Tagungssplitter: Exemplarität und Einbildungskraft
von Johanna Sinn (Passau) –
Vorbilder und prägende Beispiele, Bilder, die Ziele vermitteln, und solche, mit denen argumentiert wird, literarische und historische Figuren– eine Vielzahl von Phänomenen wurde im Panel „Exemplarität und Einbildungskraft“ auf der XI. Tagung für Praktische Philosophie in Passau untersucht. Das dreiteilige Panel, das von Katharina Naumann und Larissa Wallner organisiert wurde, umfasste acht Vorträge, vor allem von Doktorand:innen, und eine Abschlussdiskussion zu diesem Themenschwerpunkt.
Die Fähigkeit, sich etwas vorstellen zu können, ist in vielen alltäglichen Situationen unverzichtbar. Bei einer Wegbeschreibung, um sich zu erinnern, wo man den Schlüssel gestern abgelegt hat, oder wenn man sich für ein Gericht auf der Speisekarte entscheidet – stets arbeitet das innere Auge mit. Zugleich ist Einbildungskraft nötig, um aus dem Alltäglichen auszubrechen, Neues zu lernen und gewohnte gedankliche Bahnen zu verlassen. Und auch, wenn Literatur und Kunst entstehen und wenn sie rezipiert werden, ist sie wesentlich. Dabei changieren die durch Einbildungskraft erzeugten Vorstellungen: Es kann sich um gut erkennbare Abbildungen von tatsächlich Gesehenem, um schwer erreichbare Ideale, oder um Neues, bisher Ungedachtes handeln, das erst einmal nur in der Imagination existiert. In allen drei Fällen sind Vorstellungen exemplarisch – wenn sie Bekanntes repräsentieren; wenn sie normative Orientierung bieten und zeigen, was gut oder richtig ist; und auch, wenn sie dazu dienen, neue Möglichkeiten auszuloten oder zu etablieren.
Dass Einbildungskraft sowohl als reproduktives als auch als produktives Vermögen verstanden werden kann, wurde in den Vorträgen des Panels als systematische Spannung deutlich, die das Nachdenken über Exemplarität und Einbildungskraft begleitet. Einerseits ist sie, etwa für Arendt, „das Vermögen, Abwesendes gegenwärtig zu haben“1. Als solche reproduktive Fähigkeit ist sie auf bereits gemachte Erfahrungen mit der Welt angewiesen, die sie dann abrufen kann. Andererseits kann sie auch die produktive Fähigkeit sein, die fantasievoll und spielerisch neue Welten erzeugt. So verweist auch Kant in der Kritik der Urteilskraft darauf, dass Einbildungskraft von den Beschränkungen der Realität befreit werden kann und für das Schaffen neuer Kunstwerke wesentlich sei.2 Entsprechend kann Einbildungskraft sowohl an gewöhnlichen Lernprozessen als auch an utopischem Denken beteiligt sein.
Das spezifische Interesse des Panels richtete sich darauf, wie diese Spannung zwischen reproduktiver und produktiver Einbildungskraft sich auf soziale Verhältnisse auswirkt oder von diesen mitbestimmt wird: Nicht selten reproduziert ein scheinbar allgemein anerkanntes Vorbild oder Beispiel soziale Stereotype oder angreifbare Normen. Andererseits sind gerade Beispiele eine Möglichkeit, neue Vorstellungen sozialer Gerechtigkeit oder Tugendhaftigkeit zu erläutern. Fragen, die das Panel zu beantworten suchte, waren daher: Worin liegen die Bedingungen der Sichtbarkeit eines Vorbilds? Inwiefern ist die Einbildungskraft durch soziale Kontexte geprägt? Liegt in der Wahl alternativer Vorbilder auch ein subversives Potenzial?
Die Rolle sozialer Kontexte wurde in den Vorträgen für unterschiedliche Kontexte deutlich. Francesca Zicchetti legte den Fokus auf Lernsituationen mit jüngeren Kindern und erörterte, welche Funktion begriffliche Beispiele darin einnehmen können. Sie kontrastierte Wittgensteins Verständnis des Lernens am Beispiel mit jenem bei Kant und schlug eine philosophische Analyse für Situationen vor, in denen durch Interaktion mit einer Lehrperson über Beispiele Begriffsverständnis erworben wird. Auch Jens Wimmers untersuchte das Zusammenspiel von Wahrnehmung und Denken. Er kritisierte dessen Einbettung in rationalistisch geprägte Erkenntnistheorien und zeichnete nach, wie die Einbildungskraft mit sinnlichen Empfindungen an rationalen Denkprozessen beteiligt ist. Ähnlich wie bestimmte grafische Figuren im Gegensatz zu anderen Empfindungen auslösten, würden auch rationale Schlussfolgerungen von Empfindungen der Stimmigkeit oder Unstimmigkeit mitbestimmt.
