05 Mrz

Rosa Luxemburg – die Wahr-Sprecherin

Von Michael Brie (Rosa Luxemburg Stiftung)


Die globale Linke hatte im 20. Jahrhundert viele Helden und auch einige Heldinnen. Aber unter diesen vielen sind zwei, die über alle Spaltungen der Linken hinweg auch heute noch die größte Ausstrahlung haben, sieht man von Karl Marx ab. Es sind Che Guevara und Rosa Luxemburg. Was aber ist das Geheimnis der Ausstrahlung von Rosa Luxemburg? Luxemburg hat keine wissenschaftliche Revolution vollzogen wie Karl Marx, sie hat keinen Staat gegründet wie Wladimir Iljitsch Lenin oder Mao Zedong. Sie hat keine neue Theorie sozialistische Strategie hinterlassen wie Antonio Gramsci. Das Genie Luxemburgs, das sie weit über andere erhebt, drückte sich in ihrem Leben aus.

Misst man Luxemburg an dem, was ihr Werk unmittelbar bewirkt hat, verfehlt man ihre wirkliche nachhaltige Bedeutung. Was Luxemburg vor vielen anderen auszeichnet, das ist, wie sie gelebt hat. Es war zugleich hochpolitisch und hochpersönlich, mit existenzieller Konsequenz praktisch eingreifend und theoretisch reflektierend, den Massen zugewandt als begnadete Journalistin und Rednerin und sich ganz auf sich selbst, die Malerei, Musik, Pflanzen und Tiere zurückziehend. Mal lebte, malte, botanisierte sie wie im Rausch, um dann von einer Massenkundgebung zur anderen zu jagen. Dies war kein Nebeneinander, sondern die Pole bildeten intensiv gelebte, sich wechselseitig verändernde Gegensätze.

Im November 1918, gerade aus dem Gefängnis entlassen, trat sie in einem Artikel für die sofortige Abschaffung der Todesstrafe ein. Dabei hat sie einen doppelten Anspruch an Sozialismus formuliert, der bis heute nachhallt: Sie schrieb – über Sozialismus schreibend – zugleich über sich. Ihr Sozialismus ist zugleich uneingeschränkt radikal und radikal menschlich. Sie schrieb:

»Blut ist in den vier Jahren des imperialistischen Völkermordes in Strömen, in Bächen geflossen. Jetzt muss jeder Tropfen des kostbaren Saftes mit Ehrfurcht in kristallenen Schalen gehütet werden. Rücksichtsloseste revolutionäre Tatkraft und weitherzigste Menschlichkeit – dies allein ist der wahre Odem des Sozialismus.« (Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, Bd. 4, Berlin 1975, S. 406)

Wer Luxemburgs Weise verstehen will, den Widerspruch zwischen revolutionärer Tatkraft und weitherzigster Menschlichkeit in Bewegung zu setzen, der muss ihre Schrift „Die russische Revolution“ lesen. Aus dem Gefängnis heraus, machte Luxemburg etwas völlig Unmögliches. Sie entzog sich der Logik »Wir oder sie«, sie ergriff zugleich Partei für die Bolschewiki und gegen sie. Sie wusste genau, das die Bolschewiki in einer unmöglichen Situation steckten. Unmöglich vor allem nach den Kriterien des orthodoxen Marxismus. Russland war in der übergroßen Mehrheit ein Bauernland, vom Krieg enorm geschwächt. Wie sollte da eine sozialistische Revolution möglich sein? Wenn überhaupt, dann würde diese erst durch eine sozialistische Revolution in Deutschland möglich werden.

In dieser Schrift formulierte Luxemburg jene Sätze, mit denen 70 Jahre später, im Januar 1988, Dissidenten aus der DDR gegen Zensur und Bevormundung demonstrierten und dafür inhaftiert wurden:

»Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für die Mitglieder einer Partei – und mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden. Nicht wegen des Fanatismus der ›Gerechtigkeit‹, sondern weil all das Belebende, Heilsame, Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die ›Freiheit‹ zum Privilegium wird.« (Ebd., S. 359)

Luxemburgs Schrift »Zur russischen Revolution« wird zumeist missverstanden. Man darf nicht diesen oder jenen Satz aus der Schrift isoliert herausgreifen, sondern muss sich das Ganze der Schrift vor Augen führen. Am besten ist, man hört sich diese Schrift an wie eine klassische Symphonie, die aus vier Sätzen besteht.

