Hat Kant etwas zur Nachhaltigkeit zu sagen?
Dieser Blogbeitrag wurde von einer internationalen, interdisziplinären, studentischen Arbeitsgruppe im Rahmen der PASSAE (Passau Summer School for Applied Ethics) verfasst. –
Der Begriff der „Nachhaltigkeit“ ist allgegenwärtig. So verzeichnet Google beispielsweise am 4. September 2024 1,73 Milliarden Suchergebnisse hierzu. Dabei können häufig Aussagen gefunden werden, wie das folgende Zitat einer chinesischen Fast-Fashion-Marke: „[We] are working hard to drive continued progress toward our sustainability […] commitments, […] as we recognize the role SHEIN can play in supporting […] the environment we all share“ (SHEIN 2024). Auch der britische Öl- und Gaskonzern BP schreibt, dass sie ihre sozialen Investitionen auf die Unterstützung ihrer Nachhaltigkeitsziele konzentrieren werden (BP Group 2024). Unternehmen nutzen den Begriff der Nachhaltigkeit zur Werbung, NGOs zur Motivation und die Gesellschaft zur Debatte. Dabei lässt sich der Eindruck gewinnen, dass der Begriff der Nachhaltigkeit gleichzeitig allumfassend und nichtssagend zu sein scheint.
Die erste Definition stammt von Carl von Carlowitz aus dem Jahr 1713. Für ihn bedeutete bekanntlich nachhaltiges Verhalten, dass nur so viele natürliche Ressourcen genutzt werden, wie gemäß einem Plan regeneriert werden können (von Carlowitz 1713, 105). Über 300 Jahre später versteht die Europäische Umweltagentur Nachhaltigkeit als die Erfüllung der Bedürfnisse der Gegenwart, ohne dabei künftige Generationen zu gefährden (European Environmental Agency 2024). Um Klarheit über den Begriff der Nachhaltigkeit zu erlangen, kann es hilfreich sein, einen Schritt zurückzutreten. In diesem Artikel fragen wir uns, was Immanuel Kants Schriften zur modernen Frage der Nachhaltigkeit beitragen können, welche eines der meistdiskutierten Themen im Jahr seines 300. Geburtstags darstellt. Also: Hat Kant etwas zu Nachhaltigkeit zu sagen?
I. Kant hat nichts zur Nachhaltigkeit zu sagen
Eine verbreitete Perspektive auf Kants Ethik ist, dass Kant eigentlich nichts substantielles zum Thema Nachhaltigkeit beizutragen hat, da er im wesentlichen eine anthropozentrische Perspektive vertritt[1]. Kant schreibe bedingungslosen Wert nur rationalen Wesen zu und schließe daher die irdische, nicht-menschliche Natur aus (Breitenbach 2020). Auch Marc Lucht hat bereits darauf hingewiesen, dass es eine verbreitete Auffassung sei, dass nach Kant, der Mensch „lords and masters of nature” sei, ohne den die Natur „mere wasteland, gratuitous and without purpose“ wäre (ebd.).
Obwohl die Literatur nahelegt, dass in der gängigen Interpretation von Kants Ideen eine Umweltbesorgnis fehlt, argumentieren Einige, dass bestimmte Aspekte von Kants Verständnis, des Wertes der Natur, über eine anthropozentrische Sichtweise hinausgehen.
II. Kant hat etwas zur Nachhaltigkeit zu sagen
Einige Autoren behaupten, dass eine kantische Perspektive auf Natur trotz ihres Anthropozentrismus, Ansätze für den Nachhaltigkeitsdiskurs bietet. So erkennt Kant eine Pflicht des Menschen gegenüber sich selbst, die Natur nicht grundlos zu schädigen (MS VI 442, §17). Wenn Menschen bereitwillig die Natur zerstören oder Tieren Schaden zufügen, verringert dies nach Kant auch ihre Fähigkeit, moralisch zu handeln. Da der von ihnen verursachte Schaden ihre Liebe zu Objekten schwächt, die nur für das Objekt selbst und ohne eine weitere Notwendigkeit besteht, wird so auch die engverbundene Fähigkeit nach moralischen Gesetzen zu handeln laut Kant, negativ beeinflusst.
Ein weiterer Ansatzpunkt findet sich in der Kritik der Urteilskraft: So zeigt Breitenbach, dass „we must regard nature in analogy with reason as if it had value as an end in itself, and we must regard ourselves as if we were obligated towards it“ (Breitenbach 2022, 2). Durch diese Analogie erhält die Natur selbst Wert und wird zu einem Zweck an sich. So beruht diese auf der Beobachtung, dass Organismen aus mehreren Teilen bestehen, die alle eine Funktion haben und voneinander abhängig sind, sodass sie zusammen ein Ganzes bilden (Breitenbach 2022, 7).
