Trump analysieren mit Fichte

Von Volker Haase (Freiburg)


Der Begriff des Handelsstaates kam in Deutschland um 1800 neu auf und bezeichnet einen Staat, dessen Wohlstand vor allem aus dem Außenhandel erwächst. Den theoretischen Hintergrund bildet Adam Smiths Programmschrift An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations aus dem Jahr 1776, die eine arbeitsteilige Kooperation der Nationen mit einer Minimalrolle des jeweiligen Staates als Garant der wirtschaftlichen Rechtssicherheit verknüpft und damit die Freiheit des unternehmerischen Individuums unter Annahme einer Selbstregulation der Märkte in den Mittelpunkt stellt. Diese Idee kontrastiert das bis dahin vorherrschende wirtschaftspolitische System des Merkantilismus, das mittels massiver staatlicher Eingriffe – vor allem in Form von Schutzzöllen, der Förderung von Monopolbildungen und der Ausbeutung von Kolonien – auf Preis- und Absatzvorteile der heimischen Warenproduktion und damit nicht zuletzt auf Leistungsbilanzüberschüsse abzielte. Zwischen diesen beiden Paradigmen suchte Fichte offensichtlich nach einem dritten Weg, einerseits um den Pauperismus der arbeitenden Bevölkerung in den merkantilistisch verwalteten Ländern zu vermeiden, und andererseits, weil eine Invisible-Hand-Wirtschaft nach seiner Einschätzung, die er an Hobbes‘ Naturzustandsbeschreibung anlehnt, zu ähnlich deprimierenden Ergebnissen führen muss.

Eine Verhinderung dieses Krieges aller ökonomischen Akteure gegen alle, die sich im Großen unter den Wirtschaftsnationen fortsetzt, ist für Fichte nur durch innerstaatliche Ordnungspolitik möglich. Die Notwendigkeit hierfür leitet er eingangs vertragsrechtlich her: Von Natur aus habe jeder Mensch das gleiche „Recht auf Handlungen, keineswegs auf Sachen“. Der Besitz von Gegenständen erhalte seinen Sinn nämlich nur dadurch, als er die Handlungsfreiheit der Personen erweitert und zugleich untereinander reguliert. Sich zu „vertragen“ bedeute entsprechend, dass sich Menschen qua „Vertrag“ gegenseitig materielle Verzichtleistungen zusichern. Dabei könne von gerechten Verhältnissen nur gesprochen werden, wenn „alle ohngefähr gleich angenehm leben können“, die nicht fahrlässig mit dem Zugeteilten umgehen. Ein solcher Zustand könne jedoch nur auf begrenztem Territorium erreicht werden und bedürfe konsequenter Überwachung. Wirtschaftsphilosophisch schlussfolgert er hieraus jene Figur eines geschlossenen Handelsstaates als zivilisatorisches Entwicklungsziel, der für seine als Anhang zur Rechtslehre gedachte Schrift titelgebend ist.

Die Grundkomponenten dieser Figur, die in den weiteren Kapiteln des 1. Buches entwickelt wird, sollen hier schnell zusammengefasst sein: Fichte entwirft das Modell eines Staates, der durch die Einführung einer reinen Binnenwährung vom auswärtigen Handel abkoppelt und weitgehend autark ist. Die Außenbeziehungen beschränken sich auf einen unumgänglichen Naturalientausch sowie wissenschaftliche und „künstlerische“ (das heißt: technologische) Kontakte. Die Bevölkerung gliedert sich in die Hauptstände der Naturprodukte gewinnenden „Produzenten“, der diese Produkte weiterverarbeitenden „Künstler“ sowie der „Kaufleute“. Jeder Stand ist zahlenmäßig zu beschränken, so dass Vollbeschäftigung herrscht. Den Bürgern ist ein Anteil an der Wertschöpfung entsprechend ihrer Arbeitsleistung zu garantieren. Durch die Regulierung von Fördermengen bei den Rohstoffen, Warenmengen und Verkaufspreisen lassen sich diese Anteile gleichmäßig verteilen. Die finanzielle Unterhaltung von Berufsgruppen, die Aufgaben im öffentlichen Interesse versehen und nicht in den Produktions- und Vertriebsprozess eingebunden sind, wird bei der Festsetzung des Warenwertes mit eingepreist. Grundlage aller Wertbemessungen ist der Nährwert von Nahrungsmitteln; als Referenz gilt dabei eine Broteinheit.

