23 Jul

Kants (selbst-)kritischer Universalismus

Von Conrad Mattli (Basel)

Aus gegebenem Anlass wird derzeit wieder gefragt: Was ist an Kant eigentlich noch aktuell, was nicht? Ohne Zweifel ist Kant unhaltbar geworden, wo wir den universalistischen Anspruch durch rassistische und kulturchauvinistische – kurz: partikularistische Inhalte widerlegt wissen. Sollte Kants Philosophie dadurch nicht insgesamt unhaltbar geworden sein? Nun, diese Philosophie besagt im Wesentlichen, dass die Frage, ob etwas der Fall ist, unendlich verschieden von der Frage ist, ob etwas der Fall sein soll. Und wer trotz Hegel nicht verlernt hat, derart zwischen Sein und Sollen (Nichtsein) zu unterscheiden, und den erwähnten Tatbestand einmal unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, sieht sich gezwungen, mit Kant zu urteilen, dass der rassistische und kulturchauvinistische Partikularismus schon zu Kants Zeiten nicht, ja niemals hätte sein sollen, dass er aber offenbar heute noch, wie zu Kants Zeiten, ein Faktum ist. Am Ende könnte sich die Aktualität der kantischen Denkart also, statt durch vermeintlich überzeitliche Inhalte dadurch erweisen, dass es nicht nur möglich, sondern notwendig ist, Kant mit Kant zu kritisieren; dass die Methode der Kritik also das letzte Wort gegenüber dem eigenen Ausdrucksgehalt behalten darf – ja sogar muss, damit der universale Anspruch kein leeres Versprechen bleibt.

23 Jul

Kants rassistischer Rassenbegriff

Von Reza Mosayebi (Bochum)

Dass Kants Rassentheorie aus heutiger Sicht widerlegbar ist, bedarf kaum einer Erwähnung. Doch selbst in solcher Art Theorien finden sich Momente, bei denen es immer noch Sinn macht, auf ihren Dogmatismus und ihre Gefährlichkeit aufmerksam zu machen. Inzwischen zählt Kant (nicht Blumenbach) für viele Ideenhistoriker*innen als der Gründer der modernen, „wissenschaftlichen“ Theorie der Rasse. Und schon hier ist wichtig daran zu erinnern, dass es Kant war, der (z. B. im Gegensatz zu Montesquieu oder Buffon) aufgrund seiner Teleologie für die Permanenz der Rassen, nachdem sie einmal entstanden sind, argumentierte (VvRM 2:442; BBMR 8:105; ÜGTP 8:166). Für Kant war die Rasse ein unveränderliches Schicksal von Individuen.

Doch – wie so oft – steckt der Teufel im Detail. Kant war aus zwei zusammenhängenden Gründen gegen jede Rassenmischung: Nach seinem teleologischen Narrativ sollten die einzelnen niedrigeren und höheren Rassen erhalten bleiben, eine Vermischung der Rassen aber löse sie vollständig auf (damit unterscheidet sich Kants Konzeption der Rassenmischung von der One-Drop-Rule), und führe zu einer Degradierung höherer Rassen (ÜGTP 8:166–67; BBMR 8:104–05; Anth 7:320; s. weiter etwa Refl 1520 15:878). Kant ging nämlich davon aus, dass bei der Vermischung allein die rassischen Nachteile vererbbar sind. Nach seiner Auffassung war somit die Entstehung von und Zugehörigkeit zu einer Rasse nicht nur irreversibel, sondern es sei auch nicht gut gewesen, verschiedene Rassen durch Mischung „zusammen[zu]schmelz[en]“ (Anth 7:320).