Um zu verstehen, wie etwas ohne Vernunft so zweckmäßig aufgebaut sein kann, müssen wir die Vernunft auf Organismen und die Natur projizieren, um diese Strukturen zu verstehen (Breitenbach 2022, 8). Da der Natur durch die Analogie Vernunft zugeschrieben wird, hat sie folglich einen uneingeschränkten Wert. Das bedeutet, dass wir die Natur als Zweck an sich behandeln müssen und nicht nach Belieben mit ihr verfahren dürfen. Mit Hilfe dieser Analogie schlägt Breitenbach vor, dass Kants Ethik nicht nur anthropozentrisch, sondern auch in Teilen biozentrisch verstanden werden könnte.
Darüber hinaus bietet Kant eine alternative Denkweise über die Umwelt an, die sich deutlich von einer rein instrumentellen und dominanzbasierten Perspektive auf die Natur unterscheidet. Dafür müssen wir Kants ästhetische Überlegungen heranziehen. Marc Lucht betont etwa, dass Kants Reflexion über die Fähigkeit des Menschen, die Natur interessenlos zu schätzen, zu einem verantwortungsvolleren und weniger konsumorientierten Umgang mit der natürlichen Welt führen kann (Lucht, 2007).
Kants Vorstellungen von Schönheit und Erhabenheit deuten auf eine komplexe Sichtweise der menschlichen Subjektivität hin. Wir erleben uns zugleich als Teil einer sinnvollen Welt und als moralisch überlegene Wesen, die davon getrennt sind. In seiner Erörterung des Erhabenen behauptet Kant, dass Naturphänomene von großer Macht, wie Vulkane oder Tornados, uns unsere „physische Ohnmacht“ erkennen lassen, uns gleichzeitig aber unsere „Fähigkeit, uns unabhängig von der Natur zu beurteilen“, offenbaren (KU V 261). Laut Lucht kann diese duale Perspektive unser Verhältnis zur Umwelt prägen, denn für Kant ist das „Gefühl des Erhabenen in der Natur ein Ausdruck des Respekts vor unserer eigenen Bestimmung“ (KU V 262). Diese Erfahrung des Erhabenen durch unsere ambivalente Subjektivität kann uns nicht nur in der Natur verorten, sondern auch unsere Unabhängigkeit von ihr erfahrbar machen, was zu einem ökologisch bewussteren Lebensstil beitragen könnte.
IV. Grenzen der kantischen Perspektive
Auch wenn der kantische Naturgedanke eine menschliche Moralpflicht anspricht, so hat diese Perspektive auch deutliche Grenzen. Im Folgenden sollen zwei Grenzen skizziert werden:
Kants Sichtweise betont eine individuelle moralische Pflicht, welche jedoch als unzureichend charakterisiert werden kann. So liegt die Verantwortung für klimatische Katastrophen, nicht allein bei Individuen, sondern muss auch von Regierungen und Institutionen getragen werden (Kallhoff 2018, 84). Diese Verantwortungspflicht ergibt sich aus der globalen Dimension ökologischer Schäden, deren Auswirkungen über nationale Grenzen hinausreichen, sowie aus der Notwendigkeit, sozialgerechte Lösungen für die betroffenen Bevölkerungsgruppen zu gewährleisten.
Darüber hinaus sollte auch das Ungleichgewicht zwischen dem globalen Norden und Süden in die Überlegungen mit einbezogen werden. Zeigt sich insbesondere in ressourcenstarken Ländern des Südens, dass klimatische Folgeschäden große Teile der Region unbewohnbar machen, (World Bank). Kant selbst beschreibt keine Mechanismen, die eine solche Verantwortlichkeiten zwischen Staaten regeln.
Die Debatte über staatliche Verantwortung für Nachhaltigkeit überschneidet sich dabei mit Theorien globaler Gerechtigkeit, wie sie von kosmopolitischen Philosophen wie beispielsweise Charles Beitz und Thomas Pogge vertreten wird. Durch die Nähe zur kantianischen Tradition, kommt die Frage auf inwiefern die dargelegte Interpretation die Debatte der globalen Gerechtigkeit beeinflussen würde? So könnte Kants anthropozentrische Ordnung durch seine Naturgedankenn zu einer holistischen Weltanschauung erweitert werden. In dieser wäre auch die nicht-menschliche Natur zentraler Bestandteil, und könnte auch in eine moderne Theorie der Nachhaltigkeit in die Gerechtigkeitstheorie eingebunden werden. Dies wirft wiederum die Frage auf: Muss Kant eine Theorie der Nachhaltigkeit wirklich direkt ansprechen?