Einem konkreten Beispielbild widmete sich Sebastian Höpfl. Für die Betrachtung der Verhältnisse von Menschen untereinander und zu ihrer Umwelt aus verantwortungsethischem Blickwinkel schlug er das Bild des Säuglings vor. Nehme man dieses zum Beispiel, werde die Angewiesenheit des Menschen auf andere unmittelbar deutlich, die als philosophisches Fundament bei Levinas zu finden sei. Ebenfalls mit einem konkreten Korpus an Beispielen arbeitete Philippe Brunozzi. Er untersuchte frühe konfuzianische Texte auf ihre Verwendung vorbildhafter Beispiele und kam zu dem Schluss, dass Exemplarität dort divers gedacht sei. Die Vorbildfiguren wiesen verschiedene, auch ein gutes Leben erschwerende, Charakterzüge auf und zeigten gerade dadurch, dass geteilte Werte und Ziele von jedem Individuum auf einem eigenen Weg erreicht werden müssten und könnten. Damit werde ein Gegenbild zu jenen idealen moralischen Akteuren deutlich, die in der westlichen Philosophie häufig vorgestellt würden.
Ambivalente Figuren vorbildhafter Beispiele standen im Mittelpunkt zweier weiterer Vorträge. Fabian Warislohner zeichnete nach, wie Günther Anders eine solche Figur des am Atomangriff auf Hiroshima beteiligten Piloten Claude Eatherly entstehen lässt. Eatherly zeige eine neue Art der Exemplarität, nämlich einer gebrochenen, die gerade aus dem Umgang mit der eigenen Fehlerhaftigkeit und einer Nachkriegsreflexion bestehe. Gleichzeitig erlaubte die Figur die Diskussion darüber, inwiefern Vorbilder durch andere, in diesem Fall Anders, stilisiert und hervorgebracht werden. Diesem Zusammenhang ging auch Johanna Sinn in ihrem Vortrag zur intersubjektiven Dimension der Einbildungskraft nach. Sie stellte den bei Hannah Arendt angedeuteten Gedanken zur Diskussion, dass die imaginative Wahl eines Beispiels die Vorstellung von Gesellschaft oder sozialen Gruppen und des eigenen Verhältnisses dazu impliziere. Beispiele müssten daher auch unter dem Gesichtspunkt sozialer Zugehörigkeit und Abgrenzung betrachtet werden.
Die Rolle von Literatur und literarischen Figuren untersuchten die Panel-Organisatorinnen Katharina Naumann und Larissa Wallner in ihrem gemeinsamen Vortrag. Ausgehend von Kants Äußerungen zu Literatur als am stärksten imaginationsfördernde Kunst in der Kritik der Urteilskraft stellten sie dar, welchen Ambivalenzen die Einbildungskraft in Bezug auf Literatur ausgesetzt ist. Sie kann emanzipative ebenso wie zu stereotype Vorstellungen hervorbringen. Wallner und Naumann betonten, dass dies nicht nur die Einbildungskraft von Autor:innen, sondern auch durch diejenige der Leser:innen betreffe und die Perspektive der Rezeption miteinbezogen werden sollte.
Einen Ausblick in eine Neukonzeption der Einbildungskraft, nämlich einer demokratischen Einbildungskraft, gab abschließend Sergej Seitz. Er diskutierte die These, dass es sich bei den beobachtbaren Krisen der Demokratie um imaginative Krisen handele, dass es also an positiver Vorstellungskraft mangele, wie Demokratie zu gestalten ist. Dabei stellte er die Voraussetzung infrage, dass Einbildungskraft ein individuelles und geistiges Vermögen sei, und schlug stattdessen vor, sie als in sozialer Interaktion entstehend und durch materielle Bedingungen geformt zu verstehen. Um demokratische Imagination zu fördern, sei daher nötig, die entsprechenden sozialen imaginativen Ausgangsbedingungen zu schaffen.
Über mehrere Vorträge und in der Abschlussdiskussion wiederkehrende Fragen waren etwa jene danach, wie bildorientiert die Einbildungskraft eigentlich gedacht werden sollte. Es liegt für viele Menschen nahe, von Vorstellungen als inneren Bildern auszugehen, aber nicht bei allen wählt die Vorstellungskraft diese bildliche Form. Wiederholt stand auch die Frage nach der ästhetischen Dimension der (praktischen) Philosophie im Raum – ist die Übung der Einbildungskraft oder das Entwerfen neuer exemplarischer Vorstellungen selbst eine philosophische Aufgabe? Eine Stärke des Panels bestand darin, solche und weitere Fragen zu eröffnen, die im Dialog unterschiedlicher philosophischer Hintergründe – von Lehramt über künstlerische Forschung und Medizinethik, analytische, historische und chinesische Philosophie – entstanden.
Bis 31.12.2024 läuft noch der CfP für den Themenschwerpunkt zu Exemplarität und Einbildungskraft in der Zeitschrift für Praktische Philosophie, den die Organisator:innen des Panels herausgeben: https://www.praktische-philosophie.org/zfpp/call-for-papers/view/23
Johanna Sinn ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Angewandte Ethik der Universität Passau. Sie hat an den Universitäten Hildesheim und Frankfurt am Main Philosophie studiert und arbeitet an einer Dissertation zu Beispielen in der Moralphilosophie.