künstlerische mit etwas heldischem vermischt ist, um zwei Begriffe von Manfred Frings Schelerstudie Person und Dasein zu entlehnen. Seiner Ansicht nach schafft der Künstler in wertethischer Hinsicht eine neue Ordnung, anstelle sie bloß aufzustellen – die künstlerische Tat ist wertschöpfend. Das bedeutet zunächst, dass „[d]er allen echten Kunstwerken innewohnende ideale Wert der ‚Schönheit‘ […] dasjenige [ist], was den pragmatischen Charakter der Dingwirklichkeit durchbricht und damit eben die Weisen des Zeugganzen der Dienlichkeit und Beiträglichkeit“ (Frings, 1969, 109).

Für Frings steckt in allen Formen der Kunstschöpfung ein Quäntchen ‚Vital- oder Lebensrelativität‘, im Bildhauen mehr, im Komponieren weniger. In dieser Vergleichsreihe fällt auf, dass das Modedesign im höchsten Maße mit der Vitalsphäre verwoben ist. Insofern das Kunstwerk, sprich das Kostüm durch das Modell aufgetragen und auf dem Laufsteg präsentiert wird, grenzt das Modedesign als buchstäblich ‚verleiblichte‘ Kunst an den Endpol vitalrelativer Kunstformen, d.h., der reinen ‚performace‘-Kunst wie dem Ausdruckstanz. Dennoch übersteigt das morphologische Gestalt-Denken im Modedesign die Vitalsphäre, da seine eigentliche Wertverwirklichung durch die selbst- und lebensvergessene Hingabe des Künstlers an den idealen Werkgehalt erwirkt wird. Wie alle Formen der Kunstschöpfungsarten kann das Modeschöpfen axiologisch auf die Formel einer der Vergeistigung des Lebens und der ihr koordinierten Verlebendigung des Geistes gebracht werden.

Spezifisch am Modedesign ist, die Gestalten sichtbar zu machen, die das Menschenwesen annehmen kann. So phantastisch ein Sujet auch anmuten mag und selbst wenn es die gemeine Einbildungskraft zu sprengen droht, es bleibt die Aufgabe des Modedesigners dieses in einen Entwurf zu übersetzen und im Kostüm für die gemeine Anschauungskraft verfügbar zu machen, die hier die Einbildungskraft übersteigt und den Betrachtern vor Augen führt, dass der Mensch stets mehr sein kann als das, für was er sich hält: Ebenbild nicht nur des einen Gottes, sondern der mannigfachen Wesenheiten des Reiches, das sich dem Künstler vermöge seines Virtualitätssinns auftut – ein wahrer Prothesenproteus.

So gesehen ist Modedesign gerade nicht oberflächlich, wie man manchmal glaubt. Im Gegenteil: Es hilft nämlich dabei, den Menschen von seiner allzu engen Bindung an seine natürliche Gestalt zu befreien, indem er sich als Fabelwesen, als Gott oder eben als Chimäre sehen lernt und bewirkt derart – was wir frei nach Guido Cusinato (1999) – eine mit einem ‚moralischen Aufschwung‘ verbundene ‚Katharsis‘ nennen wollen: weg von der vital-psychischen hin zur geistigen Wertsphäre. So erlangt das künstlerische Gestalten eine weitere Bedeutung, nämlich die der Bildung. In diesem Sinne erfüllt der Modedesigner ähnlich wie der Bildhauer, der Musiker oder der Dichter – um es mit Max Scheler zu sagen – eine

weit höhere Funktion als die, ihre Erlebnisse schön und groß auszudrücken und sie so den Aufnehmenden gemäß den diesen schon gegebenen Erlebnissen wiedererkennbar zu machen. Indem sie vielmehr die herrschenden Schemanetze, in welche die gegebene Sprache unser Erleben gleichsam einfängt, durch die Schöpfung neuer Formen des Ausdrucks überflügeln, machen sie die übrigen auch an deren eigenem Erleben erst sehen, was in diese neuen reiferen Formen des Ausdrucks gehören mag, und sie erweitern eben hierdurch die mögliche Selbstwahrnehmung der übrigen. […]. Ein Gefühl, das z. B. heute jeder in sich wahrnimmt, mußte für die distinkte Wahrnehmung einst durch eine Art von «Dichter» [- wir dürfen für unseren Zusammenhang ergänzen: durch eine Art von ‚Schneider‘ oder ‚Modedesigner‘; Anm. d. Autoren] erst der fürchterlichen Stummheit unseres inneren Lebens abgezwungen werden.