Das hat eine, in der Literatur vernachlässigte, Kehrseite, nämlich Kants Argumente zugunsten der Mischung innerhalb der weißen Rasse (VvRM 2:430; ÜGTP 8:166–67). (Wohlgemerkt, Kant hat ein weites Verständnis der Weißheit, die zwischen Okzidentalischem und Orientalischem Schlag unterscheidet, somit nicht auf Europäer*innen – Kant gendert nicht! – beschränkt ist, s. etwa Refl 1520, 15:879.) Auch dies beruht hauptsächlich auf zwei wichtigen Gründen: Die Weißen sind für ihn die überlegene Rasse (VvRM 2:440; ÜGTB 8:174; PG 9:316) und ihre innerrassische Diversität sorgt für die „Mannigfaltigkeit der Charaktere“ (ÜGTP 8:166), die er als Zweck der Natur für den Fortschritt der Kultur betrachtet (KU 5:431; Päd 9:449).

Doch was ist die Moral dieser Geschichte für heute? Um die moderne Rassentheorie und deren Rolle für den Rassismus zu verstehen, ist eine genaue und offene Untersuchung von Kants Rassentheorie unabdingbar. Weiterhin: Wie und aus welchen Gründen eine Rassentheorie die Mischung von „Rassen“ auffasst, verrät viel über diese Theorie selbst. So birgt die sog. One-Drop-Rule eine essentialistische Konzeption der Rasse in sich, welche (in der Regel) die Reinheit einer Rasse verteidigt. Ferner ist Kants eigener Dogmatismus, unter anderem bezüglich der Übertragung ausschließlich schlechter Eigenschaften bei der Rassenmischung (etwa im Unterschied zu José Vasconcelos‘ Idee der Raza Cósmica, welche sich genau für die entgegengesetzte Richtung entscheidet, nämlich für die Akkumulation guter Eigenschaften in gemischten Rassen), mehr als überraschend. Kants teleologische Opposition zur Rassenmischung auf der einen und seine Befürwortung der Vermischung innerhalb der weißen Rasse auf der anderen Seite wollen letzten Endes die Frage klären, wer die wahren Akteure des kulturellen Fortschritts sind. In ihrer janusköpfigen Funktion diente „Rasse“ Kant dazu, in seiner Naturgeschichte zu erläutern, wie es dazu kommen konnte, dass Menschen dort sind, wo sie (kulturell) jetzt – das ist in der Aufklärungszeit – sind, und in seiner Geschichtsphilosophie trägt der Begriff dazu bei zu klären, wie Menschen dorthin gelangen, wo sie sein sollten.

Noch interessanter sowohl für heutige Analysen des Rassismus als auch zugunsten antirassistischer Agenden scheint es mir zu sein, Kants Rassentheorie in Verbindung mit seiner Moralphilosophie im breiteren Sinne zu betrachten. Und zwar so, dass wir eine mögliche Voreingenommenheit (bias) für letztere beiseitelegen; das heißt, Kants Rassentheorie zusammen und auf gleicher Augenhöhe mit seiner Moraltheorie lesen. Hierbei beachte man, dass Kant alle seine drei Abhandlungen über Rasse, selbst die erste aus seiner vorkritischen Periode, bis Ende der 1790er Jahren mehrmals unverändert wiederveröffentlicht hat. Beachtet man diese Punkte, lässt sich (trotz dem Ignorieren und Leugnen vieler) noch einiges von Kants Rassentheorie lernen – nicht unbedingt lediglich, um ihn zu kritisieren (geschweige denn zu canceln).

09 Jul

The Problem of Transcendental Freedom

Von Joe Saunders (Durham)

The limits of Kant’s philosophy are built right into his system. They play an important role, but ultimately cause serious problems. Freedom is a key instance of this.

Transcendental Idealism makes freedom possible for Kant. Appearances are not things-in-themselves. This allows Kant to maintain that our freedom is possible, no matter how dire things look for freedom in experience. Even if a scientist could completely predict our actions, that doesn’t matter, because our freedom is located (somehow) outside of space, time and experience.

With this, Kant manages to insulate our freedom from any threats from science or experience. That’s an ambitious and impressive move. But it also has its downsides, for it leaves freedom cut off from experience – a “great gulf” between the two.