Für Fichte handelt es sich hierbei um notwendige Vorkehrungen für den Übergang zum „Vernunftstaat“, in dem Freiheit und Gleichheit ökonomisch realisiert und die Ursachen von Revolutionen und Kriegen beseitigt wären. Der Demonstration der Alternativlosigkeit dient das 2. Buch, das sich Betrachtungen zum „Zustande des Handelsverkehrs in den gegenwärtigen wirklichen Staaten“ widmet. Im vierten Kapitel beschreibt er hier verschiedene Arten des wirtschaftlichen Verhältnisses der Nationen untereinander: entweder befänden sich diese in einem „Zustande des vollkommenen Gleichgewichts“, was er aber offenbar für eine rein hypothetische Option hält, oder es gebe, ausgehend von der jeweiligen Außenhandelsbilanz, Gewinner und Verlierer. Verlierernationen charakterisiert Fichte durch die Verarmung und Auswanderung der Bevölkerung einerseits sowie durch Spekulationsgeschäfte ausländischer Investoren und souveränitätsgefährdende Staatsschulden andererseits.

Im fünften Kapitel zählt er folgerichtig auf, was Staaten im Handelsverkehr üblicherweise tun, um zu den Gewinnernationen zu gehören. An prominenter Stelle stehen hier: staatliche Prämien zur Erzeugung von Wettbewerbsvorteilen für Agrarprodukte, die aktive Förderung inländischer Produktionsstandorte, komplementär dazu die „Verhinderung oder Erschwerung der Einfuhr fremder Fabricate […] entweder durch ein völliges Verbot dieser Waaren, oder durch beträchtliche Auflagen auf sie“, und schließlich eine Vereinnahmung von Handelswegen insbesondere zu Wasser. Im sechsten Kapitel beschreibt Fichte sodann die Folgen einer solchen Wirtschaftspolitik. Diese laufe zwangsläufig, da „alle anderen Regierungen, die darunter leiden, dieselben Maasregeln befolgen müssten“, auf einen allgemeinen „Handelskrieg“ hinaus, der sich zuvorderst als Spirale der Strafzölle vollziehe und insbesondere bereits angeschlagene Teile der heimischen Produktion gefährde.

Das ursprüngliche Ziel verkehre sich damit ins Gegenteil – mit der Konsequenz, dass für die Konsumenten die Preise auf dem Binnenmarkt spürbar steigen und bestimmte Bedürfnisse womöglich überhaupt nicht mehr befriedigt werden können. Eine Regierung könne sich daher, wenn sie die Zufriedenheit der eigenen Bürger und damit auch die innenpolitische Ruhe nicht aus den Augen verlieren wolle, auf solche Konflikte nur einlassen, wenn sie über eine deutliche finanzielle und militärische Übermacht verfüge. Eine wirtschaftliche Hegemonialstellung sei jedoch auch auf dieser Grundlage nie dauerhaft zu erreichen, weil „Fortschritte des Auslands“ immer zu erwarten seien und dominierte Nachbarstaaten eine aufkommende Schwäche jederzeit für sich nutzen würden. Zudem entfache ein solches „Übergewicht im Welthandel“ eine letztlich nicht mehr zu sättigende Gier.

Nachfolgend wird daher die Rede von den „natürlichen Grenzen“ zur Antwort auf die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt einer Schließung des Handelsstaates entfaltet. Damit meint Fichte denjenigen Expansionszustand, in dem eine Volkswirtschaft über alle notwendigen Produktionsmittel auf dem eigenen Boden selbst verfügt, ohne hinter das bisherige Niveau der Bedürfnisbefriedigung in der Bevölkerung zurückzufallen: „Die Regierungen […] werden von der Notwendigkeit, sich zu arrondiren reden; werden betheuern, dass sie um ihrer übrigen Ländern willen diese fruchtbare Provinz, diese Berg- oder Salzwerke nicht missen können“.