Scheler, 1973, 246-247

Das Laboratorium der menschlichen Gestalt: Kostüm und Bühne

Nehmen wir den wiederkehrenden Topos vom Wechsel zwischen aktivem Gestalten und passivem Gestaltet-Werden zum Anlass dafür, uns der Aktanalyse der Rezeption von Kleidermode zuzuwenden. Wir haben bereits gesehen, dass Kleidermode eine Kunstform ist, deren Produkt, das Kostüm, durch das Modell wesentlich verkörpert präsentiert wird. Das Kostüm erweitert, verändert oder ‚bespielt‘ dabei die menschliche Gestalt, sodass im Kostüm ein grundsätzlich ‚anthropomorphes‘ Kunstwerk zu sehen ist, dessen voller Gehalt nicht unabhängig vom Modell zur Geltung kommen kann. Somit sind in der ästhetischen Anschauung Kostüm und Modell irreduzibel leiblich kopräsent, worin die Kleidermode sich der Idee nach gegenüber anderen Kunstformen auszeichnet.

Zwei Beispiele: Mit der Bildhauerei hat die Kleidermode gemeinsam, dass sie anders als z.B. in der Malerei, ihren Entwurf aus einer ‚Totalperspektive‘ anfertigen muss, d.h. aus allen möglichen Winkeln. Anders als in der Bildhauerei, die sich mit einer dreidimensional räumlichen Darstellung begnügen kann, erfordert die Laufstegpräsentation die zusätzliche Berücksichtigung der Zeitdimension und der Ortsveränderung durch Bewegung, die der Modedesigner mitentwerfen kann – was etwa in den Kollektionen von Iris van Herpen sehr deutlich wird oderbereits aus der Alltagsbeobachtung von sogenannten ‚Wasserfallröcken‘ bekannt sein dürfte. Im Falle von Muglers Chimäre wird diesem Aspekt im eng geschnittenen Langrock Rechnung getragen, der das Modell zu kurzen Schritten zwingt und im Zusammenhang mit dem durch Federkrone und Rosshaarfesseln visuell verlängerten Ästhetik eine befremdlich-gefährdende Gangart inszeniert.  Wesentlich ist darüber hinaus, dass in der Bildhauerei Modell und Kostüm zwar dargestellt werden können, diese dann aber nicht leiblich selbstgegenwärtig, sondern abgebildet sind.

Im Theater wiederum, wo in der Tat Kostüme eingesetzt werden, erfolgt die Abgrenzung zur Haute Couture zum einen funktional, da die Kostümierung im Theater als Mittel eingesetzt wird, z.B. zur Steigerung der Immersion oder zur visuellen Identifizierbarkeit der Rollen, wohingegen das Kostüm in der Haute Couture selbst im Mittelpunkt des künstlerischen Interesses steht, gewissermaßen als Selbstzweck. Zum anderen kann die Unterscheidung im Sinnzusammenhang gesehen werden, denn das Kostüm tritt im Theater in den Hintergrund, wird zum Medium, durch welches der künstlerische Gehalt des Stückes wahrgenommen werden kann, der z.B. im Erzählen einer Geschichte bestehen kann, wo die Kostümierung in der Kleidermode hingegen thematisch ist, im Fokus der Aufmerksamkeit steht und seine Bedeutungserfüllung im durch die Kostümierung bezweckten Gestaltwandel selbst findet. Schließlich ist die Bühne im Theater ein Ort, an dem das Leben probehalber verhandelt werden kann, der Laufsteg in der Kleidermode ist hingegen das Laboratorium der menschlichen Gestalt.

