Schelling und das Anthropozän, oder: Lernen aus vergessenen naturphilosophischen Traditionen

Von Philipp Höfele (Freiburg)


F.W.J. Schelling wurde vor 250 Jahren, am 27. Januar 1775, in Leonberg geboren. Trotz dieser langen Zeitspanne und der Tatsache, dass es nach seinem Tod im Jahr 1854 fast hundert Jahre dauerte, bis sein Denken wieder in den Fokus einer breiteren philosophischen Öffentlichkeit rückte, kann man inzwischen von einer erneuten Aktualität und Modernität des schellingschen Denkens sprechen, und dies insbesondere mit Blick auf die Debatte um das sog. ‚Anthropozän‘ als einem neuen geologischen Zeitalter.

Der zentrale Gedanke dieser Debatte besteht darin, dass der Mensch in der Gegenwart zum alles dominierenden Faktor innerhalb der Biosphäre unseres Planeten geworden ist. Mit der zentralen Bestimmung des Anthropozän als einer „in many ways human-dominated, geological epoch“[1] hatte Paul Crutzen 2002 insbesondere vor Augen, dass der Mensch sich mit seinen Artefakten inzwischen unumkehrbar in die Natur oder genauer die geologischen Schichten einschreibt. Der Gedanke des Anthropozäns geht von einer Verflechtung von Natur und Mensch, Natürlichem und Künstlichem aus, welche komplexe Wechselwirkungen zwischen beiden Sphären zeitigt und damit eine Einheit von Mensch und Natur ins Werk setzt, die jede Vorstellung einer vom Menschen unberührten Natur von vornherein zurückweist.

Schelling registriert diese mit dem Anthropozän-Begriff angezeigten Veränderungen des Mensch-Natur-Verhältnisses in ihren Grundstrukturen bereits um 1800 und sucht insbesondere in seinem naturphilosophischen Denken einen kritischen Gegenentwurf hierzu vorzulegen. Auch wenn damit nicht unterstellt werden soll, dass Schellings Naturphilosophie die modernen Entwicklungen in ihrer ganzen Tragweite antizipiere, so kann man doch sagen, dass Schelling die auch von Crutzen um 1800 situierten Anfänge der mit dem Anthropozän-Begriff angesprochenen Herausforderungen wahrnimmt und in seinem Denken eine begrifflich-systematische Aufarbeitung und Korrektur derselben zu leisten sucht, die sich ins Gedächtnis zu rufen ohne Zweifel lohnt. Dies betrifft nicht nur Schellings Überlegungen zum Übergang, die mit der Rede von dem Eintritt in eine neue Erdepoche virulent werden (1), sondern auch sein Konzept von System, insofern vom ‚Erdsystem‘ im Anthropozän-Diskurs gesprochen wird (2), oder sein Gedanke einer tragischen Dialektik angesichts unzähliger und unvorhersehbarer Rück- und Wechselwirkungen innerhalb der Biosphäre (3) sowie sein holistischer Ansatz (4).

1 Der Übergang in eine neue Erdepoche

Spricht Schelling von einem Übergang, so geht es ihm keineswegs allein um die Beschreibung der Aufeinanderfolge eines Zustandes A auf einen Zustand B. Sofern ein bestimmter Zustand nicht ex negativo im Modus einer Defizienz auf das ihm Folgende oder auch Vorausgehende verweist, ist für Schelling gar kein Übergang denkbar. In den 1810 gehaltenen „Stuttgarter Privatvorlesungen“ geht Schelling von einer negativen Gegenwartsdiagnose aus, und zwar nicht allein im Blick auf den Bereich politischer Einheiten, die er als „bloß äußerliche“ (AA II,8, 152)[2] oder „physische[…] Einheit“ (AA II,8, 146) und mithin als etwas rein Mechanisches versteht, sondern gerade auch in Hinsicht auf die „jetzige Gestalt der Natur“ insgesamt, die einer vollkommenen, organischen Einheit ermangle, was sich in Ansehung der „Unruhe der Natur“ bekunde, „da sie vielmehr, wenn sie ihre höchste Einheit erreicht hätte, in Ruhe seyn müsste“ (AA II,8, 140-142).

