Vier offene Fragen über soziale Gerechtigkeit

Von Thomas Pogge (New Haven, USA)


Die von John Rawls 1971 vorgelegte Gerechtigkeitskonzeption wirft vier wichtige Grundsatzfragen auf, hinsichtlich derer wir in den letzten 50 Jahren kaum Fortschritte gemacht haben. Diese Fragen sollen hier von den vielen Detailproblemen seiner Theorie abgelöst und so genau, kurz und allgemein wie möglich formuliert werden.

Vorausgesetzt wird dabei Rawls’ thematischer Fokus auf Gerechtigkeit als Eigenschaft der institutionellen Ordnung einer Gesellschaft, sowie auch sein heute weitverbreiteter normativer Individualismus, demzufolge konkurrierende institutionelle Designs danach zu bewerten sind, wie sie die individuellen Mitglieder dieser Gesellschaft behandeln. Rawls veranschaulicht diesen individualistischen Ansatz in seinem Gedankenexperiment des Urzustands. Seine zentrale These ist, dass wir hier und heute für unsere Gesellschaft genau das öffentliche Gerechtigkeitskriterium befürworten sollten, auf das fiktive Parteien im Urzustand sich rational einigen würden. Dabei malt er sich diesen Urzustand so aus, dass jede beteiligte Partei ausschließlich die Interessen eines menschlichen Individuums vertritt, das ihr ganzes Leben in der betreffenden Gesellschaft verbringen wird. Ein solcher Repräsentant bewertet alternative institutionelle Designs aufgrund des Verteilungsprofils von relevanten Gütern und Lasten, das sie jeweils hervorbringen würden. Ein Verteilungsprofil ist eine Konstellation von Positionen, und jede Position ist eine Konstellation von relevanten Gütern und Lasten, die einem Gesellschaftsmitglied im Laufe seines Lebens zufallen. Aus Rawls’ Gedankenexperiment ergibt sich also, dass Gerechtigkeit allein vom Verteilungsprofil abhängt. Die Parteien interessieren sich für die Güter und Lasten, die Mitglieder unter verschiedenen Designs der institutionellen Ordnung zu erwarten hätten, und diese hängen allein von der Konstellation von Positionen ab, die ein jedes Design produzieren würde.

Nun wird dieses Verteilungsprofil nicht nur vom institutionellen Design („Spielregeln“) der Gesellschaft, sondern auch von Umweltfaktoren wie Klima, Krankheitserregern und Bodenschätzen beeinflusst, sowie auch von Eigenschaften der Mitglieder wie etwa ihrem Fleiß und Unternehmergeist, ihren natürlichen Anlagen und Anfälligkeiten, ihrer Kultur und Religion, ihren Werten und Gewohnheiten. Deshalb hängt die Bewertung eines institutionellen Designs auch davon ab, wie gut es an andere Kausalfaktoren angepasst ist und wie es manche dieser anderen Faktoren beeinflusst – z.B. Rechtstreue motiviert und sexistische Verhaltensmuster kompensiert und abbaut.

1. Güter und Lasten

Die institutionelle Ordnung regelt die Verteilung sozialer Güter und Lasten – von Rechten, Pflichten, Privilegien, Chancen, Einkommen, Besitz usw. – und hat dadurch einen erheblichen Einfluss auf die Lebensqualität aller Gesellschaftsmitglieder. Allerdings wird diese Lebensqualität auch von nicht-sozialen Gütern und Lasten beeinflusst, zum Beispiel von den Glücks- und Unglücksfällen, die ihnen im Leben widerfahren mögen, sowie auch von ihren genetischen Anlagen, die ihre Intelligenz, Größe, Attraktivität, Krankheitsanfälligkeit und Lebenslaune mitbestimmen. Die erste offene Frage ist, ob die für Gerechtigkeitsurteile maßgeblichen Verteilungsprofile auch nicht-soziale Güter und Lasten miteinschließen sollten. Diese entziehen sich zwar gesellschaftlicher Kontrolle, aber man kann die institutionelle Ordnung dennoch so einrichten, dass die Verteilung sozialer Güter und Lasten der Verteilung nicht-sozialer Güter und Lasten angepasst ist.

