Rawls Realistische Utopie – oder: wann etwas, das in der Theorie richtig ist, auch zur Praxis taugt
Von Carola Freiin von Villiez (Bergen, Norwegen)
John Rawls gilt als einer der einflussreichsten Politischen Philosophen des späten 20. Jahrhunderts. Mit Blick auf den US-Amerikanischen Sprachraum ist dies auch nicht weiter verwunderlich, wird er doch damit kreditiert, mit seinem Werk A Theory of Justice 1971 die Praktische Philosophie aus ihrem Dornröschenschlaf wachgeküsst zu haben, in den sie durch den dort wirkmächtigen Utilitarismus versetzt wurde. Seine Theoriekonzeption der „Gerechtigkeit als Fairness“ für die institutionelle Grundstruktur einer Gesellschaft entwickelt er denn auch explizit als Gegenentwurf zum Utilitarismus. Dessen Annahme, dass sich die normative – moral- oder gerechtigkeitsbezügliche – Qualität einer Handlung oder Verfahrensweise an ihrer Tendenz zur Generierung des größten Gesamt- oder alternativ Durchschnittsnutzens bemisst, läuft auf eine problematische inhaltliche Vorbestimmung von Gerechtigkeit hinaus. Dem setzt er eine prozedurale – und daher potentiell anschlussfähigere – Bestimmung von Gerechtigkeit entgegen. Seine diesbezügliche methodologische Grundannahme lautet (sehr verkürzt), dass die fairen Rahmenbedingungen eines korrekt ausgeführten Entscheidungsverfahrens notwendig auch ein faires Ergebnis zeitigen. Die behauptete Inhaltsneutralität seines Verfahrens ist schon früh angezweifelt worden, da seine Konzeption angeblich einem „metaphysischen Liberalismus“ aufruhe. Ungeachtet aller Kritik kam sein Entwurf dennoch als ein Paukenschlag, der sich aufgrund seiner grundsoliden Stringenz im Anglo-Amerikanischen Wissenschaftskontext nicht ignorieren ließ. Eine entscheidende Rolle spielte dabei zweifellos auch der Umstand, dass das von Rawls projizierte faire Ergebnis (s)eines fairen Bestimmungsverfahrens eindeutig sozialstaatsaffine Veränderungen für eine allenfalls in Keimen sozialstaatliche US-Amerikanische Gesellschaft einforderte. Pro oder Contra – jeder politikphilosophische Entwurf musste sich fortan an Rawls Thesen abarbeiten.
Dass Rawls Theorie insbesondere auch im deutschen Sprachraum so große Beachtung gefunden hat, könnte im obigen Zusammenhang dagegen eher verwundern; denn, dass „Gerechtigkeit“ nicht mit bloßer Nutzenmaximierung gleichzusetzen ist (oder sich zumindest in dieser nicht erschöpft), wurde in der Kontinentaleuropäischen Philosophie wohl nur selten ernsthaft bestritten. Ein (nach, grob gesehen, vier unterschiedlichen Modellen) bereits seit langer Zeit sozialstaatlich geprägtes Europa benötigte eigentlich keine diesbezügliche Belehrung. Die Durchschlagkraft seines Werks verdankt sich aber eben nicht nur inhaltlichen Vorgaben, sondern insbesondere auch seinen methodologischen Setzungen, insbesondere der Idee des Überlegungsgleichgewichts, die Rawls aus der theoretischen Philosophie Putnams entlehnte und für die praktische Philosophie fruchtbar gemacht hat. Sie beruht hier im Wesentlichen auf zwei Elementen:
1. Der Urzustand (original position). Mit dieser Bezeichnung spielt Rawls bewusst auf die Figur des sogenannten „Naturzustands“ an. Letztere ist ein Element aus dem Instrumentarium der Gesellschaftsvertragstheorie,[1] welche in der Europäischen Philosophie der Neuzeit und der Aufklärung als Begründungsfigur für Notwendigkeit, Zweck und legitime Reichweite von politischer Herrschaft systematisch entwickelt wurde. Man denke an Hobbes Leviathan, Lockes Second Treatise on Government, Rousseaus Du contrat social oder Kants Idee eines ursprünglichen Vertrages in der Rechtslehre oder Zum ewigen Frieden. In Anlehnung hieran entwirft Rawls den Urzustand zur Modellierung einer hypothetischen Situation der Unparteilichkeit, die sich aus der strukturellen Machtgleichheit der Akteure ergibt, und so faire Prinzipienentscheidungen bezüglich der gerechten Grundstruktur ihrer faktisch existierenden Gesellschaft liefern soll. Der Urzustand ist, mit anderen Worten, ein Instrument zur normativen Überprüfung des faktischen status quo. Durch verschiedene Situationsparameter wird die (im Einklang mit Setzungen der Wirtschaftswissenschaften postulierte) reine Rationalität der Akteure dabei im Sinne einer aus Kants praktischer Vernunft geborenen Universalisierbarkeit normativ qualifiziert.
