01 Dez

Onkomoderne. Kapitalismus und/als Krankheit.

Von Michaela Wünsch (Berlin)


Onkomoderne ist eine Sammlung von Kolumnen der Berliner Künstlerin und Autorin Christina Zück, die zuerst in der Zeitschrift von hundert erschienen. Allein der programmatische Titel legt eine Zustandsbeschreibung und -analyse gegenwärtiger Verhältnisse nahe, die sich durch selbstdestruktive Expansion, Wucherung, aber auch Pathologisierung[1] von vermeintlichen Abweichungen von der Norm auszeichnet. Zück analysiert diese Verhältnisse anhand von Ereignissen, Vorträgen, Ausstellungen, Demonstrationen, Filmen, Krankenhaus- und Reha-Aufenthalten und Gebäuden, denen sie alltäglich begegnet oder die sie besucht und bezieht sich in ihren ‚Diagnosen’ auf Theorien des Akzelerationismus, Anthropozäns, Marxismus und die Psychoanalyse.

Die Texte werden durch Fotos ergänzt, die wie die Texte oft den psychischen Zustand der Abgebildeten einfangen, wie etwa Slavoj Žižeks Erschöpfung während eines Vortrags in Berlin-Dahlem 2011 oder Judith Butlers mimische Fröhlichkeit, kombiniert mit gestischer Verkrampftheit während einer Begegnung mit Avital Ronell 2010 im Hebbel am Ufer.

Abb. 1: ohne Titel 2011 (Slavoj Žižek, Hegel Lecture „Is It Still Possible to be a Hegelian Today?“, Dahlem Humanities Center Berlin) © Christina Zück
Abb. 2 ohne Titel 2010 (Avital Ronell und Judith Butler, HAU Berlin) © Christina Zück

Auch in den aus subjektiver Ich-Perspektive geschriebenen Kolumnen stehen affektive Eindrücke neben politischen, philosophischen und kunstkritischen Analysen. So beschreibt Zück in der Ausstellungsbesprechung „Miteinander Reden“ die Notwendigkeit und Nöte des Networkens und der „Selbstpropaganda“ (S. 24) von Künstler:innen als „Körperpanzer, [die] sich an Bierflaschen festhalten und Angst haben. […] Nein, es ist kein Burnout, eher ein Burndown. Alle Energie zum Investieren hat sich in ihrem Inneren zu einem Strohknäuel verwurstelt, und es tun sich die besagten schwarzen Löcher auf unter Dauerbefeuerung von allem – wuchernde Kunst, blinkendes Internet, superinteressante Kontakte – aber wie ihr bereits wisst: es führt alles zu nichts.“ (S. 15) Zück bringt dabei zu den eigenen Beobachtungen neurowissenschaftliche Erklärungsmodelle ein: „Eine zur Überproduktion angeregte Amygdala – oder war es der Hippocampus? – wirft ein Schreckensszenario wie einen Schatten vor sich her, bis die achtlos abgesonderten Bilder die Kontrolle über den Rest der Hirnareale übernehmen. Als Stressor kommt das Außen unserer wirren Realität hinzu: Technologische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen haben sich auf eine Weise beschleunigt, dass ein längerer Zustand der Stabilität und Entspannung kaum mehr vorstellbar ist.“ („NgsT“, S. 63) Die Form der Kolumne erlaubt diese theoretischen Einsprengsel, die in einem akademischen Text erstmal begründet werden müssten, wie etwa die Kombination von Neurowissenschaft und Psychoanalyse, wobei Sigmund Freud sich bekanntlich selbst naturwissenschaftlicher Modelle bediente, unter anderem um die hier angedeutete homöostatische Tendenz nach Stabilität und Entspannung, das sog. Nirwanaprinzip, thermodynamisch zu begründen. Zück bezieht sich auch auf Catherine Malabou, die mit dem philosophischen Konzept der neuronalen Plastizität gesellschaftliche Einflüsse auf das Gehirn berücksichtigt und dabei sowohl die rein biologische Kausalität der Neurowissenschaft als auch die überzeitliche Universalisierung psychoanalytischer Konzepte in Frage stellt, indem sie beides als soziopolitischen Veränderungen unterliegend analysiert.