Die Schrift »Zur russischen Revolution« beginnt und endet mit einer Würdigung der Russischen Revolution und der Bolschewiki. Es sind vor allem die Abschnitte I und II sowie der Schlussteil – man kann dies als den langen ersten und kurzen vierten Satz ihrer »Symphonie« ansehen. Die einleitenden Worte der Schrift geben wie ein Paukenschlag das Motiv vor: »Die Russische Revolution ist das gewaltigste Faktum des Weltkrieges.« Immer und immer wieder wird es wiederholt. Beethovens Eroica scheint Pate zu stehen. Die Bolschewiki seien es gewesen, die begriffen hätten, dass in Russland selbst wie in Europa der Sozialismus auf der Tagesordnung stehe. Sie hätten bewiesen, dass gilt: »Nicht durch Mehrheit zur revolutionären Taktik, sondern durch revolutionäre Taktik zur Mehrheit geht der Weg.« (Ebd., S. 341)

Während sich der erste lange Teil der Luxemburgschen Schrift sich der Würdigung der Bolschewiki widmet, konzentrieren sich die Abschnitte III und IV auf die Kritik. Drei zentrale Punkte stehen im Mittelpunkt: die Art der Agrarreform und die Proklamation des Selbstbestimmungsrechts von Nationen sowie die Unterdrückung der Demokratie. Die ersten zwei Punkte sind zusammengefasst im Abschnitt III, der dritte Punkt im Abschnitt IV. Das sind die Sätze zwei und drei der Luxemburgschen Symphonie »Zur russischen Revolution«.

Im zweiten Satz ihrer Symphonie schlug Luxemburg gewaltsame Maßnahmen vor, die den Gegensatz zwischen den Bauern und den unterdrückten Völkern Russlands mit der bolschewistischen Regierung verschärft hätten. Im dritten Satz lehnte sie dann aber genau jene Mittel auf das Entschiedenste ab, mit denen die Bolschewiki versuchten, sich um jeden Preis an der Macht zu halten – die Unterdrückung der politischen Freiheiten und den Regierungsterror. Luxemburg wollte begründen, warum beides gleichzeitig möglich ist – direkt zum Sozialismus zu marschieren und umfassende Demokratie zu sichern. Sozialistische Demokratie und demokratischer Sozialismus sollten Hand in Hand gehen.

Rosa Luxemburg vermochte für sich die genannten Gegensätze zu vereinen. Die Kontrapunkte stimmen bei ihr am Ende zusammen und erzeugen eine Harmonie. Diese Harmonie war ihr aber nur möglich, weil sie davon ausging, dass die Arbeiter und die Massen gerade in der alltäglichen Praxis, bei den »tausend Problemen« des Aufbaus des Sozialismus, im »ungehemmten, schäumenden Leben« sich verändern würden: »Soziale Instinkte anstelle egoistischer; Masseninitiative anstelle der Trägheit; Idealismus, der über alle Leiden hinwegbringt usw. usf.« (ebd., S. 361) würden sich herausbilden. Und sie nahm an, dass diese Instinkte und Initiativen sowie dieser Idealismus in genau jene Richtung weisen würden wie die von ihr propagierte sozialistische Politik. Deshalb konnte sie auch annehmen, dass ein Höchstmaß an Freiheit zugleich ein Höchstmaß an Einsicht in die Richtigkeit des Sozialismus erzeugt.

Luxemburg selbst ist vor allem jemand, der die eigene Wahrheit laut ausgesprochen hat – gleichgültig, welche Gefahr für sie damit verbunden war. Diese Haltung des Wahr-Sprechens kommt aus der griechischen Antike und ihrer Demokratie. Sie trug dort den Namen Parrhesia. Michel Foucault hat dieser Kunst des Wahr-Sprechens viele Vorlesungen gewidmet.

Dieses Wahr-Sprechen hatte bei Luxemburg verschiedene Dimensionen. Erstens ergab sich daraus die Forderung, politische Räume zu schaffen und zu erhalten, in denen die Freiheit des Anders-Denkenden als höchstes Gut geschützt wird. Als Sprechender sollte auch der Feind unangetastet bleiben. Nur in dem Raum des Frei-Sprechens könnten sich Selbstermächtigung und Selbstbestimmung entfalten. Die Herrschaft des Volkes, so Rosa Luxemburg ganz anders als die Bolschewiki, ist untrennbar von der Möglichkeit, frei in offener Rede seine Positionen vertreten zu können. Ohne den Dialog gibt es keine Emanzipation.