This is especially problematic for Kant, as he sees freedom as crucially related to our moral practices. It’s what enables our moral agency, and gives us our distinctive moral status. But if freedom is cut off from experience, then we face serious problems as to how our freedom interacts with experience, and how we could have any knowledge of freedom in experience (not to mention what it means to think of freedom as timeless).

The limits of transcendental idealism make freedom possible, but in the end, cause serious practical problems for Kant.

25 Jun

Ein Makel in Kants Rechtsphilosophie

Von Dietmar Heidemann (Luxemburg)

Kant hatte großen Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Er war sogar ein Revolutionär und Umwälzer, nach Heine ein „große[r] Zerstörer“, der „an Terrorismus den Maximilian Robespierre weit übertraf“. All dies war Kant ohne Zweifel, aber, um wiederum Heine zu zitieren, nur im „Reiche der Gedanken“. In der politischen Realität seiner Zeit war Kant sicher kein Revolutionär, Umwälzer oder Zerstörer. Ganz im Gegenteil. Das aufklärerische Credo der Autonomie und Öffentlichkeit des Vernunftgebrauchs zur praktisch-moralischen Besserung des Menschen oder der Menschheit findet dort kaum Niederschlag, wo man es sich vor allem gewünscht hätte: im Recht der Bürgerinnen und Bürger auf aktiven politischen Widerstand gegen die Obrigkeit. Auch wenn Kant in seiner Auseinandersetzung mit Woellner durch sein öffentliches Schweigen in Religionsangelegenheiten einen zwischenzeitlichen passiven Widerstand gegenüber der Anordnung König Friedrich Wilhelm II. andeutet, hält er die aktive politische Gegenwehr von einzelnen oder Gruppen selbst in Situationen extremer Repression für grundsätzlich illegitim. Bei allen theoretischen Gründen, die man für Kants Zurückhaltung gegenüber dem Widerstandsrecht anführen mag, ist dies – neben anderen – doch ein bleibender Makel seiner Rechtsphilosophie. Hätte er dieses Recht mit Verve zugestanden, wäre vielleicht auch nicht der Diktator Putin im Programm der Kaliningrader Kant-Konferenz 2024 als Redner angekündigt worden.

25 Jun

Automatische Moralisierung des Menschengeschlechts?

Von Viktoria Bachmann (Kiel)

In den geschichtsphilosophischen Schriften blickt Kant vom Gipfel seiner kritischen Philosophie hinunter in die Niederungen der menschlichen Geschichte. Da die Vernunft ständig neue Zwecke setze, komme der Einzelne mit der Vervollkommnung seiner Anlagen nicht hinterher. Als Gattung hätten wir aber eine Chance: die ungesellige Geselligkeit (IaG, AA 08: 20f.). Dieser natürliche Antrieb erweckt in uns „Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht, sich einen Rang unter seinen Mitgenossen zu verschaffen“ (ebd. 21). Bei einer geschickten politischen Nutzung dieser egoistischen Motive erhofft sich Kant langfristig eine moralische Besserung. Denn wenn „[…] die Staaten schon in einem so künstlichen Verhältnisse gegen einander [sind], dass keiner in der inneren Kultur nachlassen kann, ohne gegen die andern an Macht und Einfluß zu verlieren“ (ebd. 27), dann könnte aus einer Ansammlung von Egoisten quasi automatisch eine moralische Menschheit hervorgehen.

Diese Idee einer automatischen Moralisierung durch Legalität halte ich ethisch und anthropologisch für fragwürdig und angesichts des jüngsten Scheiterns einer Russlandpolitik des ‚Friedens durch Handel‘ auch politisch für gefährlich. Ein äußerlich eingedämmter Egoismus bleibt ein Egoismus. Sobald es vorteilhaft erscheint, entgrenzt er sich wieder. Die Illusion einer äußerlich induzierbaren Moral führt letztlich zu einer Vernachlässigung der ethischen Bildung der Individuen.