Über eine in einer Russisch-Römischen Sauna in Berlin-Mitte stattfindenden Ausstellung/Performance schreibt Zück: „Doch das freudmäßig stereotype Verdrängte schlug bei Roseline Rannoch bewusst und grotesk zurück, die dunkle Unterseite der Leistungsbeschleunigungsgesellschaft ließ sich fruchtbar wie Eizellen aus den Eierstöcken pressen. […] Soviel Verdrängtes blieb auch weiterhin verdrängt, Freud hätte sich amüsiert, der Sex sowieso, der Leerlauf und Wiederholungszwang der zeitgenössischen Kunstproduktion, und überhaupt die zum Körper- und Wahrnehmungstraining mutierte Lebendigkeit.“ (S. 60f.)

Was dieser trainierten Lebendigkeit und Beschleunigung fast zwangsläufig widersteht sind Krankheiten, die nicht nur (Neben-)Produkt der Akkumulation von kulturellem, finanziellen und sozialen Kapital sind, sondern hinderlich, dieses zu akquirieren. Neben den eigenen Erfahrungen in Krankenhäusern und Reha-Kliniken und den Bedingungen der Pandemie beschreibt Zück die Einschränkungen einer auf gesunde Körper ausgerichteten Kunst- und übrigen Welt. Fahrstühle, die nicht vorhanden oder defekt sind oder die ein Hausmeister erst aufschließen muss, Kommentare über ihr Gangbild oder wo documenta Mitarbeiter sie 2 Kilometer zu Fuß zum Eintrittskarten kaufen schicken. Zück ist in der „sickness affinity group“ und deren Projekt „The _&_ Oracle“ aktiv, ein Kollektiv, das sich der Unterstützung und Vernetzung von Krankheit, Behinderung oder Pflegeaufgaben betroffenen Künstlerinnen und Kulturarbeiterinnen widmet. Darüber hinaus geht es darum, von Institutionen zu fordern, barrierefreie Arbeitsumgebungen zu schaffen, auch damit es nicht den einzelnen Betroffenen überlassen bleibt, sich zu „beschweren“, wobei die Gruppe sich auf Sara Ahmeds Ausführungen zu „complaining“ bezieht, die Beschwerde als „diversity work“ bezeichnet. Denn obwohl ja in fast jeder Stellenbeschreibung, ‚Behinderte’ aufgefordert werden, sich zu bewerben, stellen sich die Institutionen meist nicht darauf ein, diese dann auch angemessen zu beschäftigen. Zudem gilt die bereits angesprochene Arbeitsethik vor allem im künstlerischen und akademischen Bereich, nicht nur nicht nur krank zu sein, sondern tendenziell unbezahlte (Mehr-)Arbeit zu verrichten, lange Arbeitswege in ‚Kauf’ zu nehmen und 24/7 erreichbar zu sein.

In ihrem letzten im Mai 2022 verfassten Kapitel/Kolumne entwirft Zück ein Szenario, deren Tendenzen sich bereits jetzt nach/während der Pandemie und Ukrainekriegs abzeichnen und die auf Reduktion bei wuchernder Expansion deuten: „Wenn man den eigenen und den kollektiven Ängsten mehr Raum gibt, wird dies vielleicht die Zukunft eines Gesundheitssystems sein, das in eine Wirtschaft eingebettet ist, die verzweifelt zu wachsen versucht und in eine nichtlineare Drift gerät: Streunende Katzen zwischen den Krankenbetten, Fledermäuse in den OP-Schleusen, ein Pangolinkadaver im Wäschecontainer, unterbezahlte Pfleger, die die Angehörigen um Geld anbetteln. Lieferketten zerreißen, irgendwoher kommt ein Embargo auf Eisenerz, Brennstoffe werden knapp, die Hochöfen stehen still, Hohlnadeln können nicht mehr produziert werden, wichtige Medikamente gehen aus. Schwarzmarkthändler können selten noch eine Containerladung Kanülen aus China organisieren.“ (S. 145)

