Leben wir in der Remoderne?

Von Johannes Müller-Salo (Hannover)


Die Moderne gilt gemeinhin als erledigt. Folgt man der Gesellschaftstheorie, leben wir gegenwärtig soziologisch-strukturell in der Spätmoderne und philosophisch-kulturell in der Postmoderne. Doch einige zentrale Entwicklungen deuten ein Comeback der Moderne an: Willkommen!

In diesem Text möchte ich zwei Thesen verteidigen: Erstens, wichtige Entwicklungen, die unsere Gesellschaft gegenwärtig kennzeichnen, weisen eine auffallende Ähnlichkeit mit klassischen Modernisierungsprozessen auf. Es lohnt sich daher, der Frage nachzugehen, ob und inwiefern sich eine neue Moderne abzeichnet. Zweitens, diese Prozesse prägt das spätmodern-postmoderne Erbe der letzten Jahrzehnte unübersehbar. Wenn daher die Moderne zurückkehrt, dann tut sie das in veränderter und vermutlich geläuterter Form als Remoderne.

Ich gehe von folgendem Bild aus: Auf eine Phase der Modernisierung folgte eine bis in die Gegenwart reichende Phase, die in sozialstruktureller Hinsicht als Spätmoderne und in kultureller Hinsicht als Postmoderne beschrieben werden kann. Die Postmoderne unterzieht das philosophische Erbe der klassischen Moderne einer scharfen Grundsatzkritik. In der Spätmoderne verflüchtigen sich einige der Strukturen und Prozesse, die die Moderne prägen – sei es aufgrund von Beschleunigung (Hartmut Rosa) oder aufgrund eines systemisch bedingten Strebens nach Besonderheit, nach individuellen Alleinstellungsmerkmalen (Andreas Reckwitz). An dieses Standardbild anschließend, werde ich meine beiden Thesen nun am Beispiel von sechs Aspekten begründen, die weithin als zentrale Kennzeichnungen von Moderne und Modernisierung akzeptiert werden.

Erstens, die Moderne prägt ein mindestens auf die Aufklärung zurückzuführender Glaube an Fortschritt und Verbesserung, ob als Geschichtsphilosophie wie bei Hegel und Kant, ob als historischer Materialismus in Gestalt des Marxismus, ob als liberaler Glaube an das „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama). Die Postmoderne verliert den Glauben an diese großen Erzählungen, wie es Lyotard eindrücklich in seinem Bericht Das postmoderne Wissen beschrieben hat.

Unsere Gegenwart aber erlebt eine Rückkehr der Fortschrittsnarrative und Zukunftsvisionen. Die Remoderne entwirft das Bild einer klimaneutralen Gesellschaft und einer Sozialordnung, in der die Kriterien des Geschlechts und der Herkunft ihre strukturbildende Kraft weitgehend verloren haben.  Bemerkenswert ist dabei vor allem, wie sehr in sich diverse Ziele zu größeren Erzählungen verknüpft werden, so dass diese eine gewisse Geschlossenheit erreichen und hierin den früheren Meisternarrativen der Moderne gleichen. So wird die klimaneutrale Stadt zugleich als Stadt porträtiert, in der es gelingt, soziale Missstände zu beseitigen und ein Miteinander auf Augenhöhe zu verwirklichen. In den Narrativen zeigt sich deutlich ein postmoderner Bruch: Der prekäre Status der Erzählungen ist bekannt, die goldene Zukunft ist keineswegs sicher erreichbar. Nicht umsonst findet der Begriff des Possibilismus in der Klimabewegung Anklang: Eine Possibilistin hält das Erreichen des großen Zieles lediglich für möglich und weiß daher selbst am besten, dass sehr viel Arbeit auf sie wartet.

Zweitens, zwei normative Ideale prägen die politische und philosophische Moderne: die Idee der Menschenrechte und die Idee der Demokratie. Die postmoderne Philosophie unterzieht beide Ideale einer scharfen Machtkritik. Die spätmoderne Theorie hält den Versuch, moderne Gesellschaften durch demokratische Politik und demokratisch gesetztes Recht steuern zu wollen, in Zeiten der Globalisierung für illusorisch.

Demgegenüber sind progressive Bewegungen der Gegenwart bemerkenswert klar auf die klassischen Institutionen und Ideale der liberalen Demokratie hin fokussiert: Es ist die (insbesondere direkt-)demokratische Partizipation, die vielfach als Schlüssel zum Durchsetzen eigenen Forderungen angesehen wird. Aktivistinnen kandidieren für Parlamente und wählen urmoderne Wege wie Demonstrationen und Petitionen, um Einfluss auf das demokratische Verfahren zu gewinnen. Auch das normative Leitbild der Grundrechte erfreut sich neuer Beliebtheit: Die Rechte der Kinder, der zukünftigen Generationen und der Tiere stehen im Mittelpunkt politischer Kampagnen. Gerichte werden zum wichtigen Austragungsort politischer Debatten. Das Vertrauen, durch nationale wie internationale Rechtssetzung gesellschaftliche Wandlungen befeuern und steuern zu können, wächst. Diese klare Orientierung an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ist sicher nicht zuletzt das Ergebnis einer postmodernen Enttäuschung: Bei aller Fundamentalkritik am liberalen Staat ist die postmoderne Philosophie überzeugende institutionelle Gegenentwürfe schuldig geblieben.