25 Jun

Kants problematische Rechtsauffassung

Von Hans-Ulrich Baumgarten (Düsseldorf)

Kants Rechtfertigung und Legitimierung einer Rechtsordnung als Staat liegt im äußeren Zwang. Auf die Frage: „Warum soll ich den Gesetzen gehorchen?“ antwortet Kant: Damit du nicht bestraft wirst! Eine innere Motivation und Überzeugung wie beim Moralgesetz ist für Kant keine Voraussetzung von rechtlichen Normen. Wenn die einzige Antriebskraft für die Befolgung von staatlichen Gesetzen in der Vermeidung von Strafe liegt, dann steht die Begründung und damit der Sinn einer Staatsordnung auf tönernen Füßen. Denn der Staat und seine Bürger:innen stehen sich als etwas zueinander Äußeres und Fremdes gegenüber. Damit ist dann aber die Ablehnung der Staatsordnung einschließlich der Politik, die sie stützen soll, ein Leichtes. Denn: was habe ich damit zu tun? Die Folgen dieser Rechts- und Staatsauffassung können wir heute beobachten. Gilt aber nicht für uns als Demokrat:innen, dass wir uns mit dem Staat, unserer Rechtsordnung, identifizieren sollten?

25 Jun

Kants zu radikales Argument für Menschenwürde

Von Bernward Gesang (Mannheim)

Kants Argumentation für eine Menschenwürde, die keinen Preis kennt, ist Fluch und Segen zugleich. Segen, weil sie nach Jahrtausenden der Despotie den unverrechenbaren Wert des Individuums betont. Das war historisch gesehen ein riesiger Schritt. Man konnte das Individuum nicht mehr als notwendiges Opfer für die Entwicklung der Weltgeschichte verbuchen. Das prägt auch die deutsche Verfassung und Rechtsprechung. Hier erweist sich die Argumentation heute aber als Fluch: Man darf nicht die Würde einiger weniger für die Rettung der Würde von vielen in Kauf nehmen. Das lehrt das Verfassungsgerichtsurteil gegen den Abschuss eines entführten Flugzeugs, das als Waffe gegen Frankfurter Bankentürme eingesetzt werden soll – ähnlich dem 11. September Attentat in den USA. Kants Verständnis von Menschenwürde blockiert auch eine vernünftige Regelung der Sterbehilfe. Kant verbietet die völlige Instrumentalisierung eines Menschen, es gibt aber Fälle, in denen eine solche Instrumentalisierung sogar geboten ist. Wenn ein Kind im See ertrinkt, muss man es retten, wenn man dies am Ufer registriert. Wenn nun der einzige Weg, es zu retten darin besteht, ein Boot von Herrn Müller dazu zu verwenden, Müller aber wegen möglicher Kratzer den Schlüssel des Bootes herauszugeben verweigert, ist man verpflichtet, Müller den Schlüssel zu entwenden, und das gegen seinen Willen also unter Inkaufnahme einer völligen Instrumentalisierung. Kants Verbot einer völligen Instrumentalisierung ist eingängig, aber falsch und gefährlich.

11 Jun

Die mutlose Unmündigkeit des Menschen

Von Jörg Noller (Augsburg)

In seinem bekannten Aufsatz „Was ist Aufklärung?“ aus dem Jahr 1784 schreibt Kant, „Faulheit und Feigheit“ seien „die Ursachen, warum ein so großer Theil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen […], dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben“ (8:35). Diese Diagnose gilt auch für die heutige Zeit, in der wir mit der Gefahr einer „digitalen Unmündigkeit“ konfrontiert sind. Denn wir sind immer mehr bereit, unser Denken an Algorithmen – in Kants Worten „Satzungen und Formeln“ zu delegieren, die zu „mechanischen Werkzeuge[n]“ unseres Denkens werden. In Abwandlung eines Zitats von Kant können wir sagen: „Habe ich ChatGPT, das für mich Verstand hat, so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen.“ Kants Forderung lautet deswegen: „Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Wo sich Kant allerdings irrt, ist in meinen Augen seine darauf folgende These, „[d]aß der bei weitem größte Theil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte“ (8:35). Kants Generalisierung des „schönen Geschlechts“ verwundert bei all seiner sonstigen Scharfsinnigkeit. Es mag sicherlich der Fall sein, dass Männer und Frauen zu Kants Zeit anderen gesellschaftlichen Zwängen und Normen unterlagen als heute. Doch geht Kants These noch weiter. Sie betrifft nicht nur gesellschaftliche Zustände, sondern eine generelle Disposition zur mutlosen Unmündigkeit, die er dem „schönen Geschlecht“ unterstellt. Aufklärung setzt jedoch voraus, allen Menschen, egal welchen Geschlechts, den nötigen Mut zu unterstellen, der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu entgehen.

