Fatalismus 4.0 – eine Polemik

von Birgit Beck (Berlin)

„ANN, AAL, LMAA...“ (frei nach den Fantastischen Vier) 

Digitalisierung macht alles besser. Noch viel besser macht alles Künstliche Intelligenz (KI). Vielleicht nicht für die tausenden von Mitarbeiter*innen der großen Automobilkonzerne, die in absehbarer Zeit ihre Arbeitsplätze verlieren werden, aber womöglich doch für die Verkehrsteilnehmer*innen, die bald in selbstfahrenden Autos (was übrigens semantischer Unsinn ist: ein Automobil ist ja wörtlich genommen bereits ein sich selbst – mit nur noch metaphorischen PS – Bewegendes) unterwegs sein werden, da ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen, wie uns der zuständige Verkehrsminister gemahnt, zwar „gegen jeden Menschenverstand“ verstößt, autonome Flugtaxis, wie die Staatsministerin für Digitalisierung wohl in Reminiszenz an Marty McFly – alternativ den flugtaxifahrenden Chauffeur Bruce Willis oder seine deutsche Parodie Til Schweiger – vorgeschlagen hat, aber möglicherweise nicht gegen jegliche künstliche Vernunft.

Viel besser wird auch die Schulbildung werden, nachdem der deutsche Bundesrat den Weg für den Digitalpakt freigemacht hat und somit alle Schüler*innen bald eine hervorragende Wischkompetenz auf den von den Kultusministerien zur Verfügung gestellten Tablets erwerben können – dies sollte auch ein adäquater, wenngleich wenig klimaneutraler Anreiz sein, freitags wieder regelmäßig den Unterricht zu besuchen, anstatt für die tätige Umsetzung gutmenschentümlerischer Klimaziele zu demonstrieren, die sich wohl verwirrte Berliner (Soja-)Latte-Macchiato-Fraktionsangehörig*innen ausgedacht haben, die nicht nur dem Individualstraßenverkehr, sondern offenbar sogar der traditionellen Leitkultur des Grillens abhold sind und nicht einmal wissen, ob sie sich, sofern die hygienischen Zustände dies erlauben, in ihren genderkonformen Einheitstoiletten hinsetzen dürfen, um die gesundheitsapostelige Bioplörre wieder loszuwerden (Quelle: AKK). Immerhin wird das intelligente WC der Zukunft die Hinterlassenschaften gleich analysieren, entsprechende Vitaldaten aufzeichnen und an das Gesundheitsversorgungssystem weiterleiten. Doc Bot wird sich ihrer annehmen und e-postwendend die Versicherer über das nötige Downgrade und entsprechende kompensatorische personalisierte Bonuspunkt-Anreizmöglichkeiten informieren, die den freiwillig selbstquantifizierenden Datenspender*innen praktischerweise per Apps oder Wearables zur Verfügung gestellt werden können.

Auch das Philosophiestudium wird durch künstliche Intelligenz endlich reformiert werden. Der verstaubte elfenbeinerne Kanon wird durch „Digitale Ethik“ ergänzt, was nicht heißen soll, dass Moral nur noch im Netz stattfinden wird (bezüglich der „Netiquette“ gäbe es tatsächlich Nachholbedarf für manche Staatsoberhäupter und andere Trolle), sondern dass in einer transdisziplinären Anstrengung „Leitplanken“ zur Abwendung etwaiger juristischer Schritte gegen KI-Unternehmen oder digitale Personen wie autonome Roboter ausgearbeitet werden sollen, deren eine bereits mit Bürgerrechten ausgestattet ist, von denen manche Vertreterinnen der Spezies Homo sapiens (?) nur träumen können. Angehende Philosoph*innen haben also endlich eine gesellschaftlich sinnvolle Aufgabe und müssen nicht mehr befürchten, ihr späteres Berufsleben als unterbezahlte (Flug-)Taxifahrer*innen zu fristen (alternativ können sie natürlich auch den neuen Traumberuf „Influenzer“ anstreben). Für die Studierenden wird sich der Vorteil ergeben, keine langweiligen Präsenzveranstaltungen mit Face-to-Face-Kommunikation und geistig anstrengender Reflexions- sowie Diskurspraxis in schlecht ausgestatteten Seminarräumen mehr besuchen zu müssen, sondern die Vorlesungen online abrufen zu können, wenn es ihre durch diverse Nebenjobs beanspruchte Zeit erlaubt. Praktisch auch, dass sie sich die nötige Infrastruktur zudem noch selbst in ihr Mietkabuff stellen. (Humanistisch gesinnte Geister mögen allerdings vermuten, dass das durch Learning Analytics optimierte Lernen möglicherweise nur ein Irrweg in der Entwicklung zum Digital Naïve ist.) Idealerweise werden irgendwann die Dozent*innen durch selbstlernendeund selbstlehrende – Systeme ersetzt, die Zugriff auf eine unvergleichlich größere Datenbank an Wissen haben, als ein menschliches Gelehrtengehirn je abspeichern könnte.

