Das Vorurteil bei Kant
Von Elena Romano (Berlin) –
Auch wenn nur am Rande erwähnt, hat Kant eine Auffassung von Vorurteilen. Leider ist diese Auffassung nicht frei von Kants eigenen Vorurteilen. Auffällig ist, dass Kant das Vorurteil des Konformismus besonders Frauen zuschreibt, was wiederum ein Vorurteil gegenüber Frauen offenbart. Im Text versuche ich, diese Komplexität zu thematisieren. Ich beschreibe Kants Theorie des Vorurteils und frage mich abschließend, ob und inwiefern Kants Auffassung dennoch vertrauenswürdig ist.
In seinen Logik-Vorlesungen, die auf G. F. Meiners Auszug aus der Vernunftlehre basieren, widmet Kant stets eine Sektion dem Begriff des Vorurteils. Er definiert diesen, identifiziert seine Ursachen und erklärt, wie es vermieden und bekämpft werden kann. Dabei teilt er das Vorurteil in verschiedene Kategorien ein (vgl. Log 9:77-80)1. Bemerkenswert ist nun, dass Kant, in einer von dieser Vorlesungmitschrift, der Logik Dohna-Wundlacken (1792), eine bestimmte Art von Vorurteil – das praejudicium multitudinis (oder Vorurteil des Ansehens der Menge, Log 9:78) – den Frauen zuschreibt.2 In der Passage aus der Logik Doha-Wundlacken heißt es:
praejudicium – multitudinis (für die Menge) – es ist dem Frauenzimmer eigen und schickt sich auch recht | gut für sie. [Was alle Welt sagt, ist wahr.] Ein solcher, der das praejudicium multitudinis hat, mißtraut seiner Vernunft. […] Wir bewundern bisweilen aus Verachtung, indem für die geringe Vorstellung, die wir von jemandem hatten das, was er getan, immer viel war. So […] bewundert man Frauenzimmer, die etwas Wissenschaftliches liefern. (V-Lo/Dohna 24:739)
Laut Kant neigen Frauen nicht nur dazu, dem Prinzip des Konformismus — so könnte man es nennen — zu folgen, sondern es sei für sie auch besonders angemessen. So angemessen, dass Kant die intellektuelle Arbeit für Frauen nicht für geeignet hält.
Diese Ansicht ist kein Einzelfall innerhalb Kants Werk. Vielmehr spiegelt es sich auch an anderen Stellen wider, zum Beispiel in der vorkritischen Schrift Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764), im berühmten Artikel Was ist Aufklärung? (1784) und in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1800). So behauptet Kant etwa in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht: „Was die gelehrten Frauen betrifft: so brauchen sie ihre Bücher etwa so wie ihre Uhr, nämlich sie zu tragen, damit gesehen werde, daß sie eine haben” (Anth 07:307). Außerdem betont er: „Was die Welt sagt, ist wahr, und was sie thut, gut’ ist ein weiblicher Grundsatz, der sich schwer mit einem Charakter in der engen Bedeutung des Worts vereinigen läßt.” (Anth 07:308). Die Liste der Textstellen zu diesem Thema ist leider sehr lang.
Es scheint mir, dass hinter die Zuschreibung dieses Vorurteils an diese Klasse von Menschen eine grundlegende Schwierigkeit Kants steckt, nämlich Frauen die Fähigkeit zum selbstständigen Denken anzuerkennen – und zwar das Vermögen, „sich [ihres, ER] Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen” (WA 8:34; vgl. GSE 229–230). Diese Zuschreibung eines Vorurteils gründet wiederum auf einem Vorurteil selbst.
Dass Kant, trotz seiner Theorien, Opfer seiner eigenen Vorurteile war, ist nichts Neues. Dies hat eine große und lebendige Debatte über das Schicksal seiner Philosophie ausgelöst. Mit seinen Behauptungen über die Grenzen und die Angemessenheit der weiblichen Intelligenz zeigt Kant nämlich zugleich die Grenzen seines Universalismus auf. Kant scheint im Gegensatz zu seiner universalistischen Konzeption des vernünftigen Subjekts zu vertreten, dass es Klassen von Menschen gibt – in diesem Fall Frauen –, für die die adäquate Ausübung der Vernunft nicht nur besonders schwierig ist, sondern auch unpassend hinsichtlich ihres Charakters. Anhand von Kants Begriff des Vorurteils sowie Kants eigenen Vorurteilen, insbesondere gegenüber der wissenschaftlichen Erziehung von Frauen, möchte ich dieses Problem thematisieren und aufzeigen, welche Lösung Kant gegen Vorurteile anbieten kann, die er jedoch nicht gründlich genug auf seine eigenen Vorurteile angewandt hat.