11 Jun

„Er liebt den Hausfrieden“ – „Sie scheut den Hauskrieg nicht“

Von Violetta L. Waibel (Wien)

Das ist eine der nicht gerade wenigen unerfreulichen, zuweilen herablassenden Äußerungen Kants über Frauen und das Verhältnis der Geschlechter untereinander.1 Kant, unzweifelhaft der bedeutendste philosophische Aufklärer der Kultur in Europa, hat über einige blinde Flecken in seinem Denken hinweggesehen, sie nicht bemerkt. Das ist einerseits allzu menschlich, zumal bei einem so gewaltigen Opus, wie dem, das Kant der Menschheit geschenkt hat. Andererseits ist es doch eine sehr empfindliche Stelle, die einen gewaltigen systematischen Riss in seinem Denken darstellt, das sich der universalen Geltung der Einsichten durch die Vernunft gewidmet hat.

Die Maximen der reflektierenden Urteilskraft benennt Kant mit „1. Selbstdenken; 2. an der Stelle jedes anderen denken; 3. jederzeit mit sich selbst einstimmig denken. Die erste ist die Maxime der vorurteilfreien, die zweite der erweiterten, die dritte der konsequenten Denkungsart.“2

Wenn es wahr ist, dass Männer so und Frauen so sind, dann beschreibt dies zunächst faktische physiologische Differenzen, aber vor allem auch Geschlechterrollen und gesellschaftliche Erwartungen, die sehr stark durch Vorurteile und kulturelle Praktiken bestimmt sind.

Wenn sich Männer, die jahrtausendelang kulturbestimmend waren und oft noch sind, darin versuch(t)en, ernsthaft an der Stelle von Frauen Dinge zu durchdenken, also aktiv und ohne Vorurteile zu denken, könnte dies veranlassen, die universale Geltung von grundlegenden Menschenrechten, wie die von Gleichheit, von Freiheit, von Stimmrechten bei Wahlen, ja beim Anspruch auf Bildung wirklich auf alle Menschen auszudehnen. Denn universale Geltung hieß in der Praxis vielfach, Gleichheit für alle Männer, oder genauer, für alle weißen, in Machtpositionen befindliche Männer. Seit den Menschenrechtsdeklarationen, den Déclarations des droits de l’homme et du citoyen (1789), für Kants Rechtslehre von eminenter Bedeutung, und den zunächst wenig bekannten Déclarations des droits de la femme et de la citoyenne (1792), die wohl auch Kant nicht zur Kenntnis genommen hat, vermutlich auch nicht kennen konnte, weil sie in geringer Auflage verbreitet wurden,3 hat sich glücklicherweise einiges zum Besseren geändert, wenn auch noch viel zu tun bleibt.

