Zur Aktualität Friedrich Engels im 21. Jahrhundert
von Frank Jacob (Nord Universitet)
Vor 200 Jahren wurde Friedrich Engels geboren und auch heute noch sind seine Texte von großem Wert, denn sie sind oftmals zeitlos und für unser Leben oft von nicht zu unterschätzender Aktualität, geben sie doch Anreize, sich kritisch mit den Problemen unserer Zeit auseinanderzusetzen. Zu Unrecht stand Engels lange Zeit im Schatten seines Freundes und intellektuellen Kompagnons Karl Marx und das Jubiläum bietet mehr als genug Anlass, sich erneut und intensiver mit seinen Gedanken zu befassen.
Am 28. November 1820 wurde Engels in Barmen, einem heutigen Stadtteil von Wuppertal geboren und wuchs in sicheren Verhältnissen auf.[1] Sein Vater, der Baumwollfabrikant Friedrich Engels (1796-1860) hatte große Pläne für den Sohn, der die Geschäfte der Familie möglichst schnell mitbestimmen sollte, da der Vater in England zu expandieren gedachte. Engels musste deshalb 1837 die Schule abbrechen und eine Ausbildung beginnen, die ihn auf das Leben eines Baumwollfabrikanten vorbereiten sollte. Doch der junge Mann, der, nach einer Lehrzeit in Bremen, ab 1841 seinen Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger in Berlin ableistete, zeigte mehr Interesse an Geschichte und Philosophie.
Gleichzeitig hatte Engels früh erkannt, welche Misere mit der Industrialisierung und der Ausbeutung von Arbeiterinnen und Arbeitern einher gingen. Diese kritisierte er bereits in seinem Artikel „Briefe aus dem Wuppertal“ (1839)[2]: „¢E]s herrscht ein schreckliches Elend unter den niedern Klassen, besonders den Fabrikarbeitern im Wuppertal; syphilitische und Brustkrankheiten herrschen in einer Ausdehnung, die kaum zu glauben ist; in Elberfeld allein werden von 2500 schulpflichtigen Kindern 1200 dem Unterricht entzogen und wachsen in den Fabriken auf, bloß damit der Fabrikherr nicht einem Erwachsenen, dessen Stelle sie vertreten, das Doppelte des Lohnes zu geben nötig hat, das er einem Kinde gibt. Die reichen Fabrikanten aber haben ein weites Gewissen, und ein Kind mehr oder weniger verkommen zu lassen, bringt keine Pietistenseele in die Hölle, besonders wenn sie alle Sonntage zweimal in die Kirche geht. Denn das ist ausgemacht, daß unter den Fabrikanten die Pietisten am schlechtesten mit ihren Arbeitern umgehen, ihnen den Lohn auf alle mögliche Weise verringern, unter dem Vorwande, ihnen Gelegenheit zum Trinken zu nehmen, ja bei Predigerwahlen immer die ersten sind, die ihre Leute bestechen.“[3]
Ähnliche Erfahrungen mit dem Elend der Industriearbeiterschaft sollte Engels auch in England machen. In der Spinnerei Ermen & Engels, an der sein Vater beteiligt war, hatte er zwischen 1842 und 1844 seine Ausbildung fortgesetzt und sich aus erster Hand einen prraktischen Eindruck über die Wirkweise und Auswirkungen des Kapitalismus verschaffen können, welchen er in seinem bis heute wohl bekannntesten Werk, Die Lage der arbeitenden Klasse in England (1845)[4], verarbeitete. Er beschrieb darin das „industrielle Proletariat“[5], welches von der englischen Bourgeoisie ausgebeutet wurde. Letztere schockierte den jungen Mann: „Mir ist nie eine so tief demoralisierte, eine so unheilbar durch den Eigennutz verderbte, innerlich zerfressene und für allen Fortschritt unfähig gemachte Klasse vorgekommen wie die englische Bourgeoisie […] Für sie existiert nichts in der Welt, was nicht nur um des Geldes willen da wäre, sie selbst nicht ausgenommen, denn sie lebt für nichts, als um Geld zu verdienen, sie kennt keine Seligkeit als die des schnellen Erwerbs, keinen Schmerz außer dem Geldverlieren. Bei dieser Habsucht und Geldgier ist es nicht möglich, daß eine einzige menschliche Anschauung unbefleckt bleibe.“[6]
Für Engels war klar, dass diese Ausbeutung nicht zu ertragen war und seine Erlebnisse in England würden seine weitere Arbeiten bedingen. Nachdem er Ende August 1844 zehn Tage lang mit Marx in Paris verbracht hatte, war klar, dass Engels in Marx nicht nur einen echten Freund, sondern auch einen Gleichgesinnten gefunden hatte. Zusammen würden sie die theoretischen Grundlagen des Kommunismus erarbeiten und wiesen den Weg aus dem Klassenkampf: zur Revolution.[7] Dabei war Engels eher ein „operativer Intellektueller“[8], der sein eigenes Zeitgeschehen kommentierte, und wie Marx auch, kein Dogmatiker, der seine Schriften als fundamentale Anleitung, also eine conditio sine qua non einer besseren Welt verstand. Engels blieb Zeit seines Lebens Revolutionär, selbst wenn Eduard Bernstein im Zuge des Revisionismusstreits versuchen sollte, seine Aussagen entsprechend der eigenen Reformorientierung zu reinterpretieren und deshalb von Rosa Luxemburg kritisiert wurde.[9] Doch für Engels war die Revolution etwas, das er im Zuge der Revolution von 1848/49 selbst miterlebt hatte, sondern gleichfalls das einzige, was den Klassenkampf und die Ausbeutung der Menschheit durch Teile derselben beenden könnte. Deshalb hielt er zeitlebens an der Hoffnung auf eine revolutionäre Veränderung der Welt fest.