Was ist ein Vorurteil?
Die Definition, die wir dem Text entnehmen können, lautet wie folgt: Das Vorurteil ist ein Grundsatz, der auf subjektiven Grunde beruht, die fälschlicherweise als objektive angesehen werden. Das Vorurteil ist auf einen Mangel an Reflexion zurückzuführen und ist symptomatisch für einen passiven oder mechanischen Gebrauch der Vernunft. Gewohnheit, Nachahmung und Neigung sind die drei Hauptursachen für Vorurteile (vgl. Log 9:75-76).
Erstens ist ein Vorurteil ein Prinzip und muss als solches von bestimmten Fehlurteilen unterschieden werden. Ein Prinzip ist im weitesten Sinne jeder allgemeine Satz (auch solche, die durch Induktion aus der Erfahrung abgeleitet werden), der als solcher als allgemeine Regel für die Beurteilung von Einzelfällen dient. In diesem Sinne kann ein Grundsatz immer als Hauptprämisse in einem Syllogismus dienen. Nach Kants Verständnis beinhalten Vorurteile Urteile verschiedener Art. Die Beispiele für Vorurteile, die Kant in der Jäsche Logik anführt, sind: „Was einigemal eintrifft, trifft immer ein oder ist immer für wahr zu halten“ (Log 9:75); „was Alle sagen, wohl wahr sein müsse“ (Log 9:78). Wir könnten übrigens an konkrete aktuelle Beispiele denken wie „In Italien haben die Züge immer Verspätung“, „In Deutschland funktioniert immer alles“ oder „Alle Ratten übertragen Krankheiten“. Auf der Grundlage des letztgenannten allgemeinen Grundsatzes beurteile ich zum Beispiel einzelne Ratte als krankheitsübertragend. Genauer gesagt ist das Vorurteil ein Prinzip, das fälschlicherweise als solches angenommen wird, da es als objektiv gültig angesehen wird, obwohl es in Wirklichkeit auf rein subjektiven Ursachen beruht. Folglich sind die einzelnen Urteile, die sich aus dem Vorurteil ergeben, immer falsch, auch wenn sie sich später als wahr erweisen. In solchen Fällen handelt es sich um Urteile, die aus den falschen Gründen für wahr gehalten werden: Es ist zwar möglich, dass die Ratte, die gerade versucht hat, sich zu nähern, tatsächlich krank ist, aber die Tatsache, dass ich sie aufgrund eines Vorurteils für krank halte, macht das daraus resultierende Urteil falsch, unabhängig von seiner eventuellen Übereinstimmung mit den Tatsachen. Mit anderen Worten is das Urteil der Form nach falsch.
Die Ursache von Vorurteilen
Die subjektiven Ursachen, die fälschlicherweise mit objektiven Gründen verwechselt werden, sind Gewohnheit, Nachahmung und Neigung. So kann ein Vorurteil aus Gewohnheit entstehen: Die meisten Züge, die ich in meinem Leben in Italien bestiegen habe, kamen mit Verspätung an, und aus Gewohnheit neige ich dazu, italienische Eisenbahn mit schlechter Effizienz zu assoziieren. Oder durch Nachahmung: Ich habe oft von vielen Leuten gehört, dass in Deutschland alles funktioniert oder dass Ratten Krankheiten übertragen, und durch Nachahmung werde ich dazu neigen, Deutschland mit Effizienz und Ratten mit Krankheiten zu assoziieren. Und schliesslich durch Neigung: Ratten ekeln mich an, und ich werde dazu neigen, sie mit etwas Unangenehmem zu assoziieren, wie z. B.mit Krankheit.
Es ist unvermeidlich, dass viele unserer Urteile auf subjektive Ursachen zurückgehen. Das Problem, das zu Vorurteilen führt, ist nicht der bloße subjektive Ursprung des Vorurteils, sondern die Tatsache, dass diese subjektive Ursache (Gewohnheit, Nachahmung, Neigung) aufgrund eines Mangels an Reflexion für objektiv gültig gehalten wird. Aus einem solchen Mangel an Reflexion entstehen die Vorurteile.
Für Kant befasst sich die Reflexion mit dem Ursprung unserer Urteile und mit der Art dieses Ursprungs und unterbricht so einen Automatismus des Urteilens. Durch den Vorgang der Reflexion versetzt sich das Subjekt in die Lage, über sein Urteilen Rechenschaft abzulegen und die Gründe, warum es so urteilt, wie es urteilt, deutlich zu machen. So ist es möglich, zum Ursprung der Assoziation „Ratten gleich Krankheit”, „Deutschland gleich Effizienz” zurückzugehen und herauszufinden, ob man in der Lage ist, diese Assoziation zu begründen. Fehlt diese, ist die Grundlage für Vorurteile geschaffen: Man wird eher geneigt sein, subjektive Ursachen gegen objektive Grundlagen auszutauschen.