Nehmen wir an, das Vorurteil, wonach Männer eher den Hausfrieden lieben und Frauen den Hauskrieg nicht scheuen, in der Tendenz stimmt. Nehmen wir überdies an, dass in der Konsequenz Sigmund Freud 100 Jahre später vor der Aufgabe stand, die Hysterie von Frauen zu kurieren, so könnte es doch sein, dass Frauen ob der großen, vermutlich eher unbestimmt gefühlten Ungleichheiten hinsichtlich der Rolle in Ehe, Gesellschaft und Staat, da sie dem Manne untertan waren, unvermittelt ihre Wut dort zum Ausdruck brachten, wo sie etwas sagen durften und so den „Hauskrieg“ nicht scheuten. Von Bildung, aktivem Wahlrecht, Selbstbestimmtheit abgeschnitten, für deren Zugang auch Kant nicht eintrat, wurden Frauen gelobt für ihren Gehorsam. Für „Selbstdenken“ fanden sie selten Gehör und noch weniger Anerkennung. Finanziell und gesellschaftlich befanden sich Frauen in drückender Abhängigkeit, noch dazu, wenn sie Kinder geboren hatten. Den „Hausfrieden“ zu lieben, sich irenisch zu geben, heißt nämlich auch, Gehorsam zu erwarten, Widerspruch nicht zu dulden, als Patriarch auf allen Ebenen zu herrschen, auf denen man ein Sagen hat.4


1 Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, AA 7, 304.

2 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 40, AA 5, 294. Vgl. auch Kant, Anthropologie, § 59, AA 7, 228.

3 Schröder, Die Frau ist frei geboren, 31-32.

4 Vgl. den exzellenten Beitrag von Kleingeld, On Dealing with Kant’s Sexism and Racism, und Schröder über Kants (patriarchales) Vernunftrecht, in Menschenrechte für weibliche Menschen, 15-46.


Literatur

Immanuel Kant, Gesammelte Schriften (AA), Hg.: Bd. 1–22 Preußische Akademie der Wissenschaften, Bd. 23 Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, ab Bd. 24 Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Berlin 1900ff. I. Abteilung: Werke (Bd. 1–9); II. Abteilung: Briefwechsel (Bd.10–13); III. Abteilung: Nachlaß (Bd. 14–23); IV. Abteilung: Vorlesungen (Bd. 24–29), hg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900ff.

Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft (1795), hg. v. Heiner Klemme, Hamburg 2009 (Seitenangaben nach AA 5, 165-485).

Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), AA 7, 119-333.

Paulina Kleingeld, On Dealing with Kant’s Sexism and Racism. SGIR Review, 2 (2) 2019, 3-22. https://philpapers.org/rec/KLEODW

Hannelore Schröder, Menschenrechte für weibliche Menschen,Aachen 2000.

Hannelore Schröder (Hg.), Die Frau ist frei geboren. Texte zur Frauenemanzipation. Bd. 1: 1789 bis 1870, München 1979.

11 Jun

Kants Urteil über Frauen

Von Konstantin Pollok (Mainz)

Kant hat, in mancher Hinsicht historisch verständlich, aber dennoch philosophisch und menschlich erschütternd Fehlurteile nicht nur gefällt, sondern auch zu begründen versucht. Sein Antisemitismus (7:205–06), sein Kultur- und Sprachchauvinismus (7:191), seine Ansicht zur Todesstrafe (6:333–37) und, meines Erachtens sehr zentral, seine Misogynie sind nicht zu rechtfertigen. Kant anerkennt zwar die Klugheit einzelner Frauen, z. B. der Madame du Châtelet, aber im Allgemeinen besitzen seiner Auffassung nach Frauen keinen dirigierenden (bzw. in Bezug auf Wissenschaft „architektonischen“ Verstand; 15:167), ihr Verstand sei stattdessen von den „Leidenschafften verdunckelt“ (25:152). In einer Vorlesung soll er gesagt haben: „Es ist nicht zu läugnen daß es auch Fälle giebt, wo dem Mann der dirigirende Verstand mangelt, und wo nur eine Frau denselben besizt, (Mit solchen Frauen mag ich nicht gerne zu thun haben) allein man muß eine jede Regel so viel wie möglich allgemein laßen, wenn gleich einige Fälle davon abgehen.“ (25:355) Aus diesem Grund spricht Kant der Frau die aktive Staatsbürgerschaft und sogar die Vertragsfähigkeit ab. Kant hat aber andererseits mit der Freiheit und Gleichheit als Kernelementen der „Würde der Menschheit“ (4:440) praktische Ideen und Normen begründet, gemessen woran jene groben Fehlurteile überhaupt erst als solche zu erkennen und zu kritisieren sind.