Patientenverfügung und Sterbehilfe: Individuen im Spannungsfeld zwischen Autonomie und Fremdbestimmung

Von Leander Frank (Frankfurt am Main/Darmstadt)

Die Diskussion über den Umgang mit Sterbehilfe ist eine der wenigen Zombiedebatten, die alle paar Jahre wieder auftauchen. Im Jahr 2015 wurden im Bundestag vier verschiedene Vorschläge, die von liberal bis sehr konservativ reichten, zur rechtlichen Neuregelung der Sterbehilfe in Deutschland vorgelegt. Ende desselben Jahres entschieden sich die Politiker für den konservativsten Vorschlag: Die geschäftsmäßige Sterbehilfe wurde weiterhin untersagt und Beihilfe zum Suizid unter Strafe gestellt, obwohl diese über 100 Jahre straffrei war. In Deutschland ist die Debatte über den Tod längst kein Tabuthema mehr, denn spätestens am Ende unseres Lebens muss sich jede mit ihm auseinandersetzen. Aus diesem Grund war es nur eine Frage der Zeit, bis die Diskussion über den Umgang mit Sterbehilfe wieder zur Debatte stand. Im Februar 2020 wurden erneut abgestimmt, und nun ist es amtlich: Die passive Sterbehilfe ist in Deutschland endlich erlaubt, da, so die Argumentation, jeder Mensch grundsätzlich das Recht habe, selbstbestimmt zu sterben.

Im US-Bundesstaat Oregon, in der Schweiz und in den Niederlanden ist das längst kalter Kaffee. In unserem westlichen Nachbarland wurde die aktive Sterbehilfe bereits 2002 legalisiert. Doch die Liberalisierung des Sterberechts wirft auch neue bioethische Fragen auf, die geklärt werden müssen: Am 21. April 2020 fällte der höchste Gerichtshof der Niederlande ein Urteil, das zukünftig die aktive Sterbehilfe bei Demenzkranken erlaubt.

Bei dem Fall ging es um eine 74 Jahre alte Frau, die im Jahr 2016 in einer Patientenverfügung schriftlich erklärte, dass sie im Fall unerträglichen Leidens sterben wolle, «wenn ich denke, dass die Zeit dafür reif ist». Einige Zeit später erkrankte die Frau dann tatsächlich an starker Demenz. Fortan gab sie widersprüchliche Aussagen von sich: Mehrere Mal äußerte sie, dass sie sterben wolle, nur um sich einige Momente später nicht mehr an ihren Todeswunsch erinnern zu können. Oder sie äußerte ihn, bekräftigte jedoch, dass es nicht so schlimm und der richtige Zeitpunkt noch nicht gekommen sei. Sprach der Hausarzt sie direkt darauf an, reagierte sie abweisend. Einige Zeit später musste die Frau in ein Pflegeheim umziehen. Ihr Ehemann bat den Arzt daraufhin, sie auf Grundlage der Patientenverfügung zu töten – gegen den sichtbaren Widerstand der Frau, die abermals versicherte, dass es nicht so schlimm sei.

Die behandelnden Ärzte sahen jedoch die Voraussetzungen für aktive Sterbehilfe – unerträgliches und unbehandelbares Leiden sowie ein freiwilliger und durchdachter Todeswunsch – erfüllt. Deswegen beschlossen die Familie und eine Ärztin, das Leben der Frau mit einem tödlichen Medikament zu beenden. Die behandelnde Ärztin wurde in Folge dessen von der Staatsanwaltschaft wegen Mordes angeklagt – im Endeffekt jedoch vom Landesgericht in Den Haag und schließlich vom höchsten Gerichtshof der Niederlande freigesprochen.

Dieser Fall wirft einige rechtsphilosophische und bioethische Fragen auf, die zukünftig von JuristInnen, ÄrztInnen und PhilosophInnen geklärt werden müssen. Einige Fragen möchte ich in diesem Beitrag benennen. Die zentrale Frage, die nun im Raum steht, ist, inwiefern im Fall einer schweren Erkrankung darauf verzichten werden kann, den ausdrücklichen und bewussten Willen eines Patienten einzuholen. Außerdem: Kann ein autonomes Subjekt seinem zukünftigen nicht-autonomen Selbst das Lebensrecht entziehen? Welches Gut wiegt in einem solchen Fall mehr: Die Patientenverfügung einer autonomen Person, mit dem Wunsch, bei einer Demenzerkrankung getötet zu werden oder der Lebenswunsch derselben Person, die nun demenzkrank ist und mehrmals versichert, dass es nicht so schlimm sei? Verfällt die Patientenverfügung nach Eintreten der in der Verfügung beschriebenen Situation – oder soll sie weiterhin gültig sein? Eine weitere Frage ist die nach der Patientenautonomie: Woher kann man wissen, dass die Person zum Zeitpunkt der Verabreichung des tödlichen Medikaments keinen klaren Moment und somit durch die Gegenwehr wirksam ihre frühere Erklärung widerrufen hat? Studien aus dem Jahr 2012 belegen nämlich, dass Demenzkranke sehr wohl wissen, was mit ihnen wenige Momente vor ihrem Tod geschieht. Eines ist sicher: Eine Einwilligung zum Getötetwerden kann jederzeit in jeder Form widerrufen werden, solange man zu dem Zeitpunkt zurechnungsfähig ist. Doch der Patientin wurde ihre Zurechnungsfähigkeit und damit ihre Autonomie an dem Punkt abgesprochen, als eine schwere Demenz diagnostiziert wurde. In diesem Fall müssen die ÄrztInnen erklären, mit welcher prozentualen Wahrscheinlichkeit die Diagnose zutreffen kann – und inwieweit es Fehldiagnosen gibt.

