
Die Macht und die Moral der Freiheit –oder wie Schelling Spinoza und Kant synthetisiert
Von Johannes-Georg Schülein (Bochum)
Wie zu Beerdigungen ist es oft auch zu Jubiläen üblich, das Gute zu betonen und das Problematische zu verschweigen. Nirgends, sagt eine Redensart, wird daher so viel gelogen wie auf Beerdigungen – und, so darf man hinzufügen, anlässlich von Jubiläen. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Zu seinem 250. Geburtstag hat Schelling es absolut verdient, dass man seine Philosophie gerade auch einer breiteren Öffentlichkeit noch einmal in Erinnerung ruft, indem man ihre Stärken in den Vordergrund stellt. Ohne Zweifel hat sie ihre Verdienste, die im philosophischen Diskurs unserer Zeit zu wenig Beachtung finden: etwa um die Naturphilosophie, die Theorie der Kunst, die Geschichte der Mythologie – und vor allem auch um das Verständnis der menschlichen Freiheit. Aber dennoch kann nach meinem Eindruck nichts darüber hinwegtäuschen, dass Schellings Philosophie sich weniger leicht in unsere Gegenwart übersetzen lässt als vielleicht diejenige Kants, Hegels, in Ansätzen auch Fichtes. Wenn man ehrlich ist, bleibt sie bei all ihren Verdiensten immer auch sperrig. Wohl niemand hat diese Sperrigkeit so emphatisch benannt wie Karl Jaspers: Es ist ihm zufolge unmöglich, zu Schelling „im Ganzen ja oder nein zu sagen […]. Man steht vor ihm mit Bewunderung und Empörung“ (Jaspers 1955, 358). Die Spannungen, die Schellings Denken eigen sind, gilt es in meinen Augen nicht etwa zu glätten oder gar zu verschweigen. Im Gegenteil: Ihnen nachzugehen, kann lehrreich sein. Ich will das hier an einem Beispiel zeigen: dem Grundgedanken seiner Frühphilosophie.
Die Freiheit als das A und O
Von Anfang seiner philosophischen Publikationstätigkeit an, und nicht etwa erst in seinem meistgelesenen Text, den Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit von 1809, verfolgt Schelling einen freiheitstheoretischen Anspruch. 1795 bringt er ihn in einem Brief an Hegel in den berühmten Worten zum Ausdruck: „Das A und O aller Philosophie ist Freiheit.“ (AA III,1, 22). Und im System des transzendentalen Idealismus von 1800 heißt es: „Die Freyheit ist das einzige Princip, auf welches alles aufgetragen ist“ (AA I,9,1, 70); „Es ist die Autonomie, welche insgemein an die Spitze der practischen Philosophie gestellt wird, und welche zum Princip der ganzen Philosophie erweitert, in ihrer Ausführung transscendentaler Idealismus ist.“ (AA I,9,1, 233) Auch die Naturphilosophie, die er ab 1797 zusätzlich zu seinen transzendentalphilosophischen Überlegungen einbezieht, sowie die sog. ‚Identitätsphilosophie‘, an der er ab 1801 ganz offen mit ontologisch-realistischen Ambitionen arbeitet, kreisen nach wie vor um Freiheit. So ist er überzeugt: „Nur wer Freyheit gekostet hat, kann das Verlangen empfinden, ihr alles analog zu machen, sie über das ganze Universum zu verbreiten.“ (AA I,17, 124). ‚Die Freiheit über das ganze Universum verbreiten‘, das heißt: die gesamte Wirklichkeit, einschließlich des Menschen, als Ausdruck von Freiheit verstehen – das versucht er in der Natur- und der Identitätsphilosophie zu tun.