An dieser Stelle wendet sich der Idealist Fichte gegen Kants fünf Jahre früher erschienene Friedensschrift, wenn er auf die unpopulären Maßnahmen in der Realpolitik zu sprechen kommt, die aus diesem Postulat folgen und den meisten Philosophen zuwider seien. Wer aber Handelskriege und militärische Auseinandersetzungen auf Dauer vermeiden wolle, müsse, so Fichte, erst einmal Krieg führen, und zwar nicht nur um der eigenen Nation willen, sondern letztlich zum vorteilhaften Ausgang der gesamten Menschheitsgeschichte: „Soll der Krieg aufgehoben werden, so muss der Grund der Kriege aufgehoben werden. Jeder Staat muss erhalten, was er durch Krieg zu erhalten beabsichtigt, und vernünftigerweise allein beabsichtigen kann, seine natürlichen Grenzen. Von nun an hat er in keinem anderen Staat ferner etwas zu suchen; denn er besitzt, was er suchte. Keiner hat in ihm etwas zu suchen; denn er ist über seine natürlichen Grenzen nicht hinaus und in die Grenze eines anderen eingerückt“.

Ob diese Logik zu einer Autarkie aller bereits bestehenden Nationen, noch dazu bei vergleichbarem Wohlstand führen könnte, ist dringend zu bezweifeln. Die Frage wird von Fichte auch nicht allzu lang hinter der Vision des ewigen Friedens versteckt. Wenn jeder Staat über dasselbe Recht auf Okkupation verfügt und dabei nur seinen eigenen Bürgern verpflichtet ist, geht es letztlich darum, wer zuerst den Wurf wagt und wer sodann bei der Aufteilung der Weltressourcen noch erfolgreich nachziehen kann. Es folgen in den weiteren Kapiteln des 3. Buches noch praktische Überlegungen zur Sicherung der neu erlangten Stellung, etwa was die Handhabung des Geldes und den Ausgleich von Braindrain-Effekten unter politisch Andersdenkenden durch gezielte Talentabwerbung aus dem Ausland angeht. Ferner empfiehlt Fichte eine gezielte Durchmischung der Populationen der okkupierten Gebiete und des Stammlandes und eine identifikatorische Bindung der neuen Bürger an den Staat. Wenn alle verbleibenden Nationen diesen Prozess abgeschlossen haben, gipfelt Fichtes Utopie mit dem abschließenden achten Kapitel in einem Zeitalter, in dem Frieden und Prosperität für die Weltbevölkerung auf Dauer gestellt sind. Ab diesem Moment soll insbesondere ein unbegrenzter globaler Austausch unter den Wissenschaften und Künsten beständigen zivilisatorischen Fortschritt garantieren.

***

Die Aporien der Handelsstaatsschrift als intellektuelles Kind seiner Zeit müssen hier nicht weiter diskutiert werden. Zu offensichtlich laufen die Steuerungsfantasien im „Vernunftstaat“ auf ein planwirtschaftliches und innovationsfeindliches Bürokratiemonster hinaus. Zu offensichtlich stehen diese Vorstellungen unter dem Bann präindustrieller Produktionsbedingungen und ermöglichen erst recht keine Übertragbarkeit auf Dienstleistungsgesellschaften und Digitalwirtschaften. Weitgehend blind ist er auch für die Begrenztheit der natürlichen Ressourcen und die Unersetzbarkeit wichtiger Rohstoffe, wie seltener Erden, für zahlreiche Schlüsseltechnologien der Gegenwart. Die grundlegende Paradoxie zwischen der zentralen Idee der individuellen Freiheit und der massiven Beschränkung des Selbstbestimmungsrechtes durch eine staatliche Arbeitskräfteauslenkung hätte er freilich erkennen können.

Die Zeitgemäßheit seiner Ausführungen liegt jedenfalls gewiss nicht in ihrem Potenzial, die ökonomischen Verhältnisse der Gegenwart zu erklären. Umso frappierender sind daher zunächst bestimmte Parallelen im Denken und Wirken Donald Trumps. Beide vertreten die Überzeugung, dass Politik primär von ökonomischen Zwecken und Mitteln bestimmt wird und als Kampf zwischen den wirtschaftlich erfolgreichsten Nationalstaaten – in Trumps Fall: vor allem den USA und China – gedacht werden muss. Beide kommen von hier aus zu der Schlussfolgerung, dass die Beanspruchung fremder Territorien – in Trumps Fall: Kanada, Grönland und der Panamakanal und ggf. auch der Gaza-Streifen – nicht zu legitimatorischer Verlegenheit führen muss. Beide – der Sohn eines sächsischen Webers am Existenzminimum und der New Yorker Multimilliardär behaupten, um die Arbeitsplätze, den Wohlstand und die Rechte der einfachen Bevölkerung bekümmert zu sein. Bei beiden gibt es jedoch einen innenpolitischen Umschlag hin zum Repressionsstaat – in Trumps Fall: durch Schwächung der Gewaltenteilung, ankündigungslose Massenentlassungen in der Verwaltung, Gefügigmachung der landeseigenen Big-Tech-Elite und unverhohlene Einschüchterung der Universitäten. Bei beiden dient überdies ein nationalistischer Essenzialismus als ideologisches Rückgrat für alles Weitere – in Trumps Fall: gestiftet aus dem Gedankengut der Alt-Right-Bewegung.