Die Passivität des Vorurteils
Was Kant in Bezug auf das Vorurteil beunruhigt, ist der Zustand der Passivität, in den die Vernunft verfällt, wenn sie eine Autorität außerhalb ihrer selbst annimmt, sei es durch den Einfluss der Neigung, der gewohnheitsmäßigen Assoziation oder der Nachahmung anderer, ohne sie zum Gegenstand der Reflexion zu machen. Im Falle des Vorurteils, das genau aus diesem Mangel an Reflexion entsteht, ist die Vernunft mechanisch, sie urteilt automatisch, ohne über die Gründe für ihr eigenes Urteil nachzudenken. Dies scheint Kant besonders im Hinblick auf Vorurteile zu interessieren, die durch Nachahmung entstehen und die er auch als Vorurteile des Massenprestige bezeichnet. Kant schreibt: „Ein Vorurtheil aus Nachahmung kann man auch den Hang zum passiven Gebrauch der Vernunft […], oder zum Mechanism der Vernunft [nennen]” (Log 9:76).
Wie oben erwähnt, schreibt Kant dieses Vorurteil besonders Frauen zu. Diese Zuschreibung wird besonders beleidigend, wenn man an die Relevanz der Kritikübung und des Selbstdenkens als Prinzipien der Aufklärung in Kants Philosophie und deren Auswirkungen denkt. Frauen hätten demnach nicht nur keinen Mut, selbst zu denken und dem Passivismus der Menschheit zu widerstehen, sondern auch kein Vertrauen in die Vernunft selbst. Das ist nicht nur deskriptiv, sondern auch normativ gemeint, wie die Geringschätzung gegenüber der Erziehung von Frauen zeigt. Selbstdenken ist die Maxime der aufgeklärten Vernunft im Kampf gegen Vorurteile. Konformismus ist der Feind der Aufklärung und des Selbstdenkens.
Vorurteile vermeiden
Kant erklärt jedoch auch, wie man Vorurteile kritisieren, vermeiden und überwinden kann. Wenn das Vorurteil auf subjektiven Ursachen wie Nachahmung, Gewohnheit und Neigung beruht, dann ist es der Mangel an Reflexion, der das Vorurteil entstehen lässt, wobei solche subjektiven Ursachen aufgrund eines Automatismus beim Urteilen als objektiv angesehen werden. Tatsächlich bezeichnet Kant die Reflexion als erstes wesentliches Kriterium für die Entlarvung der eigenen Vorurteile.
Wenn aber die Überwindung oder gar Konfrontation mit Vorurteilen nur auf der Grundlage von Selbstkritik oder reflexiver Selbstanalyse erfolgen würde, würde der kantische Vorschlag an Glaubwürdigkeit verlieren. Inwieweit kann der Einzelne seine eigenen Vorurteile durch Reflexion entlarven? Wie können wir selbst beurteilen, ob die Grundlagen, auf denen wir urteilen, gültig sind oder nicht?
Es scheint, dass die individuelle Reflexion ergänzt werden muss. Sie muss von einer Untersuchung begleitet werden, die Kant als Prüfung der Wahrheitsbedingungen eines Urteils definiert (Log 9:78). Wenn die Reflexion den Ursprung der eigenen Urteile sichtbar werden lässt, dann erlaubt die Untersuchung zu verstehen, ob diese Gründe tatsächlich gültig sind. Worin besteht eine solche Untersuchung?
In den Logikvorlesungen gibt Kant keinen klaren Hinweis darauf. Im Abschnitt der Transzendentalen Methodenlehre in der Kritik der reinen Vernunft „Über das Meinen, Glauben und Wissen“ scheint Kant jedoch zu präzisieren, worin diese Untersuchung zumindest teilweise bestehen soll:
Der Versuch aber, den man mit den Gründen desselben, die für uns gültig sind, an anderer Verstand macht, ob sie auf fremde Vernunft eben dieselbe Wirkung thun, als auf die unsrige, ist doch ein, obzwar nur subjectives Mittel, zwar nicht Überzeugung zu bewirken, aber doch die bloße Privatgültigkeit des Urtheils, d. i. etwas in ihm, was bloße Überredung is. (KrV B849/A821)
Kants Vorschlag, die Gültigkeitsbedingungen der eigenen Gründe zu untersuchen, besteht darin, sie anderen mitzuteilen und mit ihnen zu teilen. Das Selbsdenken reicht nicht. Kant fordert uns auf, unsere Gründe „mit einem anderen Verstand“ zu prüfen, um zu sehen, ob andere sie überzeugend finden oder nicht, um so herauszufinden, ob unser Urteil Ausdruck rein subjektiver Bedingungen ist. Eine intersubjektive Übereinstimmung zu finden, erhöht nach Kant die Wahrscheinlichkeit, dass das eigene Prinzip des Urteils gültig ist.