Die Frage lässt sich mit einem auf Amartya Sen zurückgehenden Beispiel illustrieren. Mitglieder haben unterschiedliche Metabolismen, die ihren Ernährungsbedarf beeinflussen. Sollte eine egalitäre Gerechtigkeitskonzeption soziale Institutionen vorziehen, die solche natürlichen Unterschiede sozial kompensieren? Eine positive Antwort kann daran appellieren, dass Mitglieder mit ineffizienten Metabolismen dafür nicht verantwortlich sind – es deshalb ungerecht wäre, wenn sie, um dasselbe Ernährungsniveau wie ihre Mitbürger zu erreichen, mehr arbeiten müssten. Im Gegenzug könnten allerdings diese Mitbürger ebenfalls eine solche Verantwortung abstreiten und sich dagegen verwahren, von der Gesellschaft dazu gezwungen zu werden, den höheren Ernährungsbedarf anderer zu subventionieren.

Interessanterweise steht Rawls auf beiden Seiten dieser Debatte. Seine als öffentliches Gerechtigkeitskriterium vorgeschlagenen zwei Prinzipien konzentrieren sich ausschließlich auf die Verteilung sozialer Güter und Lasten, lassen bei der Bewertung alternativer Designs der institutionellen Ordnung also alle Informationen über die Distribution anderer Güter und Lasten beiseite. Andererseits gibt Rawls den Parteien im Urzustand zu verstehen, dass ihre Mandanten drei höherrangige Interessen haben, einschließlich das Interesse, bei der Verfolgung selbstgewählter Zwecke (einer „Konzeption des Guten“) Erfolg zu haben. Wie erfolgreich Gesellschaftsmitglieder darin sein werden, hängt offensichtlich auch von Glücks- und Unglücksfällen und von ihrer Ausstattung mit nicht-sozialen Gütern und Lasten ab. Die Parteien würden sich deshalb nicht auf die von Rawls selbst vorgeschlagenen zwei Prinzipien einigen, sondern eher auf ein Gerechtigkeitskriterium, das von Glück oder Natur benachteiligte Mitglieder bei der Verteilung sozialer Güter begünstigt. Mit solch einem kompensierenden Gerechtigkeitskriterium schützen sie ihre Mandanten vor dem Risiko eines dreifach belasteten Schicksals, stellen sicher, dass diejenigen, die von der Natur stiefmütterlich ausgestattet wurden und dazu noch viel Pech im Leben haben, nicht zusätzlich auch noch bei der Verteilung sozialer Güter und Lasten am unteren Ende landen.

2. Zuteilung gehobener Positionen

Die Qualität des Verteilungsprofils wird davon beeinflusst, wie die Gesellschaftsmitglieder zu ihren Positionen kommen. Dabei können alle möglichen Eigenschaften dieser Menschen zum Tragen kommen: Intelligenz, Körperkraft, Aussehen, Geschicklichkeit, Charisma, Engagement, Fleiß, Religion, Hautfarbe, Geschlecht, Elternhaus, usw. Wenn Gerechtigkeit allein vom Verteilungsprofil abhängt, dann sollten diese Eigenschaften von Mitgliedern die von ihnen erreichte Position genau dann und insoweit beeinflussen, wie das der Optimierung des Verteilungsprofils dient. Eine Favorisierung besonders intelligenter und gewissenhafter Bürger bei der Vergabe von Studienplätzen und Führungspositionen ist gerecht, weil sie das Verteilungsprofil verbessert. Eine Favorisierung männlicher Mitglieder ist ungerecht, denn sie verschlechtert das Verteilungsprofil dadurch, dass besser geeignete Frauen von weniger geeigneten Männern verdrängt werden.

Hier kann man einwenden, dass in manchen Gesellschaften Männer für bestimmte Spitzenpositionen wirklich allgemein besser geeignet sind infolge weitverbreiteter Vorurteile gegen weibliche Piloten, Chirurgen, Generäle und Politiker. Auf diesen Einwand lässt sich plausibel antworten, dass Gerechtigkeit in solchen Fällen eher den Abbau der betreffenden Vorurteile verlangt, weil dadurch langfristig ein besseres Verteilungsprofil erreicht wird.

In vielen Gesellschaften spielt das Elternhaus eine wichtige Rolle beim Erreichen gehobener Positionen. Dient das der Optimierung des Verteilungsprofils? Die Antwort ist kompliziert. Einerseits verschlechtert eine Favorisierung derer, die in privilegierten Haushalten aufwachsen, das Verteilungsprofil dadurch, dass manche von ihnen besser geeignete Menschen, die aus ärmeren Elternhäusern stammen, verdrängen. Andererseits wird das Verteilungsprofil aber auch dadurch verbessert, dass alle Mitglieder, die ihren Kindern bessere Positionen sichern wollen, stärkere Anreize haben, durch hohe Leistungen eine führende Stellung zu erlangen. Um das gerechte Design der institutionellen Ordnung zu finden, muss man diese beiden gegenläufigen Wirkungen empirisch ermitteln und dann eine Regelung der Vergabe gehobener Positionen institutionalisieren, die das Verteilungsprofil optimiert.