Was aber heißt es, dass die Freiheit ‚Prinzip‘, das ‚A‘ und das ‚O‘ ist und ‚über das ganze Universum verbreitet‘ werden muss? Das Bild von Schellings Frühphilosophie ist bis heute maßgeblich von einer fundierungstheoretischen Standardlesart geprägt, laut der es ihm darum geht, sowohl die theoretische als auch die praktische Philosophie in demselben Prinzip zu begründen (der Freiheit).[1] Diese Lesart ist nicht falsch. Indem sie aber oft nur auf die Struktur der philosophischen Begründungsarbeit fokussiert, droht sie einen entscheidenden Punkt nicht zu seinem Recht kommen zu lassen: den ethischen Anspruch, den Schelling mit der Rede von dem ‚Prinzip‘, dem ‚A‘ und dem ‚O‘ in der Sache verfolgt.[2] Etwas vereinfacht gesprochen begreift er die Freiheit als ‚Prinzip‘, das in der theoretischen Philosophie als das ‚A‘ am Anfang und in der praktischen Philosophie als das ‚O‘ am Ende steht. Das Prinzip stiftet dabei nicht nur die Grundlage für ein philosophisches System (das tut es auch), sondern zwischen Anfang und Ende besteht zumal eine Verwirklichungsbeziehung (darauf kommt es mir an). Noch einmal vereinfacht gesprochen: Am Anfang, in der theoretischen Philosophie, versucht Schelling zu zeigen, dass wir frei sind. Dabei wird das Prinzip der Philosophie etabliert. Zuerst, in Vom Ich als Prinzip der Philosophie (1795) und im System des transzendentalen Idealismus (1800), identifiziert er es unumwunden mit dem Wesen des Menschen (dem ‚Ich‘, dem ‚Selbstbewusstsein‘). In der Natur- und Identitätsphilosophie, die sich zwar nicht ausschließlich, aber zu großen Teilen mit Fragen der theoretischen Philosophie auseinandersetzen, stellt er das Wesen des Menschen darüber hinaus in einen erweiterten Kontext: den einer Natur, die insgesamt von Freiheit geprägt ist, und in der der freie Mensch daher nicht als ein erklärungsbedürftiger Sonderfall erscheint. Am Ende, in der praktischen Philosophie, versucht er zu zeigen, dass und wie wir uns die Freiheit, die in unserem Wesen liegt, aktiv zu eigen machen müssen. Man kann das auf die Formel bringen, dass wir in der Praxis allererst werden müssen, was wir laut der Theorie von Natur aus in unserem Wesen schon sind: frei.
Dass Schelling diesen ethischen Anspruch nicht etwa nur in seinen transzendentalphilosophischen, sondern auch in seinen identitätsphilosophischen Schriften verfolgt, kann man als eine streitbare Behauptung betrachten. Es ist hier nicht der Ort, sie umständlich zu belegen. Ich will sie nur nennen und betonen, dass uns Schellings Denken mit diesem Anspruch heute nicht fremd erscheinen muss, sondern sich etwa für aktuelle Diskussionen um naturalistische und perfektionistische Ansätze in der Ethik als anschlussfähig erweist.[3] Greift man die Worte von Jaspers auf, gibt es bis zu diesem Punkt noch keinen Grund, sich zu ‚empören‘. Für sein umfassendes freiheitstheoretisches Projekt kann man Schelling vielmehr – zu seinem Geburtstag benutze ich hier einmal Jaspers’ zweiten emphatischen Ausdruck – ‚bewundern‘. Denn Schelling hat eine beispiellos umfassende Ontologie der Freiheit ausgearbeitet, in der er gemäß dem Stand der Naturwissenschaften seiner Zeit versucht, das freie Wesen des Menschen in Kontinuität mit einer Natur zu verstehen, die nicht erst im organischen Leben, sondern bereits in der anorganischen Materie die Spur der Freiheit erkennen lässt. Und nicht nur das. Was bis heute oft übersehen wird, ist, dass er diese Freiheit zugleich auch in ihrer ethisch-praktischen Dimension untersucht hat. Während grundsätzlich alles, was in der Natur existiert, gemäß seiner natürlichen Entelechie danach strebt, zu realisieren, was es wesentlich ist, spricht Schelling allein dem menschlichen Streben nach der Verwirklichung seiner Freiheit im engeren Sinn eine moralische Dimension zu. Den ontologisch-theoretischen Teil seiner Philosophie kann man als Antwort auf die berühmte Frage aus dem Fragment eine Ethik sehen, das auch als das ‚älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus‘ bekannt ist: „Wie muß die Welt für ein moralisches“ – freies – „Wesen beschaffen seyn?“ (AA II,6,2, 483) Die Antwort lautet: Sie muss Freiheit zulassen. Und sie lässt Freiheit zu, weil sie selbst schon als natürliche Welt von Grund auf von ihr geprägt ist. Wenn auch wir uns heute noch Freiheit zuschreiben und zugleich der Auffassung sind, Teil der natürlichen Welt zu sein, dann brauchen auch wir im weitesten Sinn noch philosophische Überlegungen des Typs, an dem Schelling gearbeitet hat.