Dennoch wäre es zu kurz gegriffen, Fichte als Vordenker Trumps hinzustellen. Trump, machtpolitisch mit Fichte analysiert, steht alles andere als auf der richtigen Seite der Geschichte, sondern changiert mit seinem Kurs zwischen zwei Fehlformen der Regentschaft. Die erste davon besteht in einer nur auf Sicht fahrenden protektionistischen Wirtschaftspolitik mit ihrem Eskalationspotenzial vom Handelskrieg hin zur blutig ausgetragenen Geopolitik bei Verlust jeder Verbindlichkeit in den internationalen Beziehungen. Die zweite Fehlform ist ihr gegenüber noch weit problematischer, weil sie die politische Idee als solche ad absurdum führt, indem staatliche Machtausübung gar keiner wie auch immer gearteten gesellschaftlichen Gestaltungsidee mehr folgt, sondern nur noch bloßem „Spieltrieb“ und persönlichem Luststreben. Fichte, der sich in der Ausmalung seiner Vision des Vernunftstaates jeder deutlicheren Antwort auf die Frage der Regierungsform enthält, sieht in diesem Typus das dialektische Resultat einer Selbstzerstörung des Liberalismus aufdämmern, wenn er im abschließenden Kapitel der Handelsstaatsschrift notiert:

„Zufolge dieses Hanges will man nichts nach einer Regel, sondern alles durch List und Glück erreichen. Der Erwerb, und aller menschliche Verkehr soll einem Hazardspiele ähnlich seyn. Man könnte diesen Menschen dasselbe, was sie durch Ränke, Bevortheilungen anderer, und vom Zufalle erwarten, auf dem geraden Wege anbieten, mit der Bedingung, dass sie sich nun damit für ihr ganzes Leben begnügten, und sie würden es nicht wollen. Sie erfreut mehr die List des Erstrebens, als die Sicherheit des Besitzes. Diese sind es, die unablässig nach Freiheit rufen, nach Freiheit des Handels und Erwerbes, Freiheit von Aufsicht und Polizei. Freiheit von aller Ordnung und Sitte. Ihnen erscheint alles, was strenge Regelmässigkeit und einen festgeordneten, durchaus gleichförmigen Gang der Dinge beabsichtigt, als eine Beeinträchtigung ihrer natürlichen Freiheit.“

In seiner im Jahr 1987 erschienenen autobiografischen Programmschrift The Art oft he Deal hat Trump sein Selbstverständnis freimütig ganz ähnlich erläutert: Risikobereitschaft, Dominanzgebaren, Spontaneität und ein praxisbewährtes Repertoire an rhetorischen und emotionalen Hebeln dienen bei ihm nicht mehr dem Ziel, weiterhin Reichtum und Macht zu akkumulieren, sondern nur noch dem Vollzug einer auf sich selbst verweisenden und darüber hinaus sinnleeren Lebensform: „Ich mache es nicht wegen des Geldes. Ich habe genug, viel mehr, als ich jemals brauchen werde. Ich mache es, um es zu tun. Deals sind meine Kunstform. Andere malen wunderschöne Leinwände oder schreiben wunderbare Gedichte. Ich mache gern Deals, am liebsten große Deals. Das macht mir Spaß“.

Fast hört sich das so an, als hätte Trump bei Fichte das „absolute Ich“ studiert, aber dort aufgehört zu lesen, wo es um die wechselseitige Beziehung zu den Anderen geht.


Dr. Volker Haase ist Dozent für Philosophie/Ethik am Seminar für Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte (Gymnasien) sowie Lehrbeauftragter für Philosophiedidaktik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik (ZDPE).