2. Das zweite Element ist das der moralischen Gefühle, welche in sogenannten wohlüberlegten Urteilen (considered judgements) zum Ausdruck kommen. Hierunter versteht Rawls emotiv bereinigte und, qua insofern normativ qualifiziert, (gesellschafts-)allgemeinakzeptable Urteile darüber, was „uns“ – d.i. den Rezipienten seiner Theoriekonzeption – seiner Annahme nach als gerecht=fair, gilt. Zusätzlich zur Rechtfertigung seiner bevorzugten Gerechtigkeitsprinzipien für die wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen aus dem abstrakt-hypothetischen Urzustand will er hierdurch eine in Raum und Zeit verortete, ergo faktisch überprüfbare, konkrete Erklärung für die Realitätsnähe eben dieser Prinzipien liefern.
Die Komplexität von Rawls Methodenmodell des Überlegungsgleichgewichts ist insbesondere im amerikanischen Sprachraum bereits früh kritisch untersucht worden.[2] Dennoch fällt auf, dass bei Rekursen auf seine Theorie regelmäßig die Figur des Urzustands – und dabei vorrangig der sogenannte „Schleier des Nichtwissens“ – überbetont wurde und wird,[3] obwohl dieser lediglich ein Element des Überlegungsgleichgewichts darstellt. Außen vor bleibt dagegen zumeist das der Schottischen Aufklärung entlehnte Gegenstück der (bei Adam Smith ähnlich wie bei Rawls normativ qualifizierten)[4] moralischen Gefühle – was paradoxerweise zu einem eklatanten Überlegungsungleichgewicht in der Bewertung führt. Letzterem frönen nicht nur kosmopolitisch-liberale Utopisten, die den Urzustand als universalistisches Anwendungsprinzip verabsolutieren, um hieraus allerlei weitreichende politische Forderungen nach globaler Umverteilung materiellen Wohlstands abzuleiten (wohingegen Rawls den Urzustand für die globale Ebene, Kants diesbezüglichen dezidiert normativen Gründen folgend,[5] als zweistufiges Verfahren konzipiert hatte). Auch Kommunitaristen sowie Anhänger des Politischen Realismus, die seine Methode auf eine abstrakte Unparteilichkeitsoperation reduzieren und auf dieser Grundlage für praxisuntauglich erklären, sehen hierdurch ihre Unterstellungen weiter bestätigt.[6] Der Urzustand ist aber eben weder das alleinige noch das allausschlaggebende – und nicht einmal das übergeordnete – Prinzip in Rawls bewusst als dynamisch konzipiertem Überlegungsgleichgewicht, sondern vielmehr gleichberechtigter Gegenspieler der moralischen Gefühle. So fehlinterpretieren oder unterschätzen beide Seiten Rawls wichtigen methodologischen Beitrag zur politischen Philosophie, der sich einer Vereinigung von Kants und Smiths Theorien verdankt.