Die Macht und die Moral der Freiheit
Spannungen treten bei Schelling jedoch auf, wenn man eingehender verfolgt, worin die Freiheit bei ihm genau besteht. Zahlreiche Aspekte und Einflüsse spielen dabei eine Rolle, aber zwei Konzeptionen prägen seine Auffassung im Kern. Indem er die Freiheit zum Prinzip erhebt, will er – einerseits – an die Philosophie der Autonomie seiner Zeit und dabei vor allem an Kant anknüpfen. Er tut das aber auf heterodoxe Weise. Denn – andererseits – bekennt er sich auch zu Spinoza. Das Charakteristische von Schellings Ansatz ist, dass er mit einem an Spinoza gewonnenen Freiheitsbegriff in der Tradition Kants weiterzuarbeiten versucht. Noch bevor man näher auf dieses Vorhaben eingeht, ist die Spannung bereits mit Händen zu greifen, die daraus herrührt, zwei so unterschiedliche, ja gegensätzliche Philosophien miteinander engzuführen: Wie sollte es möglich sein, ausgerechnet im Rückgriff auf Spinoza, der den freien Willen als eine Illusion betrachtet, eine Theorie der Freiheit zu entwickeln, die gleichzeitig einen sinnvollen Anschluss an Kant erlaubt, bei dem der freie (und zumal moralisch gute) Wille im Zentrum steht? Das ist das große Rätsel der Frühphilosophie Schellings.
Offenkundig ist Schellings freiheitstheoretisches Vorhaben heterodox und spannungsgeladen, aber es ist nicht einfach abwegig. Der entscheidende Punkt bei ihm ist nicht der freie Wille als solcher, den Spinoza ablehnt und Kant affirmiert. Der entscheidende Punkt liegt darin, dass sich bei Kant und Spinoza zwei Idealvorstellungen von Freiheit finden, die sich auf eine sublime Weise berühren, während sie gleichzeitig in Spannung stehen: Kants ‚heiliger Wille‘ und Spinozas allgemeiner Begriff von Selbstbestimmung.
Um diesen Punkt in den Blick zu bringen, ist es zunächst wichtig zu sehen, dass Spinoza zwar die Freiheit des Willens, aber nicht die Freiheit schlechthin ablehnt. Man kann also mit ihm über Freiheit nachdenken. Zu Beginn des ersten Teils der Ethik legt er die maßgebliche Definition vor: „Dasjenige Ding heißt frei, das allein aus der Notwendigkeit seiner Natur heraus existiert und allein von sich her zum Handeln bestimmt wird.“ (E1def7) Was in diesem Sinne frei ist, gehorcht nichts außer sich. Dabei handelt es nicht regellos, sondern es folgt einer Notwendigkeit, die aus ihm selbst herrührt. Im Einklang mit dieser Notwendigkeit handelt und existiert es auf eine selbstbestimmte Weise.
Nun stellt sich die Frage, worin die Notwendigkeit besteht, der Spinoza einen so zentralen Wert beimisst. Die Antwort lautet: Sie besteht in Selbsterhaltung. „Jedes Ding“, das es überhaupt gibt, „strebt gemäß der ihm eigenen Natur in seinem Sein zu verharren.“ (E3p6) Die These über das Selbsterhaltungsstreben aller Dinge spielt bei Spinoza zunächst als eine generelle ontologische Aussage eine Rolle, aber er gewinnt aus ihr auch den ethischen Grundsatz, der seine praktische und politische Philosophie anleitet: „Das Streben, sich selbst zu erhalten, ist die erste und einzige Grundlage von Tugend.“ (E4p22c) Je mehr es uns gelingt, der Notwendigkeit nachzukommen, uns selbst zu erhalten, umso freier sind wir in Spinozas Augen. Da wir Wesen sind, die ständig mit einer Umwelt interagieren, die uns mit allerlei fremden Notwendigkeiten und Zwängen konfrontiert, bleibt unsere Freiheit begrenzt. Wir können nach Vollkommenheit nur streben, aber wir erreichen sie nie. Absolut frei wären wir nur dann, wenn wir uns auf eine völlig zeit- und affektionslose Weise selbst zu erhalten vermöchten, was wir offensichtlich nicht können. Dazu ist allein Gott in der Lage, denn er ist eine Causa sui, die sich auf ewige Weise selbst verursacht und dabei schlechterdings auf nichts außer sich angewiesen ist, mit dem er auch nur interagieren könnte. Indem Spinoza die Freiheit mit der Selbsterhaltung kurzschließt, begreift er sie als eine Form von Macht (potentia), die in dem Grad zum Ausdruck kommt, in dem ein Wesen imstande ist zu existieren und die dazu geeigneten Handlungen vorzunehmen (E1p11al). Je freier wir sind, umso mächtiger sind wir zugleich.