An dieser Stelle mag die Aufforderung zur Mitteilung überraschen. Doch Kant argumentiert an mehreren Stellen, dass Individuen nicht isoliert von anderen effizient denken. Er definiert den „Egoisten“ sogar als jemanden, der es nicht für nötig hält, seine Überzeugungen dem Urteil anderer zu unterwerfen. [Vgl. z.B. Anth 7:128–30, KU 5:293–4, WDO 8:146]
Die Notwendigkeit eines sozusagen intersubjektiven Feedbacks als Prüfstein für die Gültigkeit der eigenen Gründe, ein Urteil für wahr zu halten, sollte nicht mit einer Aufforderung zur Nachahmung verwechselt werden, die Kant, wie bereits erwähnt, als die stärkste, am weitesten verbreitete und gefährlichste Quelle von Vorurteilen ansieht. Gemeinsam mit anderen zu denken hat nichts mit Konformismus zu tun und darf nicht im Widerspruch zur Autonomie des Denkens stehen. Es ist vielmehr eine Methode, um zu vermeiden, dass die Maxime des Denkens für sich selbst mit einem individualistischen und geschlossenen Denken verwechselt wird. Kant ist demnach der Ansicht, dass Egoismus und Konformismus die beiden extremen Pole sind, zwischen denen sich die vorurteilsfreie Vernunft bewegen können muss.
Mit Kant gegen Kant
Der kantische Drang, intellektuelle Verschlossenheit und Konformismus zu überwinden, um mit Vorurteilen umzugehen, bringt uns jedoch zurück zu Kants Vorurteilen. Ist es vielleicht Konformismus, der dazu führt, dass Kant Frauen als ungeeignet für intellektuelle Arbeit ansieht? Ist es vielleicht aus Verschlossenheit?
Die Debatte teilt sich an diesem Punkt, wobei es um nichts Geringeres als die Zukunft des Universalismus und Kants Konzept der Vernunft selbst geht. Dass man es nicht ein für alle Mal schafft, seine eigenen Vorurteile zu überwinden, stellt keine Entschuldigung für den Mangel an Kritik und das Fehlen einer kritischen Haltung (insbesondere gegenüber sich selbst) dar. Unabhängig davon wie man zur zentralen Frage des Universalismus und der Ungerechtigkeit steht, die in Kants Begriff der Vernunft aufscheint, glaube ich, dass die grundlegende Aufforderung zur kritischen Reflexion gültig bleibt. Die Tatsache, dass Kant nicht in der Lage war, dieselbe kritische Übung gegenüber einigen seiner eigenen Vorurteile durchzuführen, sollte uns nicht entmutigen. Es bleibt unsere Aufgabe, die Kritik an dem zu üben, was Kant selbst nicht ausreichend reflektiert hat und Vertrauen in diese Übung von Kritik zu haben.
Elena Romano ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Promotionsstudentin an der Freie Universität Berlin. https://www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/we01/institut/mitarbeiter/wimi/Romano/index.html
Zusätzlich zu den im Text erwähnten Werken Kants wurden insbesondere die folgenden Titel herangezogen: Karin Michel, “Vorurteil”, in: Bacin, Stefano, Stolzenberg, Jürgen, Mohr, Georg, Willaschek, Marcus (Hrs.), Kant-Lexikon, Berlin/Boston: De Gruyter, 2015, s. 2576–2577; Claudio La Rocca, “Giudizi provvisori. Sulla logica euristica del processo conoscitivo”, in: Soggetto e mondo. Studi su Kant, Marsilio Editori, Venezia, 2003, p. 79–120; Janum Sethi, “Kant on Prejudice” (im Erscheinen).
1 Die Zitate aus Kants Werk beziehen sich auf die Akademie Ausgabe: Kant, Immanuel: Gesammelte Schriften Hrsg.: Bd. 1–22 Preussische Akademie der Wissenschaften, Bd. 23 Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, ab Bd. 24 Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Berlin 1900ff.
2 In der Jäsche-Logik wird dieselbe Art von Vorurteil dem ‚Pöbel‘ zugeschrieben (Log 9:78).