Seine methodologische Affinität zu Kant hat Rawls selbst wiederholt betont. Smiths Moraltheorie erteilt er hingegen erstaunlicherweise eine Abfuhr. Seine Ausführungen deuten darauf hin, dass er sie aufgrund von begrifflichen Gemeinsamkeiten fälschlicherweise als eine bloße Variante von Humes Moraltheorie abtut – eine bedauerliche Fehleinschätzung, auf die hier aber nicht weiter eingegangen werden soll. Landläufig werden die beiden zwar gerne zu Gegenpolen stilisiert, wobei der „Vernunfttheoretiker“ Kant als den intellektuellen Aspekt der menschlichen Natur verabsolutierender Rationalist karikiert wird, während der „Sentimentalist“ Smith als ein deren sinnlichen Aspekt zum qualifizierenden Alleinkriterium von Moralurteilen erklärender Naturalist überzeichnet wird. Tatsächlich unterscheiden sich Kant und Smith indessen aber eher in ihrem Analyseziel bezüglich dieser beiden Aspekte. Dem gewählten Ausgangspunkt folgend, bedingt dies denn natürlich auch unterschiedliche methodologische Grundansätze. Smith betont mit seiner – explizit als Gegenentwurf! zum „Moralsinn“ (moral sense) entwickelten – Theorie der „moralischen Gefühle“ (moral sentiments), dass eine moralphilosophische (oder auch politik- oder rechtsphilosophische) Konzeption für endliche Wesen nicht ausschließlich im intellektuellen Olymp verweilen darf. Sie muss darüber hinaus auch aufzeigen, wie sie tatsächlich zu ihrer eigenen Einhaltung motivieren kann, sowie dass sie dies faktisch auch tut. Dementsprechend trägt sein moralphilosophisches Werk, The Theory of Moral Sentiments (1759), auch in weiten Teilen die Züge einer moralpsychologischen und -soziologischen Observation (womit Smith tatsächlich als einer der geistigen Begründer dieser Disziplinen gelten kann). Mit seinen – durch aktuelle Studien im Nachhinein auch empirisch bestätigten – detailreichen Beobachtungen demonstriert er, dass (und wie) die onto- und phylogenetische Moralentwicklung der Menschen sowie deren alltägliches Moralverhalten mit (s)einer normativen Theorie der sympathetischen Unparteilichkeit zusammenstimmt. Wenngleich er sozusagen vom „anderen Ende“ her anhebt, so beansprucht aber auch Kant explizit, mit seiner begriffsanalytischen Untersuchung nichts zu „erfinden“, sondern auf der Grundlage „unseres“ alltagsmoralischen Sprachgebrauchs (etwa des Pflichtbegriffs) schlichtweg eine vernunftsystematische Analyse moralischer Praxis vorzulegen (vgl. etwa AA, SF VII: 89). Beide zielen mit ihren Theorien darauf ab, menschliches Moralverhalten bzw. -verständnis zu analysieren und ihre diesbezüglichen Einsichten in einer schlüssig durchargumentierten, normativen Moralkonzeption für sinnlich-intellektuelle Wesen zu synthetisieren. Sie präsentieren sozusagen zwei Seiten ein und derselben Medaille. Darüber hinaus extrapolieren sie von den Begriffen und Prinzipien einer bereits individual- und gesellschaftswirksamen Moralpraxis auf diesbezügliche Möglichkeitshorizonte. Indem sie aufzeigen, dass die Grenzen des faktisch Akzeptierten nach einem reflektierten Verständnis der Dinge tatsächlich bereits beträchtlich weitergesteckt sind als von Ihren Gegnern behauptet wird, verbinden sie Utopismus und Realismus im Sinne moralischen und politisch-rechtlichen Fortschritts. Geläufiges Beispiel hierfür sind Kants Hypothesen in Zum ewigen Frieden.
Was das Alles nun eigentlich mit Rawls zu tun hat? Sehr viel! Auch er nimmt sich, einer Kombination aus Kants und Smiths Vorgaben folgend, gewissermaßen den Gemeinspruch zu Herzen, dass Theorie und Praxis nicht fundamental einander widerstreiten dürfen, sondern was in der Theorie richtig ist, sich auch in einer normativ qualifizierten Praxis bewähren können muss. Insofern lässt sich denn auch Rawls Methodologie auf Kant und Smith nicht nur zurückführen. Sie erhellt vielmehr ihrerseits auch wieder deren Theorien, insbesondere ihren aus methodologischer Sicht umstrittenen Gebrauch von Beispielen und Rekursen auf die Geschichte. Alle drei Autoren folgen – implizit oder explizit – derselben Programmatik – einer Programmatik, die Rawls unter dem Titel „Realistische Utopie“ geradezu perfekt auf den Begriff gebracht hat.