Es ist klar, warum Schelling sich für diese Konzeption interessiert. Sie passt sowohl zu dem Anliegen, die menschliche Freiheit ins Verhältnis zu anderen Formen von Freiheit in der Natur zu setzen, als auch zu dem Anspruch, der praktischen Verwirklichung der Freiheit nachzugehen. Würde Schelling nun aber allein der Spur Spinozas folgen, würde sich sein Ansatz in der nachkantischen Philosophie schlicht anachronistisch ausnehmen. Dass er auch an Kant anschließen will, steht außer Frage. Wie er es aber tut, ist nicht leicht zu sehen.
Mit Kant können wir nicht einfach dasselbe über die Freiheit sagen, was Spinoza über sie sagt: dass wir frei sind, wenn wir der Notwendigkeit unseres Wesens folgen. Bei ihm ist eine dezidiert andere Notwendigkeit im Spiel, mit der unsere Freiheit verknüpft sein muss: die Notwendigkeit des moralischen Gesetzes, des kategorischen Imperativs. Diese Notwendigkeit legen wir uns selbst auf, aber dabei transzendiert sie gerade unser jeweiliges Selbsterhaltungsstreben. Erst wenn wir uns an der Notwendigkeit selbstgegebener universalisierbarer Regeln ausrichten, und nicht einfach uns selbst erhalten wollen, realisieren wir in Kants Augen Freiheit. Freiheit liegt nicht in der Macht, sondern in der Moral. So gilt für Kant, dass „ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei“ ist (AA IV, 447).
Wie die Freiheit als sittlich-moralische Autonomie konkret zu realisieren ist, beschreibt Kant als eine mühevolle Angelegenheit. Wir sind Bürgerinnen zweier Welten. Als vernünftige Wesen können wir uns den kategorischen Imperativ vor Augen führen und uns selbst Regeln auferlegen. Da wir aber immer auch sinnliche Wesen bleiben, die von ihren Neigungen und Begierden getrieben sind, befolgen wir das moralische Gesetz niemals automatisch: „Für Menschen und alle erschaffene vernünftige Wesen ist die moralische Notwendigkeit Nötigung, d.i. Verbindlichkeit, und jede darauf gegründete Handlung als Pflicht, nicht aber als eine von uns schon beliebte, oder beliebt werden könnende Verfahrensart vorzustellen.“ (AA V, 81) Als die endlichen Sinnenwesen, die wir nun einmal sind, ringen wir darum, der moralischen Notwendigkeit des Gesetzes tatsächlich auch nachzukommen. Vollkommen gelingt es uns nie: „Die völlige Angemessenheit des Willens aber zum moralischen Gesetze ist Heiligkeit, eine Vollkommenheit, deren kein vernünftiges Wesen der Sinnenwelt, in keinem Zeitpunkte seines Daseins, fähig ist.“ (AA V, 122) Nur ein heiliger Wille vermöchte es laut Kant, dem moralischen Gesetz vollständig zu entsprechen. Obwohl unser endlicher Wille niemals ‚heilig‘ sein kann, sieht Kant den heiligen Willen als eine „praktisch notwendige“ Vorstellung an, der wir uns „in einem ins unendliche gehenden Progressus“ annähern müssen, in dem wir uns „von niederen zu den höheren Stufen der moralischen Vollkommenheit“ emporarbeiten (AA V, 122-3). Damit vertritt auch er eine Strebenslehre, die auf eine Form von Vollkommenheit zielt, die zwar unerreichbar bleibt, aber unserem Leben gleichwohl einen moralischen Fluchtpunkt gibt. Auch wenn wir keine Heiligen sein werden, so können wir uns dem Ideal wenigstens zu nähern versuchen.