Diese Konklusion wirft allerdings die Frage auf, ob Gerechtigkeit wirklich allein vom Verteilungsprofil abhängt. Ist es nicht an und für sich ungerecht, wenn die Lebenschancen von Menschen durch die privilegierte Position ihrer Eltern deutlich verbessert werden? Die zweite offene Frage ist also, ob Gerechtigkeit allein vom Verteilungsprofil abhängt oder ob faire soziale Mobilität eine davon unabhängige Forderung der Gerechtigkeit ist.

Auch in dieser Frage steht Rawls auf beiden Seiten. Sein Gerechtigkeitskriterium enthält ein starkes Prinzip fairer Chancengleichheit, das ausdrücklich fordert, dass „Menschen mit gleichen Fähigkeiten und gleicher Bereitschaft, sie einzusetzen, gleiche Erfolgsaussichten haben sollen, unabhängig von ihrer anfänglichen gesellschaftlichen Stellung. In allen Teilen der Gesellschaft sollte es für ähnlich Begabte und Motivierte auch einigermaßen ähnliche kulturelle Möglichkeiten und Aufstiegschancen geben“ (TG §12, 93). Andererseits formuliert Rawls die Aufgabe der Parteien im Urzustand so, dass sie diese Forderung ablehnen würden. Den Parteien liegt allein am Verteilungsprofil, also an den Gütern und Lasten, die ihnen unter verschiedenen Designs der institutionellen Ordnung zufallen würden. Rawls zufolge identifizieren sie sich dabei besonders mit der mit jedem dieser Designs assoziierten niedrigsten Position. Sie werden keine Verschlechterung dieser niedrigsten Position (und des ganzen Verteilungsprofils) in Kauf nehmen nur um eine Favorisierung der Kinder privilegierter Eltern zu vermeiden.

3. Kausalpfade

Im Gedankenexperiment des Urzustands niedergelegt ist Rawls’ zentrale These, dass wir genau das Gerechtigkeitskriterium akzeptieren sollten, auf das fiktive Parteien im Urzustand sich rational einigen würden. Dabei bestimmt er den Urzustand so, dass jede Partei ausschließlich die Interessen eines menschlichen Individuums vertritt, das ihr ganzes Leben in der betreffenden Gesellschaft verbringen wird. Sein zentrales Gedankenexperiment läuft also auf eine Gerechtigkeitskonzeption hinaus, die die Interessen der Betroffenen verabsolutiert. Eine solche Konzeption ist eine Spielart des Konsequentialismus, die besagt, dass die institutionelle Ordnung so einzurichten ist, wie es für ihre individuellen Teilnehmer am besten ist. Wir haben bereits zwei Vorstöße kennengelernt, von einer solchen Konzeption abzuweichen. Einer will relevante Verteilungsprofile ausschließlich auf soziale Güter und Lasten beschränken. Der andere will als unabhängige Forderung der Gerechtigkeit einen Einfluss des Elternhauses auf die Zuteilung von Positionen vermeiden. Jetzt kommt eine dritte Herausforderung.   

In der Individualethik wird der Konsequentialismus von vielen abgelehnt mit Gegenbeispielen, die Kausalpfade ins Spiel bringen, insbesondere die Unterscheidung zwischen Handlungen und Unterlassungen. Soll man einen Unschuldigen töten, wenn das die einzige Möglichkeit ist, zwei anderen Unschuldigen das Leben zu retten? Eine bejahende Antwort liegt im Interesse der Betroffenen, deren Überlebenschancen sich dadurch verbessern. Trotzdem sind viele der Überzeugung, dass Schäden, die eine Person verursacht, ceteris paribus schwerer wiegen als solche, die sie bloß nicht verhindert – dass es also nicht nur auf die Auswirkungen einer Entscheidung ankommt, sondern auch darauf, auf welche Weise diese Entscheidung zu jenen Auswirkungen führt. Diese Überzeugung inspiriert parallel die dritte offene Frage, ob auch bei der Beurteilung der Gerechtigkeit einer institutionellen Ordnung zwischen verschiedenen Kausalpfaden zu unterscheiden ist.