Den programmatischen Begriff „Realistische Utopie“ führt Rawls 1999 in The Law of Peoples ein, um mit seiner Konzeption den spekulativen Utopismus des Kosmopolitischen Liberalismus mit dem analytischen Empirismus des Politischen Realismus methodologisch zu versöhnen. (S)eine realistische Utopie weist sich dadurch aus, dass sie zwischen den seitens des Politischen Realismus behaupteten Grenzen des faktisch Machbaren und den seitens des Kosmopolitischen Utopismus behaupteten Grenzen des normativ Angemessenen vermittelt. Im Zuge dessen werden Beider Grenzen in Richtung eines dynamischen Überlegungsgleichgewichts verschoben. Rawls lotet, mit anderen Worten, auf der Grundlage eines reflektierten Verständnisses moralischer und politisch-rechtlicher Alltagspraxis den aktuellen Möglichkeitshorizont mit Blick auf das aus, was in einer vernunftliberalen Lebenswelt nicht nur normativ angemessen ist, sondern gleichzeitig auch faktisch machbar. Dabei hat er offenbar selbst nicht erkannt, dass dieser das fundamentale Anliegen seiner Völkerrechtskonzeption charakterisierende Begriff sein Gesamtprogramm schlechthin auf den Punkt bringt – dass das zugrundeliegende Prinzip eigentlich bereits den metamethodologischen Rahmen für seine Idee des Überlegungsgleichgewichts in A Theory of Justice und Political Liberalism (1993) vorgibt, den er unter anderen Vorzeichen auch in The Law of Peoples weiterführt.
Seine innergesellschaftliche Konzeption appelliert an den individuellen Leser, dessen Weltbild und Lebensrealität durch die gewachsenen politisch-rechtlichen, sozio-ökonomischen sowie kulturellen Traditionen des westlich-abendländischen Kulturkreises geprägt sind, und sich aus den diesen zugrundeliegenden moralischen Gefühlen speisen. Während dabei durch den Urzustand die kontrafaktische Akzeptabilität von Rawls strukturellen Gerechtigkeitsprinzipien normativ bewiesen wird, belegt die Reklamation der für ebenjenen Leser durch Rawls aufgedeckten wohlüberlegten Urteile – quasi in einem performativen Aneignungsakt – deren faktische Akzeptanz. Prüfstein für die Übereinstimmung von Prinzipien und moralischen Gefühlen ist hier also die faktische Zustimmung aus der internen Perspektive des individuellen Teilnehmers an den diesbezüglichen Praktiken.[7] Insofern jener Leser nun aber nicht in tatsächlicher Interkommunikation mit Rawls oder seinem Werk steht, kann diese Zustimmung von Rawls natürlich zunächst einmal nur postuliert werden, und damit ein theoretisches Überlegungsgleichgewicht hergestellt werden. Um Einwände gegen dessen spekulative Natur zu entkräften, lässt sich Rawls seine Annahme daher auch noch aus der externen Vogelperspektive eines Betrachters bestätigen. Zu diesem Zweck beruft er sich auf die Tiefenprinzipien jener wohletablierter Moraltheorien, die über die (oben genannten) Traditionen das Weltbild und die Lebensrealität des angesprochenen Lesers prägen (wobei wie stets gilt: Ausnahmen bestätigen die Regel). Die Zusammenstimmung von interner und externer Perspektive verleiht Rawls Behauptung eines entsprechenden Überlegungsgleichgewichts einen höheren Grad an Objektivität. Die nachweisliche Wirksamkeit der überlegungsgleichgewichtigen Theorie in der Verfahrenspraxis einer – unserer – Gesellschaft dokumentiert, dass seine Konzeption nicht nur im Sinne abstrakter Rechtfertigung kontrafaktisch akzeptierbar ist, sondern (zumindest in wesentlichen Teilen) darüber hinaus faktisch bereits akzeptiert wird – und dies nicht nur im Sinne von Lippenbekenntnissen zu grauer Theorie, sondern als Praxis.
