Das Recht der Völker: Eine Blaupause für die Staatenanerkennung?

Von Adis Selimi (Düsseldorf)


Von allen Werken, die John Rawls zu Fragen der Gerechtigkeit vorgelegt hat, hat wohl kaum eines so viele Kontroversen hervorgerufen wie das 1999 erschienene The Law of Peoples (dt. Das Recht der Völker). In seiner Schrift verteidigt Rawls eine internationale Gerechtigkeitstheorie, die deutlich von anderen liberalen Positionen zu Fragen der internationalen Politik abweicht. Das zentrale Charakteristikum des von ihm konzipierten Rechts der Völker ist der Verzicht auf weitgehende Forderungen der internationalen Verteilungsgerechtigkeit. Stattdessen plädiert Rawls – in Anlehnung an bestehendes Völkerrecht – für einen Schutz basaler Menschenrechte und Toleranz gegenüber decent peoples (dt. achtsame Völker), die selbst nicht liberal verfasst sind, aber die basalen Menschenrechte der auf ihrem Gebiet lebenden Individuen schützen. Liberale und achtsame Völker bilden nach Rawls die internationale Gemeinschaft.

Zu diesen vergleichsweise zurückhaltenden Forderungen gelangt Rawls durch eine spezielle Adaption seiner Theorie des Urzustands: In diesem internationalen Urzustand entscheiden nicht Individuen über die Verteilung von Rechten und Ressourcen, sondern Völker, verstanden als historisch gewachsene Gruppen, die ein Interesse daran haben, ihre Unabhängigkeit durch internationale Konventionen abzusichern. Eben diese Struktur des internationalen Urzustandes wurde und wird von vielen Autorinnen und Autoren kritisiert, die Rawls‘ Theorie als Maßstab für innerstaatliche Gerechtigkeitskriterien akzeptieren. So haben beispielsweise Charles Beitz und Thomas Pogge dafür plädiert, den innerstaatlichen Urzustand der rawlsschen Theorie global auszuweiten und so weitgehende Hilfspflichten der wohlhabenden Länder gegenüber den ärmeren Staaten zu begründen. Christine Straehle hat in ihrem Beitrag die Kritik an Rawls und dem Recht der Völker treffend zusammengefasst.

Bei aller Kritik an Rawls‘ Position drängt sich aber die Frage auf, ob das Recht der Völker nicht doch einen Teilaspekt unserer Intuitionen zu Fragen der internationalen Gerechtigkeit adäquat erfasst. Ein vergleichsweise wenig beachteter Versuch, Rawls‘ Theorie in diesem Sinne neu zu interpretieren, stammt von Chris Naticchia. In seinem 2017 erschienen Buch A Law Of Peoples for Recognizing States: On Rawls, the Social Contract, and Membership in the International Community argumentiert er, dass das Recht der Völker – entgegen Rawls‘ eigener Konzeption – nicht als Theorie der internationalen Gerechtigkeit verstanden werden sollte, sondern zur Beantwortung der Frage dient, welche Staaten von liberalen Völkern als Mitglieder der internationalen Gemeinschaft akzeptieren sollten. Anders formuliert ist das Recht der Völker, nach Naticchias Interpretation, eine liberale Theorie der Staatenanerkennung.

Staatenanerkennung: Ein blinder Fleck der politischen Philosophie

Die Frage, welche Entitäten auf dem internationalen Parkett als Staaten anerkannt werden, ist von hoher völkerrechtlicher wie politisch-praktischer Relevanz. Nicht umsonst drehen sich viele der anhaltenden internationalen Konflikte um Fragen der Anerkennung: De-Facto-Regime wie Nordzypern, Somaliland oder Taiwan sind intern gänzlich unterschiedlich verfasst, weisen aber als Gemeinsamkeit auf, dass ihre Herrschaft aus verschiedenen Gründen international nicht anerkannt wird. Die Gründe dafür sind vielfältig, liegen aber nicht zuletzt in ungeklärten Territorialstreitigkeiten. Die Nicht-Anerkennung als Staat hat für die betroffenen Gebilde weitreichende Folgen. Sie sind diplomatisch oft weitgehend isoliert und nicht selten von Wirtschaftskreisläufen ausgeschlossen.

Trotz dieser gravierenden Einschnitte gibt es vergleichsweise wenig philosophische Reflexion zu der Frage, wann eine Entität als Staat anerkannt oder ihr die Anerkennung verweigert werden sollte.  Ein Grund hierfür mag in der ausführlichen Debatte um die Legitimität von Sezessionsansprüchen liegen, mit der Anerkennungsfragen wohl oft als beantwortet gelten. Nüchtern betrachtet ist es aber keineswegs so, dass Sezessionskonflikte oft oder auch nur in der Mehrheit der Fälle nach idealen Kriterien entschieden werden. Faktische Durchsetzung von Ansprüchen mit Androhung oder Anwendung von Gewalt oder die Schwäche politischer Institutionen zwingen uns zur Beantwortung der Frage, welche Regeln der Anerkennung unter nicht-idealen Bedingungen moralisch begründbar sind. Aus dezidiert philosophischer Perspektive haben dazu insbesondere Allen Buchanan und Chris Naticchia Stellung bezogen. Buchanan plädiert dabei für einen gerechtigkeitsbasierten Ansatz, demzufolge Entitäten nur als Staaten anerkannt werden sollten, wenn sie Minimalstandards der internen wie externen Gerechtigkeit erfüllen. Naticchia hingegen wirbt für einen pragmatischen Ansatz: Entitäten sind, unabhängig von der Erfüllung möglicher Minimalstandards, als Staaten anzuerkennen, wenn die Zusammenarbeit mit ihnen dem Ziel dient, den globalen Frieden und Gerechtigkeit näher zu kommen.