Ästhetisch-Empathische Unschärfe in der Kleidermode

Der letzte Analyseschritt betrifft die Intentionalanalyse der Betrachtung von Kleidermode. Dieser eignet nämlich eine eigentümliche Struktur, die wir als ästhetisch-empathische Unschärfe bezeichnen wollen: Da das Modell in der Kleidermode selbst leibhaft gegenwärtig ist, droht die ästhetische Betrachtungsrichtung auf das Kostüm stets in eine empathische Fremderfahrung umzuschlagen; selbst hinter einem Schleier lauert noch der Blick des Modells, selbst ein maskiertes Gesicht kann noch zurückblicken.

Ist das ein Problem? Nur, wenn wir zeitgenössisch Denken. Begriffsgeschichtlich gesehen darf diese Unschärfe nämlich nur wenig überraschen, denn die alte, aus der Romantik herkommende Idee der Einfühlung schillerte in ihrem frühen Gebrauch bei Robert Vischer und Theodor Lipps zwischen der Fühlungnahme mit unbelebten gleich wie mit der belebten Natur, d.h. zwischen Ästhetik und Psychologie – und ist in diesem weiten Bedeutungshorizont durch die frühen Phänomenologen und Phänomenologinnen aufgegriffen und weiterentwickelt worden. Es wäre demzufolge irrgeleitet, zu meinen, ästhetische und empathische Akte in der Moderezeption feinsäuberlich separieren zu müssen. „Zurück zu den Sachen selbst“ bedeutet in diesem Fall auch zurück zu einer früheren und ursprünglicheren Anschauungsart, in der beide in den Akten der Einfühlung oder dem, was Bergson die ästhetische Intuition nennt, innig verwoben sind. Letztere geht auf die Intention, die sich in natürlichen Lebensbewegungen äußert:

Es ist diese Intention, die der Künstler von neuem zu erfassen sucht, indem er sich durch eine Art Sympathie ins Innere des Gegenstandes zurückversetzt, durch einen Kraftakt der Intuition die Barriere niederzwingend, die der Raum zwischen ihm und dem Modell errichtet

Bergson, 2013, 204

(Siehe das Bild hier.)

Wir kommen zur abschließenden Bemerkung: Der Modedesigner macht sich die aufgezeigte ästhetisch-empathische Unschärfe zunutze, wenn er das Kostüm für das Modell maßschneidert. Phänomenologisch betrachtet bedeutet dies, dass das Kostüm als Kunstprodukt vom Leib des Modells „informiert“ ist, d.h. dass die Kleidermode eine verkörperte Kunstform darstellt. Der eigentliche Gegenstand der Modekunst ist somit nicht lediglich das Kostüm, sondern die „Haut“ des Modells. Bei aller künstlerischen Inszenierung bleibt auch der Laufsteg immer eine Situation existenzieller Sichtbarkeit (Blumenberg 2014), auf dem das Modell auch als Mensch in Erscheinung tritt. Frei nach Helmuth Plessner dürfte man vielleicht sagen, dass das Modedesign eine Kunst der „Futteralsituation“ ist, welche das anthropologische Urphänomen, sich selbst und seine eigene Oberfläche gleichsam von innen zu beleben bis zum Exzess steigert, oder aber einfach damit spielt. Hiermit stoßen wir zuletzt zu der anthropologischen Tiefenschicht der bereits gewonnen Einsicht vor, dass bei aller künstlerischen Freiheit, mit der Mugler die Formen seiner weiblichen Modelle ins unheimlich-mythische de la Chimère übersteigert – das Fremdwort zeigt hier das Fremde dieser Erfahrung an –, dass das Exzessive de la Chimère zwar über die Grenzen der menschlichen Gestallt quillt, doch diese nie ganz verlässt. Das künstlerische Produkt der Kleidermode, das Kostüm bleibt wesensnotwendig anthropomorph – aufgetragen und vorgeführt von einem sowie maßgeschneidert für ein Modell, zwischen allzumenschlicher Vertrautheit und chimärenhafter Fremdheit. Trotzdem gibt es den Moment, da das Modell durch die Hüllen der Mode bricht, da sein Antlitz aufscheint. Dies ist der intersubjektivitätsphänomenologische Schock in der Mode, der dann eintritt, wenn das Modell zurückblickt.