Zur Erklärung dieser diagnostizierten Negativität nimmt Schelling eine ursprüngliche Einheit der Natur mit dem Bereich des Menschlichen an und sucht den „Rückfall[…] der ganzen Natur“ (AA II,8, 142) als Folge der Lossagung des Menschen von seiner natürlichen Abhängigkeit zu interpretieren. So erklärt Schelling: „Sowie aber der Mensch, anstatt sein natürliches Leben dem göttlichen unterzuordnen, vielmehr in sich selbst das zur relativen Unthätigkeit bestimmte (das natürliche, eigne) Princip aktivirte – zur Thätigkeit erweckte –, war auch die Natur wegen des nun verfinsterten Verklärungspunkts genöthigt, eben dieses Princip in sich zu erwecken, und nolens volens eine von der geistigen unabhängige Welt zu seyn.“ (AA II,8, 140) Der Zusammenhang von Mensch und Natur muss nach Schelling geradezu unvermeidlich zu Bruch gehen, wenn sich der Mensch selbst um einer vermeintlichen Autonomie willen aus dem ursprünglichen, bis zum Menschen aufsteigenden Naturzusammenhang herausnimmt, um „selbst schaffender Grund zu werden“ (AA I,17, 157), wie Schelling in seinen ein Jahr zuvor, d.i. 1809, erschienen „Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit“ formuliert. Das aus einer solchen Umkehrung resultierende anthropozentrisch strukturierte Weltbild führt dazu, dass die Natur nicht mehr als Ermöglichungsgrund, sondern vielmehr als das Andere des Menschen, als tote, zu überwindende Schranke menschlichen Handelns erscheint, angesichts welcher Fichte in „Über die Würde des Menschen“ verlangt, solange zu handeln, „bis alle Materie das Gepräg seiner [des Menschen] Einwirkung trage“.[3] Die auch im Anthropozän-Diskurs diagnostizierte Folge sei, dass „damit der Kampf der Natur mit dem Menschen“ beginne (AA II,8, 145).

2 Das organisch verfasste System der Erde

Angesichts des Verflochtenseins verschiedenster Momente im System der Natur oder genauer der Biosphäre, das die gegenwärtigen Umweltprobleme immer mehr zum Vorschein bringen, lohnt es sich des Weiteren Schellings Systembegriff anzuschauen. Ebenfalls in den „Stuttgarter Privatvorlesungen“ bestimmt Schelling den Einheitsgesichtspunkt oder das Prinzip, welches das System organisieren und aus dem heraus es verständlich werden soll, als „Organische Einheit aller Dinge“, wobei der Organismus eine solche „Einheit [sei], ohne daß jedoch die Theile desselben für einerley gehalten werden könnten.“ (AA II,8, 69)

Die Organismus-Vorstellung ermöglicht Schelling ein modifiziertes Verständnis von Kausalität, das dem von einer Kausalursache Abhängigen keineswegs Selbständigkeit oder Eigeninitiative absprechen muss: „Aber Abhängigkeit hebt Selbständigkeit, hebt sogar Freiheit nicht auf“, wie Schelling 1809 unter Berufung auf das Beispiel des „organische[n] Individuum[s]“ betont, das „als ein Gewordenes nur durch ein Anderes und insofern abhängig dem Werden, aber keineswegs dem Seyn nach“ sei; so impliziere das damit zusammenhängende Konzept der „Zeugung“ gerade das „Setzen eines Selbständigen“ (AA I,17, 119f.). Leugne man dieses Moment der Selbständigkeit in jenem dem Werden nach Abhängigen, verwickle man sich hingegen in Widersprüche, da man dann „eine Abhängigkeit ohne Abhängiges, eine Folge ohne Folgendes“ annehme, was in den Augen Schellings die entschieden abzulehnende Vorstellung einer „mechanische[n] […] Folge der Wesen aus Gott“ oder die Lehre von der „Emanation“ zeigt (AA I,17, 120).

Trotz seiner theologischen Einfärbung erlaubt gerade ein solcher organischer Systembegriff die in der Anthropozän-Debatte diskutierte Dialektik von menschlicher Dominanz und Eingebundensein in eine organische Wechselwirkung mit allen Akteur:innen innerhalb der Biosphäre in seiner Komplexität adäquater zu fassen.