Für den zwischengesellschaftlichen Bereich verfährt Rawls nach dem gleichen Muster. Ansprechpartner hierbei sind nicht Individuen, sondern kollektive Personen – die Völker des westlich-liberalen Rechts- und Moralkulturkreises. Dem dominierenden Paradigma des Politischen Realismus – und dessen Widersacher dem Kosmopolitischen Utopismus – setzt er seine eigene realistisch-utopische, vernunftliberale Konzeption als alternativen Leitfaden für deren Außenpolitik entgegen. Auch hier wird durch das Verfahren des Urzustands zunächst die kontrafaktische Akzeptabilität von Rawls strukturellen – in diesem Fall – Völkerrechtsprinzipien normativ bewiesen, bevor (wieder quasi in einem performativen Aneignungsakt) in Form der praktischen Reklamation der durch Rawls aufgedeckten politisch-rechtlichen Prinzipien und den diesen zugrundeliegenden moralischen Gefühlen deren faktische Akzeptanz belegt wird. Prüfstein für die Praxistauglichkeit dieses Leitfadens ist auch hier zunächst wieder die faktische Zustimmung aus der internen Perspektive des kollektiven Teilnehmers an der entsprechenden rechts- und moralkulturellen Praxis. Offenkundig steht auch in diesem Fall der Rezipient, d.i. ein durch den Leser repräsentiertes politisch-rechtliches Kollektiv, nicht in tatsächlicher Interkommunikation mit Rawls oder seinem Werk, und kann die Zustimmung von Rawls daher zunächst einmal wieder nur im Sinne eines theoretischen Überlegungsgleichgewichts postuliert werden. Über die Teilnehmerperspektive hinaus wird seine diesbezügliche Spekulation daher auch hier wieder zusätzlich aus der Vogelperspektive eines externen Betrachters bestätigt. Zu diesem Zweck ruft Rawls die Völker der westlich-liberalen Welt in den Zeugenstand, um ihre Verpflichtung auf die von ihm vorgeschlagenen Völkerrechtsprinzipien bestätigen zu lassen. Auch hier geschieht dies wieder nicht durch „Hörensagen“, sondern durch schriftlich dokumentierten Nachweis. Letzterer findet sich zum einen in positivrechtlich bewehrten Grundsätzen des Völkerrechts (von denen einige wenig Umstrittene bereits einen Platz in Rawls Völkerrechtsprinzipienliste haben). Zum anderen zitiert Rawls Friedensverträge wie etwa den interkonfessionellen Friedensschluss der beiden Christlichen Kirchen sowie bilaterale Kooperationsabkommen zwischen den Völkern, die deren besondere Affinitäten untereinander manifestieren. Auch hier dokumentiert die reale Wirksamkeit der moralischen Gefühle in der Verfahrenspraxis der Völkergesellschaften, dass seine Theoriekonzeption nicht nur im Sinne abstrakter Rechtfertigung kontrafaktisch akzeptierbar ist, sondern (zumindest in wesentlichen Teilen) darüber hinaus faktisch bereits akzeptiert wird – und dies nicht nur im Sinne grauer Theorie, sondern als Verfahrenspraxis.
In beiden Bezugsgegenständen – innergesellschaftlichen Beziehungen und zwischengesellschaftlichen Beziehungen – lässt sich so ein und derselbe Verfahrensmechanismus ausmachen, wobei sich, den jeweiligen Situationsparametern folgend, lediglich die konkreten Prüfsteine für die faktische Bewährung seiner Theorie ändern. Während man im Hinblick auf die von Rawls postulierte Übereinstimmung von Prinzipien und moralischen Gefühlen im innergesellschaftlichen und zwischengesellschaftlichen Fall von einem theoretischen Überlegungsgleichgewicht sprechen könnte, könnte man die nachweisliche Manifestation dieses theoretischen Überlegungsgleichgewichts in der lebensweltlichen Moral-, Politik- und Rechtspraxis als ein praktisches Überlegungsgleichgewicht bezeichnen. Dieses praktische Überlegungsgleichgewicht ist ein punktaktueller Existenznachweis seiner Realistischen Utopie in der Geschichte. Das Bestreben, ihre jeweilige Konzeption als genuin realistische Utopie auszuweisen – als eine Konzeption, die nicht nur in der Theorie stimmig ist, sondern darüber hinaus auch zur Praxis taugt, würde – und zwar bei Rawls ebenso wie bei Kant und bei Smith – deren Verweise auf geschichtliche Beispiele und Prozesse methodologisch sauber in die jeweilige Theoriekonzeption integrieren; und geschichtliche Nachweise des Zusammentreffens von Theorie und Praxis in ihren Konzeptionen würden den systematischen Extrapolationen zusätzlich Glaubwürdigkeit verleihen. So ist es doch gerade dieses „Praktisch-Werden“ der Vernunft in den mannigfaltigen zwangsfreien Interaktionen der Menschen und der Völker in der Geschichte, welches – gleichwohl immer nur aus dem Rückblick der Zeit – gelungenen philosophischen Entwürfen jenen ewigen Status verleiht, den weder bloße Utopien mit ihrem inhärenten Hang zur Realisierung ihrer gesellschaftstechnischen Ambitionen durch Gewaltanwendung, noch bloße Realmachtanalysen mit ihrem Alternativloserklären des status quo je werden erreichen können.
