Von gestern: Kants Bild des Judentums
Von Marco Schendel (Erlangen)
Kants Bild des Judentums ist von gestern. So kommt es uns heute vor. In bestimmter Hinsicht war es das aber bereits zu Kants Zeiten. Kants Maßstab für die Einschätzung des Judentums ist seine moralisch zentrierte Vernunftreligion. Alle Teile von Religion und religiöser Praxis, die keine Verbindung zur Moral haben, sind für Kant überflüssiges, schädliches Beiwerk. Nach Kant besteht das Judentum ausschließlich aus diesem Beiwerk: aus Statuten, juridischen Gesetzen, Ritualen. Die Moral komme gar nicht in den Blick. Kant sieht für das Judentum nur einen Weg, um zur Vernunftreligion zu gelangen: Man müsse den „alten Kultus abwerfen“ (AA VII, 53). Kant weiß, dass das einer Selbstaufgabe gleichkommt. Die vernunftreligiöse Transformation des Judentums ist ein Absterben hin zur Vernunftreligion. Kant spricht in diesem Sinn von der „Eu-thanasie des Judentums [sic]“ (AA VII, 53). Natürlich kann Kant aufgrund dieser Formulierung nicht als Vorbote des Holocaust gelten. Aber die Formulierung lässt sich auch nicht einfach abschütteln. Zu Recht jagt sie uns heutigen Leserinnen und Lesern einen ungeheuren Schrecken ein. Abgesehen davon gibt es bereits im Zeitalter der Aufklärung überzeugendere philosophische Konzeptionen des Judentums. Dazu zählt die Theorie von Moses Mendelssohn, die er in Jerusalem (1783) entwickelt, für das Kant Mendelssohn im Übrigen brieflich ein Lob übermittelt. (Das Lob macht mäßig Sinn und ist nur möglich, weil Kant Mendelssohn in seinem eigenen Sinn interpretiert). Mendelssohn hält am jüdischen Zeremonialgesetz fest, verweist auf eine unbedingte Religionsfreiheit und stellt die Vernünftigkeit des Judentums heraus, welche die des Christentums noch übersteige. Bei Bildern von Judentum und Juden in der Aufklärung ist auch an Gotthold Ephraim Lessing zu denken. Im Lustspiel Die Juden (1749), noch weit vor seinem Nathan (1779), gibt er die moralischen Vorbehalte gegenüber Juden der Lächerlichkeit preis. Die Räuber im Stück sind Christen, die sich als Juden verkleiden, sich falsche Bärte anstecken. Ihr Überfall wird von einem moralisch integren Reisenden vereitelt, der, wie man am Ende erfährt, Jude ist. Allerspätestens ist Kants Bild des Judentums aber mit Hermann Cohens Studie Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums (1919/29) überholt. Als jüdischer Philosoph und Neukantianer bringt Cohen das scheinbar Unversöhnliche – Kantianismus und Judentum – zusammen.