Zugegeben, bis dato schlägt der verblichene kluge Hans aktuell verfügbare Deep-Learning-Systeme noch in punkto Cleverness, aber das ist kein Grund, das Pferd mit dem Bade auszuschütten. Angesichts der Erfolge von Deep Mind, AlphaGo und generell der rasanten Entwicklung künstlicher neuronaler Netze (artificial neural networks: ANN) ist durchaus Optimismus hinsichtlich des baldigen Eintretens der „Singularität“ angebracht, dem Zeitpunkt, ab dem die künstliche Intelligenz die menschliche uneinholbar überholt haben wird und die Menschheit sich endlich zur Ruhe setzen kann. Nur: Was machen wir dann? Wird das nicht furchtbar langweilig werden?

Au contraire! Virtuelle Welten werden uns einladen, die Gameifizierung unseres Lebens zur Vollendung zu bringen, während intelligente Umwelten, Häuser und Wohnungseinrichtungen (ambient assisted living: AAL) auf uns aufpassen und etwaige Unfallgefahren abwenden werden (laut wikipedia passieren 73 % aller Unfälle in der Freizeit bei Haushalts-, Heimwerker- und Gartenarbeiten). Intelligente Kühlschränke werden uns eine gesundheits- und umweltbewusste Menüfolge vorschlagen, deren Zutaten beim digitalen Lieferservice automatisch bestellt und von der Drohne unseres Vertrauens angeliefert werden. Möglicherweise wird sich unter vereinzelten urbanen Unverbesserlichen eine Retro-Bewegung entwickeln, die darauf besteht, noch selbst zu kochen (rofl), aber eine solche analog-konservative Rückständigkeit wird sich mit der Zeit auf biologischem Wege erledigen. Bis dahin werden sich Paro, Careobot und Co. um die alzheimernden Hippie-Datenschützer*innen kümmern, die in großbrüderlichen Pflegeeinrichtungen vor sich hindämmern, was gleichzeitig die Probleme des notorischen Pflegenotstands und der wirtschaftsfeindlichen Einführung eines europäischen Mindestlohnstandards lösen wird. Spätere Generationen der datenschutzbefreiten Digital Natives werden mit vorgestrigen Vorstellungen von Privatheit und Intimsphäre hoffentlich weniger Schwierigkeiten haben (bzw. solche machen).

Als uns die Welt noch zu Füßen lag, weil wir darauf standen, in den späten 1990er Jahren, war diese segensreiche Entwicklung noch nicht in derartiger Dimension absehbar. Heute stehen wir vielleicht nicht mehr felsenfest auf der (bzw. die) sich rapide verändernde(n) Welt, dafür aber an der Schwelle zu einem neuen digitalen Zeitalter, über dessen Vorzüge und Gefahren intellektuelle Prophet*innen gerne öffentlich spekulieren. Falls sich die Frage der Finanzierung eines bedingungslosen (nun ja, die Bedingung wäre natürlich letztlich die Realisierung des „gläsernen Menschen“, aber man kann eben den digital-grundrechtlichen Marmorkuchen nicht gleichzeitig behalten und essen) Grundeinkommens irgendwie lösen lassen wird, steht einem ungetrübten Genuss hervorragender Innovationen auch auf kulturellem Sektor nichts mehr im Wege. Starke KIs sind bereits kreativ und künstlerisch tätig; sie schaffen nicht nur Wissen, sondern auch beeindruckende musikalische Werke und Gemälde, was die trübe Aussicht darauf, dass die Menschheit ohne genetisches Enhancement wohl absehbar keine neuen Einsteins, Mozarts und da Vincis mehr hervorbringen wird, durchaus aufzuhellen verspricht.

Insgesamt lässt sich konstatieren, dass die gute alte „natürliche“ Intelligenz aller Voraussicht nach bald ausgedient haben wird, allen philosophischen Unkenrufen, Chinesischen Zimmern und anderen selbstbewusstseinschauvinistischen Gedankenexperimenten der analytischen Philosophie des Geistes zum Trotz. Hoffen wir, dass eine benevolente künftige KI uns diese anthropozentrische, kindlich-schmollende Abwehrhaltung eines Tages nachsehen wird, damit der Traum von der schönen neuen Welt endlich Wirklichkeit werden kann. In diesem Sinne: „Digitalisierung first – Bedenken second“. Mit freundlichen Grüßen…

Birgit Beck ist Juniorprofessorin und Leiterin des Fachgebiets „Ethik und Technikphilosophie“ an der TU Berlin