Carola Freiin von Villiez war o. Professorin für Rechts- und Sozialphilosophie an der Universität Duisburg-Essen, leitete das Ethikprogramm der Universität Oslo und ist derzeit o. Professorin an der Universität Bergen (N). Arbeitsgebiete: Rechtsphilosophie, Politische Philosophie, Moralphilosophie der Aufklärung. Publikationen (Ausw.): Zwischen Rechten und Pflichten – Kants ›Metaphysik der Sitten‹ (hrsg. mit J.-Chr. Merle). Berlin: De Gruyter 2021; „Staatliche Souveränität und Selbstbestimmung der Völker bei Kant und im Völkerrecht“. In: Freiin von Villiez / Merle 2021); „Politische Konstruktion einer realistischen Utopie zwischen Völkern“. In: H. Hahn/R. Mosayebi (Hrsg.): John Rawls: The Law of Peoples. Berlin: De Gruyter 2019; “Emotional configuration and intellectual duty: Smith´s democratic concept of morality”. In: Journal of Scottish Philosophy 16.3. Edinburgh: Edinburgh University Press 2018; “Adam Smith’s story of moral progress”. In: The International Adam Smith Review 6, London, New York: Routledge (2011); “Double-standard – naturally! Smith and Rawls: A Comparison of Methods”. In: L. Montes/E. Schliesser (eds): New Voices on Adam Smith, London, New York: Routledge 2006.
[1] Exemplarisch Kersting, W. (1994): Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags. Darmstadt: WBG.
[2] Exemplarisch Daniels, N. (1979): „Wide Reflective Equilibrium and Theory Acceptance in Ethics“. In: The Journal of Philosophy 76. Columbia, 256-282.
[3] Dieser metaphorische Schleier verbirgt den hypothetischen Akteuren in der rationalen Entscheidungssituation des Urzustands ihre je eigenen persönlichen Merkmale zwecks Ausschluß von Kontingenz.
[4] Vgl. Freiin von Villiez (2006): “Double-standard – naturally! Smith and Rawls: A Comparison of Methods”. In: L. Montes/E. Schliesser (Hrsg.): New Voices on Adam Smith, London, New York: Routledge.
[5] Hierzu auch Freiin von Villiez (2021): „Staatliche Souveränität und Selbstbestimmung der Völker bei Kant und im Völkerrecht“. In: Merle, J.-Chr. / Freiin von Villiez, C. (Hrsg.): Zwischen Rechten und Pflichten: Kants Metaphysik der Sitten. Berlin: De Gruyter.
[6] Hierzu etwa Freiin von Villiez (2005): Grenzen der Rechtfertigung: Internationale Gerechtigkeit durch Transnationale Legitimation. Mentis Verlag.
[7] So etwa: Rawls, J. (1971): A Theory of Justice. Cambridge: HUP, 44: “There is a definite if limited class of facts against which conjectured principles can be checked, namely, our considered judgments in reflective equilibrium.” Oder: “Justice as fairness is a theory of our moral sentiments as manifested by our considered judgments in reflective equilibrium.” A.a.O., 128.