Die philosophische Frage, die hier geklärt werden muss, ist die Frage nach der Autonomie. Und dabei handelt es sich um keine leicht zu beantwortende Frage. In ihrem bioethischen Standardwerk The History and Theory of Informed Consent schlagen Ruth R. Faden und Tom L. Beauchamp drei Prämissen der Autonomie vor: (1.) Intentionalität (intentionality) ist die psychische Fähigkeit des Bewusstseins, sich auf spezielle Gegenstände – seien es physische oder psychische – zu beziehen. Das heißt, dass es sich dabei um die allgemeine Auffassungsgabe einer Person handelt, die vorhanden sein muss, um autonome Entscheidungen treffen zu können. (2.) Die Fähigkeit des Verstehens (understanding) befähigt den autonomen Entscheidungsträger, sich nicht nur auf Dinge beziehen können, sondern auch eine erweiterte Auffassungsgabe zu besitzen, die die Informationen, auf die sich sein Bewusstsein bezieht, zu verarbeiten. (3.) Nicht-Kontrolle (noncontrol) bezieht äußere Einflüsse ein, denen eine sich in Behandlung befindende Person ausgesetzt wird. Diese darf nicht von den politischen, soziokulturellen oder religiösen Überzeugungen eines nahestehenden Menschen, einer Krankenschwester oder eines Arztes in ihrer Entscheidungsfreiheit eingeschränkt werden. Denn bei einer autonomen Entscheidungsfindung darf kein sozialer Druck vorhanden sein, der die Entscheidung des Individuums in eine bestimmte Richtung lenken könnte.

Bei den von Faden und Beauchamp vorgeschlagenen Prämissen handelt es sich nur um Grundprämissen. Angesichts individueller Extremfälle wie Menschen mit schweren Behinderungen sind sich die beiden Autoren der Komplexität und der sozialen Dimension von Autonomie-Definitionen bewusst. Aus diesem Grund müssen diese Grundprämissen mit etlichen Zusatzprämissen ausgestattet werden. Doch generell offenbart die Frage nach der Autonomie einen auf Kant und Locke zurückgehenden Grundwiderspruch liberaler Gesellschaften: in der Theorie gelten die Menschenrechte für jedes bürgerliche Subjekt; in der Praxis muss man jedoch autonom sprechen und seinen Widerspruch einlegen können, um ein solches Subjekt sein zu können.

Ein letzter und entscheidender Punkt in dem Fall der demenzkranken Frau ist die Frage nach der Ökonomisierung der geschäftsmäßigen Sterbehilfe: Im Jahr 2015 hatten die Politiker des Bundestags gute Gründe dafür angeführt, die geschäftsmäßige Sterbehilfe weiterhin zu verbieten. Denn die Ökonomisierung aller Lebensbereiche, die ein beklagenswerter, aber realer Bestandteil neoliberaler Marktgesellschaften ist, wird auch vor dem „Geschäft mit dem Tod“ nicht haltmachen. In dem Rechtsfall werfen sich Fragen nach den wahren Gründen ihrer Familie auf: Warum wollten der Ehemann und die Familie die aktive Sterbehilfe auf Grundlage der vorher abgeschlossenen Patientenverfügung unbedingt durchführen, obwohl sich die demenzkranke Frau dagegen wehrte? War es aus Nächstenliebe oder spielten ökonomische Interessen, wie übermäßige Kosten für das Pflegeheim (erst nachdem sie ins Pflegeheim zog, beauftrage der Ehemann die Durchführung der Sterbehilfe) oder ein üppiges Erbe eine größere Rolle? Diese Fragen werden wohl unbeantwortet bleiben.

Der höchste Gerichtshof hat in den Niederlanden einen Präzedenzfall geschaffen und damit die Debatte für die inländische Rechtslage entschieden. Im Gegensatz dazu wird die rechtsphilosophische und bioethische Diskussion das Verhältnis zwischen Patientenautonomie, Patientenverfügung und Sterbehilfe in Zukunft neu austangieren müssen.


Leander Frank, geb. 1991, studierte im Bachelor Geschichte und Philosophie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, das er 2015 mit einer Arbeit zur Legalisierung des ärztlich-assistierten Suizids abschloss. Derzeit studiert er Politische Theorie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main/TU Darmstadt und war für ein Semester an der Virginia Polytechnic Institute and State University (USA). Er lebt in Frankfurt am Main und twittert zu politischen und philosophischen Themen.