3 Die tragische Dialektik menschlichen Handelns im Anthropozän

Mit Schelling lassen sich so nicht zuletzt auch im Anthropozän hervortretende tragisch-dialektische Handlungskonstellationen aufarbeiten, die sich etwa in klimaschädlichen Handlungen zeigen, welche als menschliche Einzelhandlungen häufig nicht als solche intendiert sind und bezeichnet werden können, sondern erst wenn Millionen an Menschen diese vollziehen.

Es lohnt sich, in diesem Zusammenhang auf Schellings Konzept des Tragischen zurückzugehen. In seinen in Jena und Würzburg gehaltenen Vorlesungen zur „Philosophie der Kunst“ betont er, dass „wahrhaft tragisch“ allein jener Streit zwischen Freiheit und Notwendigkeit sei, „wo das Unglück nicht im Willen und in der Freiheit selbst liegt“ und also auch nicht – wie die aristotelische „Poetik“ ausführt – in einem bloßen Irrtum oder Fehler (hamartia), sondern wo das geschehene Unglück Werk einer „höhere[n] und absolute[n]“ Notwendigkeit sei (AA II,6,1, 376), die „den Willen selbst untergräbt“ (AA II,6,1, 373). Gleichwohl ist Schelling zufolge damit der menschliche Wille nicht vollständig negiert. Indem nämlich – wie das Beispiel des sophokleischen „König Ödipus“ zeige – dem Tragödienheld die unfreie Tat als zu bestrafende Schuld angerechnet werde, beweise er gerade „im Verlust seiner Freiheit selbst eben diese Freiheit“ (AA II,6,1, 373). Denn erst in dem tragischen Widerstreit zwischen einer höheren Notwendigkeit und der Freiheit des Subjekts werde eine „Aeußerung der Freiheit“ unverkennbar sichtbar, insofern der Held mit einer „Erklärung des freien Willens“ untergehe (AA II,6,1, 373), die wie im Falle des Ödipus durch eine Selbstblendung und somit durch eine freiwillige Schuldübernahme unter Beweis gestellt werde. Schellings Philosophie des Tragischen zeigt damit, wie einem Subjekt nicht (klar) zuzurechnende Kausalketten gleichwohl diesem im Blick auf eine höhere Einheit und Verantwortung für ein Ganzes performativ zugeschrieben zu werden vermögen.

Wie hier noch moralische Kategorien wie die des Guten und Bösen angewandt werden können, diskutiert Schelling wenig später 1809. Schelling sucht hier das Konzept des Bösen mit dem des Tragischen zu verbinden. Im Bösen zeige sich eine tragische Dialektik in Form eines „sich selbst aufzehrende[n] und immer vernichtende[n] Widerspruch[s]“, insofern das Böse „kreatürlich zu werden strebt eben indem es das Band der Kreatürlichkeit vernichtet und aus Uebermuth, Alles zu seyn, in’s Nichtseyn fällt“ (AA I,17, 157). Ersetzt man die theologische Kategorie der Kreatürlichkeit durch die der Natürlichkeit oder der natürlichen Abhängigkeit, so wird die von Schelling dem Bösen eingeschriebene Tragik auf die im Anthropozän-Diskurs beschriebenen Dialektik-Strukturen anwendbar. Dass eine Dominanz des Menschen über die belebte wie unbelebte Natur mit Rückkopplungseffekten globalen Ausmaßes einhergehen kann, weist eine Analogie zu Schellings Beschreibung einer dem Bösen innewohnenden Dialektik auf, der zufolge das Streben danach, alles zu sein, gerade sich selbst untergräbt und aufzehrt.

