300 Jahre Kant: Natur und Wissenschaft II

Beiträge von Brigitte Falkenburg (Dortmund) und Joe Saunders (Durham) aus der Reihe 300 Jahre Kant – Das Unzeitgemäße in seiner Philosophie.

Mit der Reihe 300 Jahre Kant – Das Unzeitgemäße in seiner Philosophie möchten wir den Fokus auf das Anachronistische, Antiquierte und Unzeitgemäße bei Kant legen. Dabei geht es nicht darum, Kant zu diskreditieren. Ziel ist vielmehr, durch eine Vielzahl kurze Statements einen Eindruck zu vermitteln, wie divers die heutige Kantforschung (im europäischen Raum und darüber hinaus) ist und wo sie die Grenzen von Kant verortet. Dafür veröffentlichen wir seit dem 22. April 2024 jeden zweiten Dienstag zwei bis vier thematisch verwandte Kurzbeiträge.

Grenzen der kosmologischen Erkenntnis?

Von Brigitte Falkenburg (Dortmund)

Kant argumentiert in der Kritik der reinen Vernunft, dass sich die menschliche Vernunft beim Versuch, die Naturerkenntnis zu vervollständigen, in die kosmologische Antinomie verwickelt. Diese Antinomie entsteht nach ihm aus vier Fragen über das Universum: Hat die Welt einen Anfang in der Zeit und Grenzen im Raum? Besteht die Materie aus unteilbaren Substanzen? Gibt es Kausalität aus Freiheit oder nur kausale Naturvorgänge? Ist alles, was in der Welt geschieht, notwendig oder zufällig? Beim Versuch, Antworten auf diese kosmologischen Fragen zu finden, verwechselt man nach Kant Sinneserscheinungen mit Dingen an sich und verwickelt sich deshalb in Widersprüche. Kant betrachtete seine Antinomie als „Experiment der reinen Vernunft“ – ein Gedankenexperiment, das stringent beweist, dass wir nur Sinneserscheinungen erkennen können, aber keine Dinge an sich. Danach beschränkt sich jede objektive Erkenntnis auf die Erfahrungswelt, bleibt immer unvollständig, und die traditionellen metaphysischen Fragen nach den „letzten“ Ursachen der Welt und dem Sinn des Lebens sind unbeantwortbar.

Auch wenn Kant damit grundsätzlich recht hat, ist seine Argumentation aus heutiger Sicht unhaltbar: Sein „transzendentaler Idealismus“ ist keineswegs die einzig denkbare Alternative zu dem „transzendentalen Realismus“, den er widerlegen wollte – es sind andere (auch moderatere!) metaphysische Positionen denkbar, die weder auf dem philosophischen Rationalismus beruhen, den Kant kritisierte, noch auf Kants Erkenntnistheorie. Und: Seine Beweise der kosmologischen Antinomie gehen am modernen Verständnis der Beziehung zwischen Theorie und Experiment in der Physik und den anderen Naturwissenschaften vorbei. Physikalische Kosmologie sowie Atom-, Kern- und Elementarteilchenphysik sind seit Einstein, Bohr und Heisenberg widerspruchsfrei möglich. Dabei lassen sich alle Theorien der Physik allerdings nur partiell testen, ihre Erfahrungsbasis ist beschränkt und überall lauert das Induktionsproblem.

Dennoch ist es sinnvoll, gut bewährte Theorien für angenähert wahr zu halten, also einen wissenschaftlichen Realismus bezüglich der Natur „an sich“ zu vertreten – von der Physik über die Chemie, Biologie und Medizin bis zur Klimaforschung. Zwar gibt es hartnäckige Grenzen der Naturerkenntnis, aber sie sind anders gelagert als Kant sich dies vorgestellt hatte. Das ehrgeizige Ziel einer einheitlichen, umfassenden Theorie der Natur scheitert nicht an einer Antinomie der Naturerkenntnis, sondern an der Komplexität der Natur. So gelingt es in der Physik seit hundert Jahren nicht, Kosmologie und Quantentheorie zu vereinheitlichen, um die Welt im Großen und im Kleinen durch ein-und-dieselbe Theorie zu beschreiben. Kant bleibt hier vielleicht anregend, aber seine kosmologische Antinomie hilft nicht weiter.


The Problem of Transcendental Freedom

Von Joe Saunders (Durham)

The limits of Kant’s philosophy are built right into his system. They play an important role, but ultimately cause serious problems. Freedom is a key instance of this.

Transcendental Idealism makes freedom possible for Kant. Appearances are not things-in-themselves. This allows Kant to maintain that our freedom is possible, no matter how dire things look for freedom in experience. Even if a scientist could completely predict our actions, that doesn’t matter, because our freedom is located (somehow) outside of space, time and experience.

With this, Kant manages to insulate our freedom from any threats from science or experience. That’s an ambitious and impressive move. But it also has its downsides, for it leaves freedom cut off from experience – a “great gulf” between the two.

This is especially problematic for Kant, as he sees freedom as crucially related to our moral practices. It’s what enables our moral agency, and gives us our distinctive moral status. But if freedom is cut off from experience, then we face serious problems as to how our freedom interacts with experience, and how we could have any knowledge of freedom in experience (not to mention what it means to think of freedom as timeless).

The limits of transcendental idealism make freedom possible, but in the end, cause serious practical problems for Kant.