25 Jun

Ein Makel in Kants Rechtsphilosophie

Von Dietmar Heidemann (Luxemburg)

Kant hatte großen Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Er war sogar ein Revolutionär und Umwälzer, nach Heine ein „große[r] Zerstörer“, der „an Terrorismus den Maximilian Robespierre weit übertraf“. All dies war Kant ohne Zweifel, aber, um wiederum Heine zu zitieren, nur im „Reiche der Gedanken“. In der politischen Realität seiner Zeit war Kant sicher kein Revolutionär, Umwälzer oder Zerstörer. Ganz im Gegenteil. Das aufklärerische Credo der Autonomie und Öffentlichkeit des Vernunftgebrauchs zur praktisch-moralischen Besserung des Menschen oder der Menschheit findet dort kaum Niederschlag, wo man es sich vor allem gewünscht hätte: im Recht der Bürgerinnen und Bürger auf aktiven politischen Widerstand gegen die Obrigkeit. Auch wenn Kant in seiner Auseinandersetzung mit Woellner durch sein öffentliches Schweigen in Religionsangelegenheiten einen zwischenzeitlichen passiven Widerstand gegenüber der Anordnung König Friedrich Wilhelm II. andeutet, hält er die aktive politische Gegenwehr von einzelnen oder Gruppen selbst in Situationen extremer Repression für grundsätzlich illegitim. Bei allen theoretischen Gründen, die man für Kants Zurückhaltung gegenüber dem Widerstandsrecht anführen mag, ist dies – neben anderen – doch ein bleibender Makel seiner Rechtsphilosophie. Hätte er dieses Recht mit Verve zugestanden, wäre vielleicht auch nicht der Diktator Putin im Programm der Kaliningrader Kant-Konferenz 2024 als Redner angekündigt worden.

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