Dass sowohl Spinoza als auch Kant eine Strebenstheorie vertreten, in der es um die Vereinigung von Freiheit und Notwendigkeit geht, ist der Punkt, an dem sich ihre Konzeptionen berühren. Aber das ist natürlich noch kein hinreichender Grund für ihre umfassende Engführung. Will man Kants heiligen Willen mit Spinozas Begriff von Selbstbestimmung in der Sache wirklich verknüpfen, muss es eine plausible Möglichkeit geben zu sagen, dass ‚gemäß der Notwendigkeit der eigenen Natur handeln und existieren‘ (Spinozas Gedanke) als dasselbe begriffen werden kann, wie vollkommen ‚gemäß der Notwendigkeit des moralischen Gesetzes handeln und existieren‘ (Kants Gedanke). Und hier fällt die Analyse zunächst zwiespältig aus.
Im Fall des heiligen Willens besteht diese Möglichkeit. Wir müssen uns den heiligen Willen so vorstellen, dass er sich das moralische Gesetz nicht mehr als eine Pflicht vorzuhalten braucht, der er allererst noch nachkommen müsste. Seine Heiligkeit besteht vielmehr darin, dass er das moralische Gesetz so sehr internalisiert hat, dass ihm gar keine Abweichung mehr möglich ist. Zugespitzt kann man sagen: Der heilige Wille ist eins mit dem moralischen Gesetz. Wenn er aber eins mit dem moralischen Gesetz ist, dann ist man berechtigt zu denken, dass ein heiliger Wille, der vollkommen gemäß dem moralischen Gesetz handelt und existiert, zugleich auch gemäß seiner Natur handelt und existiert. Es ist dasselbe für ihn, weil zwischen dem, was moralisch geboten wäre und was er von sich aus ohnehin tun würde, gar keine Differenz besteht.
Setzt man hingegen an Spinozas Freiheitsdefinition an und versucht die Brücke in Gegenrichtung zu schlagen, ist das nicht so leicht möglich. Stellen wir uns eine Akteurin vor, die im Sinne der Freiheitsdefinition Spinozas vollkommen ‚gemäß der Notwendigkeit ihrer Natur handelt und existiert‘. In diesem Fall können wir nicht einfach voraussetzen, dass sie dabei zugleich auch wie ein heiliger Wille vollkommen ‚im Einklang mit der Notwendigkeit des moralischen Gesetzes handelt und existiert‘. Es ist sogar vom Gegenteil auszugehen. Denn was das moralische Gesetz verlangt, macht es grundsätzlich erforderlich, von dem abzusehen, was für die jeweilige Selbsterhaltung zuträglich sein mag.
Indem bei Schelling beide Konzeptionen ineinanderfließen, legt er seinen Überlegungen einen ambivalenten Freiheitsbegriff zugrunde, der zwischen der absoluten Moralität des heiligen Willens und der absoluten Macht der Freiheitsdefinition Spinozas ins Schwimmen zu geraten droht. Was dabei vor allem prekär wird, ist die normative Kraft des moralischen Gesetzes. Die menschliche Freiheit steht bei Schelling in der Gefahr, zu einer Blackbox zu werden, in der eine selbstbestimmte Entscheidung fällt, die sich zwar an einer Notwendigkeit ausrichtet, bei der aber unklar bleibt, worin sie besteht. Gehorcht die Freiheit der Notwendigkeit eines Selbst, dem es um seine Erhaltung und Ermächtigung geht, oder aber der Notwendigkeit eines Selbst, das eins mit dem moralischen Gesetz ist?
Dass sich diese Frage bei Schelling stellt, darüber kann man sich empören. Als normatives Konzept erscheint sein Freiheitsbegriff als problematisch und kann entsprechend auch kritisiert werden. Man kann sich aber auch um eine freundlichere Lesart bemühen, die das Problem nicht ausblendet, sondern anders einordnet.