Darüber hinaus widmete sich Engels aber vielen verschiedenen Fragen seiner Zeit, waren seine eigenen Interessengebiete doch durchaus zahlreich und reichten von der Philosophie über die Naturwissenschaft bis zur Militärgeschichte. Seine Schriften, die leider bis heute viel zu oft im Schatten der Marxschen rangieren, haben dabei nichts an ihrer Aktualität und Schärfe eingebüßt und haben auch im 21. Jahrhundert das Potential, kritisches Denken zu befeuern. Ein kürzlich erschienener und kostenlos verfügbarer Sammelband Engels @ 200 widmet sich diesen verschiedenen Aspekten und unterstreicht dabei zugleich, welche Rolle Engels und seine Arbeiten auch im 21. Jahrhundert noch spielen.
Die Beiträge widmen sich dahingehend gleichfalls Problemen, die bis heute, auch 200 Jahre nach Engels Geburt noch nicht gelöst sind. Die Ausbeutung des kapitalistischen Systems, das durch die globale Pandemie noch verstärkt wurde, die prekären Lebensbedingungen vieler Menschen sowie die Notwendigkeit einer sozial gerechteren Welt bestehen immer noch. So bleibt denn auch zu wünschen, dass ein erneutes Interesse an Engels Schriften dafür sorgt, die Sensibilität für existierende Ungerechtigkeiten sowie mögliche Lösungen derselben zu sensibilisieren. Dabei gilt es nicht, Engels dogmatisch zu verstehen, sondern vielmehr sein Leben und Wirken als Anreiz zur Schaffung einer besseren, da gerechteren, Welt zu begreifen.
Frank Jacob (@FJacob84) ist Professor für Globalgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Nord Universitet, Norwegen. Zu seinen letzten Publikationen zählen Emma Goldman and the Russian Revolution (2020, Open Access), Emma Goldman (1869-1940): Ein Leben für die Freiheit (2021), Rosa Luxemburg (1871-1919): Ein Leben für und mit der Revolution (2021), Rosa Luxemburg: Living and Thinking the Revolution (2021), der Sammelband Engels @ 200 (Open Access) sowie der Essay Mut zur Freiheit: Ein Essay zur Revolution im 21. Jahrhundert (2021).
[1] Zu Engels Zeit in Wuppertal: Reiner Rhefus: Friedrich Engels im Wuppertal: Auf den Spuren des Denkers, Machers und Revolutionärs im »deutschen Manchester«, Hamburg 2020.
[2] Karl Marx/Friedrich Engels: Werke (weiterhin MEW), Bd. 1. Berlin 1976, S. 413–432.
[3] Ebd., S. 418.
[4] MEW, Bd. 2, S. 225–506.
[5] Ebd., S. 253–255.
[6] Ebd., S. 486.
[7] Karl Marrx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei (1848), in: MEW 4, S. 459–493.
[8] Georg Fülberth: Friedrich Engels, Köln 2018.
[9] Wolfgang Eichhorn: Über Eduard Bernstein und Rosa Luxemburg, in: Klaus Kinner/Helmut Seidel (Hrsg.): Rosa Luxemburg. Historische und aktuelle Dimensionen ihres theoretischen Werkes, zweite Auflage, Berlin 2009, S. 297–304.