Zweitens ist Luxemburgs Wahr-Sprechen nicht mit unverbindlichem Gerede zu verwechseln. Das Wahr-Sprechen ist nur dann ernst zu nehmen, wenn der Sprechende alle Gefahren, die damit verbunden sind, auf sich nimmt. Die Sprecherin der Wahrheit ist Garant der Wahrheit dessen, was sie sagt. Luxemburgs Vermächtnis liegt vor allem darin, dass sie sich den Widersprüchen des Lebens als Sozialistin mit äußerster Konsequenz stellte. Die Wahrheit ihres Sprechens lag in der Wahrheit ihres Lebens.

Drittens nimmt das Wahr-Sprechen den dadurch Angesprochenen in die Pflicht. Auch die Anderen sollen nicht lau bleiben. Dies galt für sie politisch wie menschlich. Mit einer Sprache wie mit Keulen wollte sie auf die Menschen einschlagen, schrieb sie im Ersten Weltkrieg, um sie aufzurütteln. Sie wollte durch das Wahr-Sprechen andere zum wahren Leben auffordern, ja, sie dazu zwingen, mit sprachlicher Gewalt. Und dies galt auch in persönlichen Beziehungen. Ihr Anspruch an sich selbst und ihr Anspruch an die »Massen«, sich selbst aus eigener Kraft zu befreien und sich keine neuen Fesseln anlegen zu lassen, waren untrennbar.

Viertens war das Wahr-Sprechen bei Rosa Luxemburg Erzeugung einer wahren Realität – wahrer Beziehungen, wahrer Lebensformen, wahrer Politik, und sei es als Vor-Schein einer besseren Zeit und Gesellschaft. Sie war eine durch und durch moderne Prophetin. Sie hat nicht nur laut gesagt, was ist, sondern auch, was sein könnte, wenn man in der Wahrheit lebt und nach der Wahrheit handelt. Die lebendige Natur, die sie immer wieder studierte, war ihr ein Vorbild. Ein Vorbild waren ihr auch die vorkapitalistischen Gemeinschaften, die der Imperialismus zerstörte.

Fünftens erfolgte Luxemburgs Wahr-Sprechen aus dem Marxismus heraus. Ihr Marxismus war lebendig. Luxemburg hat die Widersprüche des Marxismus gelebt und setzte sie selbst in Bewegung, um die Selbstemanzipation der arbeitenden Klassen zu befördern. Für sie war er weder die reine Lehre noch der Orden der Überzeugten, weder formalisierte Ideologie noch bloßes politisches Instrument, sondern Lebenspraxis und einzig mögliche – revolutionäre – Realpolitik. Das wirft natürlich auch die Frage auf, ob im Rahmen des Marxismus – oder welches Marxismus – die von Luxemburg gelebten Widersprüche produktiv ausgehalten werden können.

Ein Tag vor der Ermordung Rosa Luxemburgs erschien ihr letzter Artikel. Der Januaraufstand in Berlin 1919 war durch das Bündnis von Sozialdemokratie und Freikorps niedergeschlagen worden. Der Artikel trug den düsteren Titel »Die Ordnung herrscht in Berlin«. Er endet mit den letzten Sätzen, die uns von Rosa Luxemburg, der Wahr-Sprecherin, überliefert sind:

»›Ordnung herrscht in Berlin!‹ Ihr stumpfen Schergen! Eure ‚Ordnung‘ ist auf Sand gebaut. Die Revolution wird sich morgen schon ›rasselnd wieder in die Höh‘ richten‹ und zu eurem Schrecken mit Posaunenklang verkünden:

Ich war, ich bin, ich werde sein!« (Ebd., S. 538)


Dr. habil. Michael Brie, Sozialphilosoph, Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Im Februar 2021 erschien sein gemeinsam mit Jörn Schütrumpf verfasstes Buch »Rosa Luxemburg. Eine Marxistin an den Grenzen des Marxismus«. Hamburg: VSA Verlag (freier download hier)

Weiterführende Hinweise

Die Gesammelten Werke wie auch die Gesammelten Briefe sind im Karl-Dietz-Verlag in Berlin erschienen. Die bedeutendsten Biografien zu Rosa Luxemburg sind:

Nettl, Peter (1967): Rosa Luxemburg. Köln/Berlin: Kiepenheuer & Witsch

Laschitza, Annelies (1996): Im Lebensrausch, trotz alledem. Rosa Luxemburg. Eine Biographie. Berlin: Aufbau Verlag.

Auf der Website der Rosa-Luxemburg-Stiftung (www.rosalux.de) finden sich zum 150. Geburtstag von Rosa-Luxemburg-Stiftung viele Beiträge und künstlerische Interpretationen ihres Lebens und Werks.

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