Erstens kann man argumentieren, dass die Annahme fehlgeht, wir müssten laut Schelling versuchen, von der Freiheit der Selbsterhaltung allererst zur Freiheit des heiligen Willens zu gelangen. Vielmehr kommt es darauf an zu verstehen, dass beide Formen von Freiheit von vornherein bereits vereinigt sind. Es gibt nur eine Freiheit, die sich gleichermaßen als Macht und Moral äußert und in der es daher auch keinen Unterschied zwischen einem Handeln und Existieren, das sich im Einklang mit der Notwendigkeit des Selbst, und einem Handeln und Existieren, das sich im Einklang mit der Notwendigkeit des moralischen Gesetzes vollzieht. Der Mensch, der an dieser Freiheit partizipiert, ist in seinem Wesen sowohl absolut mächtig als auch absolut moralisch gut; und er wäre auf dem Weg, dieses Wesen in einem unendlichen Streben sukzessive in der empirischen Wirklichkeit zu realisieren. Es gibt in diesem Modell keine Form der Macht, die nicht zugleich im Dienst des moralisch Guten wirksam wird, und kein Gutes, das sich ohne Macht zu realisieren vermag. Beides greift von Grund auf ineinander.
Zweitens könnte man in einer anderen Argumentation an der problematischen Überlagerung von Macht und Moral festhalten und sie nicht als ein Problem der Theorie, sondern der menschlichen Freiheit selbst auffassen. In der menschlichen Freiheit selbst wäre das Verhältnis von Macht und Moral ambivalent, sodass sie als der widersprüchliche Ort zu sehen wäre, an dem die Notwendigkeit des Selbst und die Notwendigkeit des moralisch Guten einander beständig zu überlagern drohen. Dazu hätte der junge Schelling zwar noch keine überzeugende normative Theorie vorgelegt, aber er hätte zumindest ein Problem beschrieben, für das man genügend Anhaltspunkte sehen kann, um es ernst zu nehmen. So verstanden gliche die Freiheit schon in Schellings frühen Schriften einem latent gefährlichen „Vermögen des Guten und des Bösen“, als das er es in der Freiheitsschrift von 1809 schließlich explizit analysiert hat (AA I,17, 125).
Wie auch immer man zu Schellings Philosophie steht, sie gelangt in Bezug auf ihr Kernanliegen, so wollte ich zeigen, zu sperrigen Positionen, die eine kritische Auseinandersetzung erfordern. Aber gerade in ihrer Sperrigkeit wirft diese Philosophie grundlegende Fragen auf, mit denen es sich auch nach mehr als 200 Jahren noch lohnt sich zu befassen.
Johannes-Georg Schülein ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungszentrum für klassische deutsche Philosophie / Hegel Archiv der Ruhr-Universität Bochum.
[1] Ein Hauptvertreter dieser Lesart ist Manfred Frank mit seiner lesenswerten Einführung in Schellings Philosophie (1985). Prägend für die fundierungstheoretische Lektüre sind insgesamt die Arbeiten Dieter Henrichs, der in Grundlegung aus dem Ich eine Interpretation von Schellings früher Ich-Philosophie als dessen „erste[r] Fundamentalphilosophie“ vorschlägt (Henrich 2004, 1551–1699).
[2] Dafür argumentiere ich ausführlich in dem Manuskript „Werden der Freiheit: Schellings Ontologie und Ethik der Autonomie“, das ich im Wintersemester 2024/25 an der Fakultät für Philosophie und Erziehungswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum als Habilitationsschrift eingereicht habe.
[3] Auch Karin Nisenbaum (2021) hat Schellings Frühphilosophie in diesem Sinn gedeutet.
Literatur:
Frank, M. 1985. Einführung in Schellings Philosophie. Frankfurt/M.
Henrich, D. 2004. Grundlegung aus dem Ich. 2 Bände. Frankfurt/M.
Jaspers, K. 1955. Schelling. Größe und Verhängnis. Hamburg.
Kant, I. [AA] 1900ff. Gesammelte Schriften. Berlin.
Nisenbaum, K. 2021. „The Fate of Practical Reason: Kant and Schelling on Virtue, Happiness, and the Postulate of God’s Existence“. In: Kantian Legacies in German Idealism, ed. by G. Gentry, 187-207. London/New York.
Schelling, F.W.J. [AA] 1976ff. Historisch-kritische Ausgabe. Stuttgart-Bad Cannstatt.
Spinoza, B. [E] 2015. Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Hamburg.