V. Können wir von Kant etwas über Nachhaltigkeit lernen?
Auch wenn Kant keine ausgereifte Theorie der Nachhaltigkeit liefert, eröffnet seine Philosophie dennoch Möglichkeiten, Dimensionen der Nachhaltigkeit zu adressieren. Seine Ideen zur Ästhetik, insbesondere zur Erfahrung des Erhabenen, könnten zu einem tieferen Verständnis unserer Beziehung zur Natur führen. Dabei hilft die Erfahrung der Natur als Erhabenes uns, unsere Abhängigkeit von der Natur zu erkennen, während wir gleichzeitig unsere moralische Überlegenheit und Unabhängigkeit von der Natur erfahren. Diese doppelte Erfahrung kann eine Grundlage für ein ökologisch bewussteres Leben legen. Darüber hinaus könnten die in Kant erkennbaren Ansätze zu einer ganzheitlicheren Beziehung zwischen Menschen und Natur führen.
Die Autor:innen
Ana Felice Marchlewski studiert an der Universität Passau Staats- und Rechtswissenschaften. Sie ist studentische Hilfskraft an der Professur für Angewandte Ethik.
Christeen Susan Baiju absolvierte an der Amity University Kolkata (Indien) Economics B.Sc. (with Honours). Sie studiert aktuell Economics M.Sc. an der Universität Bonn.
Ferdyani Atikaputri absolvierte an der Universität Gadjah Mada (Indonesien) Economics B.Sc.. Sie studiert aktuell Development Studies M.A. an der Universität Passau.
Irina Percemli absolvierte an der Ankara University International Relations B.A.. Sie ist Absolventin des gemeinsamen Masterprogramms European Politics M.A. an der Leiden University, Charles University und Jagiellonian University.
Rahel Osterheld absolvierte an der University of Applied Sciences Kufstein und BBA INSEEC Bordeaux International Economics B.A.. Sie studiert aktuell Legal Tech (LL.B.) an der Universität Passau.
Robin Kurt Hölzer absolvierte Kulturwirtschaften B.A. an der Universität Passau.
Sabine Lörner studiert European Studies (Major) B.A. und Staatswissenschaften B.A. an der Universität Passau und Sciences Po Grenoble.
Valerie Pichlmayr absolvierte Legal Tech (LL.B.) an der Universität Passau.
Literaturverzeichnis
BP Group (2024): Our sustainability aims, https://www.bp.com/en/global/corporate/sustainability/our-aims.html [aufgerufen am 04.09.2024].
Breitenbach, Angela (2022): Kant on the Value of Nature, in: Studi Kantiani 2022, No. 35, S.1-16.
European Environmental Agency (2024): Sustainability, https://www.eea.europa.eu/en/topics/at-a-glance/sustainability [aufgerufen am 04.09.2024].
Kallhoff, Angela (2018): Learning to Conceive of Climate Change as a Truly Global and Moral Problem, in: Buchhammer, Brigitte (Hrsg.): Re-Learning to be Human in Global Times. Challenges and Opportunities from the Perspectives of Contemporary Philosophy of Religion, Washington DC: Council for Research in Values and Philosophy.
Kant, Immanuel (1987): Critique of Judgment. Including the First Introduction, Indianapolis: Hackett Publishing Company.
Kant, Immanuel (1996): Practical Philosophy, New York: Cambridge University Press.
Lucht, Marc (2007): Does Kant Have Anything to Teach Us about Environmental Ethics?, in: American Journal of Economics and Sociology 2007-01, Vol.66 (1), S. 127-129.
SHEIN (2024): Our Impact, https://www.sheingroup.com/our-impact/ [aufgerufen am 04.09.2024].
World Bank (2021): Projected share of internal climate migrants displaced worldwide by 2050, by region, https://www.statista.com/statistics/1274756/climate-migration-share-population-region-scenario/ [aufgerufen am 05.12.2024].
von Carlowitz, Hans Carl (1713): Sylvicultura Oeconomica. Oder Haußwirthliche Nachricht und Naturmäßige Anweisung Zur Wilden Baum-Zucht, Leipzig: Braun.
[1] Für einen Überblick siehe Breitenbach 2020.