Drittens, im Zuge der Modernisierung hat sich der Mensch die Herrschaft über die Natur erobert. Die spätmoderne Gesellschaft reagierte auf die Folgeprobleme teilweise romantisierend, schwärmte für ein neues harmonisches Miteinander von Mensch und Natur. Die Klimabewegungen der Gegenwart sind einen Schritt weiter: Sie akzeptieren die Herrschaft des Menschen, wenn sie betonen, dass ein globales „wir“ es in der Hand hat, die Klimakrise zu beenden. Sie verlangen, dass die Menschheit sich bewusst macht, dass zur Herrschaft Verantwortung gehört. Es ist nicht auszuschließen, dass die Klimakrise sogar die alte Leidenschaft der Moderne für Technik neu entfacht, dieses Mal nicht in Gestalt der Eisenbahn, sondern in Gestalt von Wasserkraft, Erdwärme und Geoengineering.

Viertens, Modernisierungsprozesse sind Prozesse der Rationalisierung. In theoretischer Hinsicht bedeutet Rationalisierung, den Problemen der Welt und des Menschen methodisch zu Leibe zu rücken, den Wissenschaften zu vertrauen, die versprechen, wahre Erkenntnis zu produzieren. In praktischer Hinsicht zielt Rationalisierung auf Effizienz ab: Ressourcen sollen ökonomisch sinnvoll verwendet werden, Entscheidungen in Verwaltung und Justiz sollen auf Grundlage sachlich angemessener Kriterien fallen.

So deutlich wie kaum anderswo zeigen sich in der neuen Begeisterung für Rationalisierung Anzeichen von Remodernisierung. In immer mehr Feldern wird die Politik aufgerufen, sich an der Wissenschaft und damit an gesicherter Erkenntnis zu orientieren. Damit wird zugleich der grundmoderne Gedanke einer objektiven, wissenschaftlich erschließbaren Wahrheit rehabilitiert. Die Postmoderne ist mit kaum einem Gedanken so hart ins Gericht gegangen wie mit dieser Wahrheitskonzeption, wenn sie Wahrheit immer wieder als Ausdruck von Diskursmacht interpretiert hat. In Zeiten von Fake News, Klimaleugnern, Querdenkern und Verschwörungstheorien hat die Remoderne den Wert der Wahrheit wieder schätzen gelernt.

In praktischer Hinsicht stimmt die Gegenwart ein neues Lob der Rationalisierung und damit der Effizienz an. Galt Effizienz über Jahrzehnte als beschönigende Umschreibung für Jobabbau und sozialen Kahlschlag, findet sie nun wieder breite Unterstützung, vor allem im Gewand der Digitalisierung. Die digitale Optimierung aller Gesellschaftsbereiche trifft auf kaum nennenswerte Widerstände, an der von Max Weber als Inbegriff rationalen Entscheidens gelobten öffentlichen Verwaltung stört primär die aus mangelnder Digitalisierung resultierende Ineffizienz.

Fünftens, Modernisierung führt zur Monopolisierung von Macht. Das klassische Beispiel ist der territoriale Nationalstaat, dem es gelingt, konkurrierende Machtzentren wie lokale Adlige und kirchliche Autoritäten unter seine Kontrolle zu bringen. Die Spätmoderne erblickt im Staat ein Auslaufmodell, das mit der Globalisierung überfordert und für die Finanzmärkte zu langsam geworden ist. Die Gegenwart hingegen stellt verwundert fest, dass sich die Stunden der Exekutiven häufen. Ob es um die Finanzkrise, den Klimawandel oder die Pandemie geht: Wenn die Probleme überhaupt lösbar sind, dann wohl nur durch die Staaten und die staatenbasierte globale Zusammenarbeit. Die wiederentdeckte Macht des Staates löst keine Begeisterung aus. Doch der Staat profitiert vom Mangel an theoretisch attraktiven Alternativen ebenso wie vom Fehlschlagen spätmoderner Versuche, effektive globale und transnationale Institutionen aufzubauen.

Sechstens, Modernisierung kennzeichnet eine zunehmende Normierung des menschlichen Verhaltens und menschlicher Interaktionen. Man kann das als Teil eines Prozesses der Zivilisierung beschreiben (Norbert Elias). Die Postmoderne wählt oftmals eine andere Perspektive und erblickt im Begriff „Zivilisierung“ eine schönfärbende Umschreibung für Prozesse der umfassenden Disziplinierung von Körper und Psyche (Michel Foucault). Aus dieser Kritik erwächst eine Skepsis gegenüber Regelsetzungen jeder Art, die praktisch-politisch vor allem auf den Abbau etablierter Normen etwa der Religion, der Sexualmoral und der täglichen Umgangsformen (Kleidung, Begrüßung etc.) abzielt.

Demgegenüber erlebt die Gegenwart geradezu einen Schub an Normierungsprozessen, die auf eine aus der Geschichte der Moderne wohlbekannte scharfe Gegenwehr stoßen. Das gilt für die Debatten um geschlechtergerechte Sprache und die Grenzen des öffentlich Sagbaren genauso wie für die Frage, in welchem Umfang die Klimakrise zu einer stärkeren Normierung des individuellen Alltagsverhaltens führen soll, nicht führen darf oder führen muss.

Betrachtet man die hier skizzierten Überlegungen in der Zusammenschau, dann spricht einiges für die These, dass die Gegenwart auf eine Phase der Remodernisierung zusteuert und an der Schwelle zur Remoderne steht. Falls diese Diagnose zutrifft, gibt es Grund zum Optimismus: Schließlich kennen wir noch immer keine überzeugenden Alternativen zum großen normativen Versprechen der Moderne, die Entwicklung einer gerechten und demokratischen Gesellschaft zu ermöglichen.


Johannes Müller-Salo ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Leibniz Universität Hannover und arbeitet zu Problemen der politischen Philosophie und Ethik.