Die Einrichtung der institutionellen Ordnung einer Gesellschaft kann auf unterschiedlichen Wegen die Verteilung sozialer Güter und Lasten beeinflussen. Manche Lasten fallen Mitgliedern zu, weil die Regeln es so vorschreiben; Beispiel Militärdienst. Andere, weil die Regeln es ermöglichen oder erlauben; Beispiel Sklavenhaltung. Wieder andere Lasten kommen dadurch zustande, dass rechtliche Verbote nicht effektiv durchgesetzt werden; Beispiel häusliche Gewalt. Und viele weitere Lasten ergeben sich aus der Strukturierung der Wirtschaft, dem Ensemble der Regeln über Eigentum, Verträge, Steuern usw.; Beispiel Armut.

Wichtige Gerechtigkeitsfragen hängen davon ab, ob, und, wenn ja, wie, wir soziale Güter und Lasten je nach Kausalpfad unterschiedlich gewichten. Wir sehen das am auch von Rawls diskutierten Beispiel der Strafjustiz (TG §38). Diese schützt die Grundrechte der Bürger dadurch, dass sie Verbrechen abschreckt und Verbrecher aus dem Verkehr zieht. Aber sie gefährdet auch dieselben Grundrechte dadurch, dass sie gelegentlich zur Verurteilung unschuldiger Menschen führt. Wenn wir Gerechtigkeit allein am Verteilungsprofil festmachen, dann werden wir beide Gefährdungen unserer Grundrechte in einen Topf werfen und minimieren: eine gerechte Strafjustiz ist eine, die die Grundrechte der Bürger möglichst weitgehend sichert. Dagegen rebelliert Blackstone mit seinem berühmten Diktum: Es sei besser, dass zehn Schuldige davonkommen, als dass einer unschuldig verurteilt wird. Ihm zufolge sind die Regeln der Strafjustiz also nicht einfach so festzusetzen, wie es für die Sicherung der Grundrechte der Bürger am besten ist. Blackstone meint, dass Grundrechtsverletzungen durch Verurteilung Unschuldiger ceteris paribus schwerer wiegen als Grundrechtsverletzungen durch Verbrechen, die durch verdiente Verurteilung schuldiger Täter vermeidbar sind. Verletzungen ersterer Art sind welche, die eine Gesellschaft offiziell den unschuldig Verurteilten aktiv antut. Verletzungen letzterer Art sind welche, die sie bloß nicht verhindert.

Rawls steht hier ganz eindeutig gegen Blackstone – mit seinem Gedankenexperiment des Urzustandes, mit seiner ersten Vorrangregel (TG §46, 336f.) und auch mit den von ihm diskutierten Beispielen (TG §38). Insofern ist seine Gerechtigkeitskonzeption konsequentialistischer als er wohl wahrhaben wollte, im Gegensatz zu deontologischeren Konzeptionen, die die Unterscheidung verschiedener Kausalpfade für Gerechtigkeitsurteile relevant machen. Rawls‘ Ablehnung einer solchen moralischen Relevanz ist bemerkenswert, weil er in der Ethik – bei der moralischen Bewertung von Akteuren und ihrem Verhalten – eine nicht-konsequentialistische Sichtweise vertritt, indem er die moralische Bedeutung der Unterscheidung zwischen positiven und negativen Pflichten, also zwischen zwei Arten von Kausalpfaden, anerkennt.

4. Verantwortung für Gerechtigkeit

Eine Gerechtigkeitskonzeption bewertet in erster Linie die institutionelle Ordnung einer Gesellschaft – fordert, dass sie so-und-so sein soll. Aber dieses „soll” macht keinen Sinn, wenn es sich nicht auch an die Akteure richtet, die jene institutionelle Ordnung ausformen und durchsetzen. In diesem Sinn fordert Rawls von Bürgern „vorhandene und für uns geltende gerechte Institutionen zu unterstützen“ und auch „die Förderung noch nicht verwirklichter gerechter Regelungen“ (TG §19, 137). Interessanterweise klassifiziert er diese „natürliche Pflicht zur Gerechtigkeit“ ausdrücklich als positive Pflicht (TG §18, 130) und fügt hinzu, „dass, falls die Unterscheidung eindeutig ist, negative Pflichten mehr Gewicht haben als positive“ (TG §19, 136). Er behauptet also, dass die natürliche Pflicht zur Gerechtigkeit – neben den positiven natürlichen Pflichten zu gegenseitiger Hilfeleistung und gegenseitigem Respekt – weniger stringent ist als unsere negativen natürliche Pflicht, Unschuldige nicht zu verletzen oder zu schädigen; womit er die Wichtigkeit seines eigenen Lebenswerks herabsetzt.

Daraus ergibt sich die vierte offene Frage, ob die Verantwortung der Mitglieder einer Gesellschaft für die Gerechtigkeit ihrer institutionellen Ordnung wirklich eine bloß positive Verantwortung ist.