4 Ein holistischer Begriff von Natur

Wie ein positives Naturverhältnis aussehen kann, das solchen tragischen Dialektik-Strukturen entgeht, sucht Schelling anhand einer holistischen oder integrativen Naturphilosophie deutlich zu machen. Das Integrative einer solchen Wissenschaft holt Schelling dabei über die Narrativität einer ‚Neuen Mythologie‘ ein. So sieht er 1804/05 „in der Naturphilosophie, […] die erste ferne Anlage jener künftigen Symbolik und derjenigen Mythologie […], welche nicht ein Einzelner, sondern die ganze Zeit geschaffen haben wird.“ (AA II,6,1, 180) Dieser in den sog. „Weltaltern“ ab 1811 weiterverfolgte Gedanke des Integrativen reicht dabei so weit, dass sich auch die Wissenschaft selbst nicht mehr als das Andere gegenüber der von ihr zu erforschenden Natur begreifen solle, sondern als ‚Mitwissende‘, welche sich zugleich als ‚mitten‘ in ihr, als Teil von ihr erfährt.[4]

So metaphysisch dieser Gedanke auch klingen mag, so kann er doch letztlich für die Anthropozän-Debatte fruchtbar gemacht werden, insofern er jenen integrativen Anspruch, auf den das Anthropozän in dialektischer Weise aufmerksam macht, konsequent bis zu Ende denkt. Wie nicht zuletzt der literaturwissenschaftliche Ansatz des Ecocriticism im Blick auf das Anthropozän herausgestellt hat, ist das Spezifikum des Narrativen darin zu sehen, als „reintegrative[r] Interdiskurs“[5] zu fungieren, der „in der Inszenierung des kulturell Verdrängten und in der Freisetzung von Vielfalt, Mehrdeutigkeit und dynamischer Interrelation aus der Dogmatik erstarrter Weltbilder und diskursiver Eindeutigkeitsansprüche“,[6] wie sie bisweilen von einer reduktionistischen Naturwissenschaft vertreten wird, herauszuführen imstande ist. Wenn Schellings heute teils sicher spekulativ anmutende Naturphilosophie zu einer solchen ‚Freisetzung von Vielfalt, Mehrdeutigkeit und dynamischer Interrelation‘ beizutragen vermag, dürfte dies sicher kein geringes Verdienst sein und zweifellos rechtfertigen, dass man sein Denken gerade an seinem 250. Geburtstag vor dem Vergessen bewahrt.


Philipp Höfele ist Postdoctoral Fellow im Rahmen der “Young Academy for Sustainability Research” (YAS) am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS), Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, sowie Vorstandsmitglied der Internationalen Schelling-Gesellschaft e.V.



[1] Crutzen, P.J. (2002): Geology of Mankind. In: Nature 415, S. 23.

[2] Schelling, F.W.J. (1976ff.): Historisch-kritische Ausgabe, I. Werke; II. Nachlaß; III. Briefe, hg. v. Projekt Schelling – Edition und Archiv der Bayrischen Akademie der Wissenschaften. Stuttgart-Bad Cannstatt (= AA).

[3] Fichte, J.G. (1962–2012): Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, I. Werke; II. Nachgelassene Schriften; III. Briefe; IV. Kollegnachschriften, 42 Bde., hg. v. der Fichte-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Stuttgart-Bad Cannstatt, Bd. I,2, S. 88.

[4] Schelling spricht in den „Weltaltern“ mit Blick auf die ‚menschliche Seele‘ insofern sowohl von „Mitwissenschaft der Schöpfung“ als auch von „Mitt-Wissenschaft der Schöpfung“ (Schelling, F.W.J. (1946): Die Weltalter. Fragmente, in den Urfassungen von 1811 und 1813 hg. v. M. Schröter. München, S. 4, 112, u. 205).

[5] Zemanek, E. (2017): Ökologische Genres und Schreibmodi. Naturästhetische, umweltethische und wissenspoetische Muster. In: Zemanek, E. (Hg.): Ökologische Genres. Naturästhetik – Umweltethik – Wissenspoetik. Göttingen. S. 9-28, hier: S. 15.

[6] Zapf, H. (2005): Das Funktionsmodell der Literatur als kultureller Ökologie: Imaginative Texte im Spannungsfeld von Dekonstruktion und Regeneration. In: Gymnich, M. / Nünning, A. (Hgg.): Funktionen von Literatur. Theoretische Grundlagen und Modellinterpretationen. Trier. S. 55-75, hier: S. 56.