Eine rawlssche Grundlage für die pragmatische Theorie der Staatenanerkennung

Kann das Recht der Völker einen Beitrag zu der Frage leisten, wann die internationale Gemeinschaft Entitäten als Staaten anerkennen sollte? Zunächst identifiziert Naticchia die drei Elemente, die nach seinem Verständnis die zentralen Charakteristika des Rechts der Völker bilden. Das Recht der Völker ist demnach (1) das Ergebnis eines Gesellschaftsvertrages zwischen (2) kollektiven Akteuren, dessen Ergebnis (3) Prinzipien der internationalen Gerechtigkeit sind. Jede Kritik an Rawls‘ Theorie ziele darauf ab, eine dieser Komponenten durch eine andere zu ersetzen und so die Ergebnisse des Verfahrens anzupassen. Die liberale Kritik ersetzt demnach Kollektive durch Individuen und gelangt so zu einem Schema internationaler Gerechtigkeit, das deutlich näher an Rawls‘ Vorstellungen innerstaatlicher Verteilungsprinzipien liegt. Andere kritisieren wiederum methodologisch, dass der internationale Gesellschaftsvertrag kein adäquates Mittel darstelle, um Gerechtigkeitsprinzipien zwischen Völkern zu begründen, da es unter anderem an Möglichkeiten der Begründung interner Machtbeschränkungen mangele.

Naticchia akzeptiert die Kritik an Rawls‘ Theorie in ihrer ursprünglichen Form, hält aber dagegen, dass sowohl der Verzicht auf den internationalen Gesellschaftsvertrag als auch auf kollektive Akteure mit den Grundzügen einer rawlsschen Theorie des Völkerrechts nicht vereinbar seien. Insbesondere die Bedeutung von Kollektiven sieht Naticchia dabei als zentrales Merkmal einer solchen Konzeption an. Rawls habe in Reaktion auf die kommunitaristische Kritik akzeptiert, dass sich Prinzipien der Gerechtigkeit immer nur aus den gesellschaftlichen Zusammenhängen begründen lassen, aus denen sie erwachsen seien. Aus ebendiesem Grund sei es ihm ein Anliegen gewesen, nicht-liberale Staaten zu identifizieren, die als gleichberechtigte Akteure zu zählen haben.

Statt auf die Prinzipien (1) und (2) zu verzichten, plädiert Naticchia dafür, das Ziel der Theorie anzupassen, die Rawls im Recht der Völker formuliert. Ein interpretatives Einfallstor für diese Strategie bietet Rawls selbst an, wenn er davon spricht, dass es ihm nicht nur um Prinzipien internationaler Gerechtigkeit geht, sondern auch um die Ausrichtung der Außenpolitik liberaler Staaten. Welche Akteure müssen, wenn auch nicht-liberal verfasst, als gleichberechtigt gelten? Welche Entitäten sollten Schutz vor Intervention in die inneren Angelegenheiten genießen? Naticchia stellt zurecht fest, dass mit der Anerkennung als Staat völkerrechtlich weitreichende Befugnisse verbunden sind, und dass die Antwort der internationalen Gemeinschaft auf die Frage, welche Gruppen überhaupt als Staaten zählen, moralisch begründet werden muss.

Der Vorschlag sieht wie folgt aus: Wir konzipieren einen Urzustand, in dem die Völker sich die Frage stellen, welchen Entitäten das Recht auf Nichteinmischung zuteilwerden soll. In diesem internationalen Urzustand ähneln die Staaten stark den Akteuren hinter dem innerstaatlichen Schleier des Nichtwissens: Sie wissen beispielsweise nicht, wie mächtig oder groß sie sind oder ob sie eine individualistische oder kollektivistische Konzeption des Guten haben. Daneben sind sie ebenfalls risikoavers, weshalb sie – wie die Individuen in Rawls‘ Urzustand – eine Entscheidung über die Kriterien der Staatlichkeit auf Grundlage des Maximin-Prinzips treffen, also Regeln für die Staatenanerkennung formulieren, die für sie individuell im denkbar schlechtesten Fall das bestmögliche Ergebnis versprechen.

Im Ergebnis, so Naticchia, lässt sich so auch Rawls‘ Konzeption der achtsamen Völker begründen: Es ist für liberale wie nicht-liberale Völker rationaler, abweichende Gesellschaftsmodelle zu tolerieren, als das Risiko einzugehen, selbst aufgrund der eigenen Konzeption des Guten aus der internationalen Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden. Gleichzeitig werde man aber auch zu dem Schluss kommen, dass nicht allen Entitäten die Anerkennung verweigert werden kann, die basale Gerechtigkeitsstandards wie den Schutz der Menschenrechte nicht erfüllen. Man brauche eine hinreichend große Zahl an anerkannten Staaten, um die Handlungsfähigkeit der internationalen Gemeinschaft sicherzustellen. Die Akteure im Urzustand kommen so zu einer pragmatischen Theorie der Staatenanerkennung.

Naticchias Reinterpretation greift einen zentralen Aspekt der Motivation auf, die Rawls bei seiner Arbeit zur Philosophie der internationalen Politik zu berücksichtigen versucht: Wie weitreichend kann man liberale Prinzipien bei der Formulierung globaler Gerechtigkeitsgrundsätze voraussetzen? Welche nicht-liberalen Gesellschaftsentwürfe verdienen es, toleriert zu werden? Zur Beantwortung dieser Fragen bedarf es einer fundierten moralphilosophischen Auseinandersetzung mit den Regeln der Staatenanerkennung.


Über den Autor

Adis Selimi ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Praktische Philosophie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. In seiner Dissertation entwickelt er eine moralphilosophische Theorie der Staatenanerkennung. Kontakt: Homepage der HHU Düsseldorf, Twitter.