Auch ich bekomme derzeit nur noch die Hälfte der Medikamente in der Apotheke, die ich regulär nachkaufe, wenn sie verbraucht sind, und die bislang nie Mangelware waren: Fiebersaft für Kinder, Elektrolyte, Rückenschmerzsalbe sind nicht lieferbar. Die Gründe dafür liegen in der kapitalistischen, an Gewinn orientierten Herstellung von Medikamenten, die durch mehrere Länder reisen, bis sie in Deutschland verkauft werden. Auch die Reinigungsmittel für Kläranlagen, die aus Eisen- oder Aluminiumsalzen bestehen, die wiederum ein Nebenprodukt der Herstellung von Titanoxid sind knapp, weil ihre energieintensive Produktion derzeit vermindert wird, sodass Abwässer demnächst schadstoffhaltiger in Flüsse geleitet werden, woraus folgt, dass Algen und andere Wasserpflanzen wuchern. Die kleinteiligen Abhängigkeiten und Kausal- und Lieferketten in der globalen an Profitmaximierung orientierten Wirtschaft werden derzeit zwar sichtbarer, nichtsdestotrotz aber nicht grundsätzlich hinterfragt. Wird ein despotischer Lieferant sanktioniert, geht man zum nächsten. Nicht zuletzt aus Angst, die Wutbürger könnten den Aufstand proben, sollte ihnen die Wurst vom Brot, Nudeln oder Sonnenblumenöl genommen werden oder auch nur eingeschränkt verfügbar, denn auf der Ausbeutung anderer lässt es sich gut leben. (vgl. den Beitrag zu Postwachstum von Max Koch u.a. in dem Blog?) Dies soll kein Plädoyer für Subsistenzwirtschaft oder armutsgerechte Klimafreundlichkeit sein. „Zu einem autonom lebendigen Zustand wird es kein Zurück geben.“ (S. 146)  Die Onkomoderne schließt Abhängigkeiten ein, die ein Virus oder eine Krebszelle ebenso auszeichnen, wie das Verhältnis von Technik und Lebewesen. Jedoch könnten nicht-kapitalistische Produktionsweisen damit verbundene Ausbeutungsverhältnisse verändern.

Bibliografie

Ahmed, Sara: Complaint! Duke University Press, 2021.

https://feministkilljoys.com/2022/06/08/the-complainer-as-carceral-feminist/

https://feministkilljoys.com/2022/03/24/complaint-as-a-queer-methodb/

https://feministkilljoys.com/2022/03/13/after-complaint/

http://www.oracle.sicknessaffinity.org

http://www.oracle.sicknessaffinity.org/thetenderyetfuriousoracle.pdf

Zück, Christina: Onkomoderne. Kolumnen 2011-2022. Permanent Verlag, 2022.


Michaela Wünsch arbeitet als Kultur- und Medienwissenschaftlerin, Psychoanalytikerin in eigener Praxis und Verlegerin bei b_books in Berlin. Zuletzt war sie Vertretungsprofessorin am Institut für Medienwissenschaft an der Universität Paderborn. Zu ihren Publikationen gehören: „Serialität und Wiederholung in der Philosophie“, in Televisuelle Serialität, hg. v. Sven Grampp, Olga Moskatova (im Erscheinen); „Phantasmatische Körper“, in Körperglossar, hg. v. Artur Boelderl, Ulrike Kadi, Timo Storck, Gerhard Unterthurner, Heidi Wilm, Turia + Kant 2021; „Teleanalyse – Medien der Übertragung“, in Übertragungen. Zur Politik der Beziehungen, hg. v. Peter Lenhart, Harald Strauß, Gereon Wulftange, Manuel Zahn, Parodos Verlag 2021; “Techne, Mechane und Poeisis des Fernsehens”, in Jahrbuch für Medienphilosophie, Band 2, Heft 1 (Feb. 2016).


[1] Wobei mit Pathologisierung an dieser Stelle nicht nur medizinische Klassifizierungen von Krankheit, sondern ebenso Gesundheit gemeint ist.

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