Literatur

Arnold, F. (2018). Logik des Entwerfens: Eine designphilosophische Grundlegung. Fink: Leiden, Boston, Singapore, Paderborn.

Bataille, G. (2020). Die Erotik. Matthes & Seitz: Berlin.

Bergson, H. (2013). Schöpferische Evolution. Meiner: Hamburg.

Bourdieu, P. (2020). Haute couture and haute culture. In M. Barnard (Hrsg.). Fashion Theory (pp. 46-52). Routledge.

Cusinato, G. (1999). Katharsis. La morte dell’ego e il divino come apertura al mondo nella prospettiva di max Scheler. Edizione Scientifiche Italiane: Neapel.

Dürrholz, J. (2020). Thierry Mugler im Interview. „Konventionen habe ich nie verstanden“. Frankfurter Allgemeine. Verfügbar unter: https://www.faz.net/aktuell/stil/mode-design/thierry-mugler-im-interview-konventionen-habe-ich-nie-verstanden-17005247.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2Quelle:%20https://beruhmte-zitate.de/autoren/thierry-mugler/

Frings, M. (1969). Person und Dasein. Zur Frage der Ontologie des Wertseins. Springer: Dordrecht.

Hesiodus. (1861). Werke. (H. Gebhardt, Übers.). Stuttgart: Metzler.

Homerus. (2012). Ilias und Odyssee. (U. Schmidt-Berger & J. Schmidt, Hrsg., J. H. Voß, Übers.). Mannheim: Artemis & Winkler.

Hottary, Y. (2022). The Largest Piece of Golden Spider Silk Cloth In The World. Yatzer. Verfügbar unter: https://www.yatzer.com/Golden-Spider-Silk

Joo, S.-H. & Lee, K.-H. (2001). An analysis on the Formative Aesthetic of Thiery Mugler’ Clothing. J. Kor. Soc. Cloth. Ind., 3(3), 219-226.

Klee, P. (1971), Das bildnerische Denken. In J. Spiller (Hrsg.). Form- und Gestaltungslehre, Bd. 1. Schwabe: Basel u. Stuttgart.

Ovidius Naso, P. (1869). Verwandlungen (4. Aufl., Bd. 1). Stuttgart: Metzler.

Scheler, M. (1973). Wesen und Formen der Sympathie. Gesammelte Werke Bd. 7. Francke: Bern und München.

Skelly, J. (2019). The Phantasmagoric World of Thierry Mugler. Fashion Studies, 2 (1). https://doi.org/10.38055/FS020108

Wilde, O. (2006). The Picture of Dorian Gray. Oxford University Press.


Hannes Wendler ist Mercator-Fellow bei a.r.t.e.s. an der Universität zu Köln und wird mit einer Arbeit zur Grundlegung einer axiologischen Psychopathologie promoviert. Parallel zu seiner Promotion in Philosophie wird er am Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie im Rheinland zum tiefenpsychologischen Psychotherapeuten ausgebildet. Seine Forschungsschwerpunkte betreffen die phänomenologische Psychologie, die Empathie und das Mensch-Tier-Übergangsfeld. Weitere Informationen zur Person: https://linktr.ee/hanneswendler

Janne Krippl ist Organisationspsychologe und -berater. Er hat Psychologie, Philosophie und Politische Ökonomie an den Universitäten Heidelberg und Wien studiert. Seit einigen Jahren arbeitet er in den Bereichen soziale Wirkungsmessung, Change Management und organisationale Transformation, in der Forschung, sowie beraterisch in unterschiedlichen Organisationen der internationalen Zusammenarbeit. In seiner freien Zeit hat er gerne einen Photoapparat zur Hand und beschäftigt sich mit Themen der Kunst und Ästhetik.


[1] Trotz ihres hohen Absatzwertes trägt diese zum Profit ihrer Unternehmen hauptsächlich durch ihre Öffentlichkeitswirksamkeit bei.  Die Modelle werden nicht nach Stand, sondern für ihre Schönheit, dem modischen Geschmack der Zeit und ihrer Eignung für ein bestimmtes Kostüm gewählt. Es ist nicht selten, dass Haute Couture Kostüme in Museen ausgestellt und als Kunstwerke verstanden werden.

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