Wer diese Verantwortung, mit Rawls, als eine positive einstuft, betrachtet die institutionelle Ordnung als ein Naturphänomen, wie eine Küstenlandschaft, zu deren Verbesserung man im Interesse der Allgemeinheit beitragen kann.

Gegen diese Sichtweise lässt sich einwenden, dass die institutionelle Ordnung nicht nur gegen Bürger, sondern auch von Bürgern durchgesetzt wird. Bürger erbringen die vielerlei Leistungen, die zur Funktionsfähigkeit einer Gesellschaft notwendig sind. Die institutionelle Ordnung besteht aus den koordinierten Leistungen (Arbeit, Steuern, usw.) von Bürgern, so, wie die Aufführung einer Oper aus den koordinierten Leistungen der Mitwirkenden besteht. Diese alternative Sichtweise impliziert eine negative Verantwortung. Die institutionelle Ordnung unserer Gesellschaft ist nicht nur eine, die uns Mitgliedern angetan wird, sondern auch eine, die viele von uns gemeinsam jedem Einzelnen von uns aktiv antun. Was die Regeln unserer Gesellschaft befehlen, autorisieren, ermöglichen, erlauben oder verbieten, das befehlen, autorisieren, ermöglichen, erlauben oder verbieten eigentlich wir Bürger. Wenn die institutionelle Ordnung unserer Gesellschaft Todesurteile oder vermeidbare Unterernährung produziert, dann kann man dasselbe auch von uns normalen erwachsenen Bürgern sagen.

Diesem Gegenbild zufolge gibt es also eine zusätzliche negative Verantwortung, eine negative Pflicht, sich nicht an der Ausformung oder Durchsetzung einer ungerechten institutionellen Ordnung zu beteiligen ohne sich aktiv um deren Reform zu bemühen. Obwohl auch diese negative Pflicht „die Förderung noch nicht verwirklichter gerechter Regelungen“ verlangt, weicht sie doch in zweierlei Hinsichten von der von Rawls postulierten positiven Pflicht ab. Sie ist einerseits enger insofern sie sich nur auf soziale Ordnungen bezieht, an deren Ausformung oder Durchsetzung der betreffende Akteur mitwirkt; die Staatsbürger von Costa Rica haben keine negative Verantwortung für Ungerechtigkeiten in der institutionellen Ordnung Japans. Sie ist andererseits stringenter insofern man bei Nichtbefolgung ein institutionelles Unrecht nicht nur passiv toleriert (Verletzung einer positiven Pflicht), sondern auch – im Zusammenspiel mit anderen – aktiv begeht.

Als patriotischer Bürger sehnte sich Rawls nach einer Gesellschaft, deren Mitglieder sich auf ein Gerechtigkeitskriterium geeinigt haben, im Lichte dessen sie die institutionelle Ordnung ihrer Gesellschaft gemeinsam beurteilen und reformieren. Als Philosoph wünschte er sich – realistischer – eher einen ordentlichen Wettbewerb konkurrierender Gerechtigkeitskonzeptionen, der die Verbesserung dieser Konzeptionen vorantreiben und der Menschheit letztlich verlässlich eröffnen würde, welche von ihnen die vernünftigste ist (PL 328). Um weiterhin Fortschritte zu machen, müssen wir im Stil David Hilberts die offenen Fragen klar formulieren, die plausiblen Theorieoptionen ausloten und uns dann mit guten Argumenten im ordentlichen Wettbewerb dieser Optionen engagieren.


Dieser Beitrag schließt an zwei frühere Arbeiten von mir an: „Hypothetische Gesellschaftsverträge. Drei Schwierigkeiten” in Rolf Geiger, Jean-Christophe Merle, Nico Scarano, Hrsg., Modelle politischer Philosophie, Paderborn, Mentis 2003, 117–137; und „Gleiche Freiheit für alle?” in Otfried Höffe, Hrsg.: John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Berlin, Akademie Verlag 1998, 149–168. „TG“ bezieht sich auf John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt, Suhrkamp 1979; „PL“ auf John Rawls, Politischer Liberalismus, Frankfurt, Suhrkamp 2003.


Thomas Pogge ist Professor und Direktor des Programms für globale Gerechtigkeit an der Yale Universität und arbeitet dort über politische Philosophie, globale Gesundheit, Klimawandel und Kant. Er ist Gründungsmitglied von Academics Stand Against Poverty und Incentives for Global Health. Sein jüngstes deutsches Buch ist Weltarmut und Menschenrechte.