Selber denken macht schlau – was man aus der (Philosophie)Geschichte (nicht) lernen kann
von Bettina Bohle (Bochum)
Spricht man von Philosophiegeschichte oder historischer Philosophie – was meint man dann genau? Das ist ja ähnlich wie wenn man über etwas Zeitgenössisches spricht und es von etwas Historischem unterscheidet. Grundsätzlich heißt das nur: nicht JETZT. Früher. Wie viel früher und was dieses „Früher“ über den bloßen Zeitpunkt hinaus, der vor dem jetzigen liegt, bedeutet, ist erst einmal nicht notwendig festgelegt.
Historische Philosophie meint meist das Betrachten dessen, was Philosophen, die nicht zeitgenössisch sind, also nicht JETZT leben, gedacht, gesagt, geschrieben haben. Genauer gesagt: ihre philosophischen Ideen, Argumente, Theorien. Darauf bezieht sich die Philosophiegeschichte, die diese Einzelpositionen zueinander in Beziehung setzt, miteinander vergleicht, Ähnlichkeiten und Unterschiede feststellt. So weit, so einfach. Darin, in diesem zeitlichen Aspekt, unterscheidet sich Philosophiegeschichte nicht von Literaturgeschichte. Der historische Blick war für mich persönlich insofern immer wichtig, als er eine gewisse Demut mit sich bringt gegenüber vermeintlich neuen Ideen: Vieles ist schon gedacht und bedacht worden, das Rad muss nicht beständig neu erfunden werden, vielfach hilft ein Blick in die Literatur, in die Geschichte.
Doch ist die Philosophie nicht eine Wissenschaft wie jede andere. Philosophie heißt selber denken, so z.B. Immanuel Kant in seinen drei Regeln fürs Philosophieren. In diesem Sinne müsste man überhaupt keine historischen (oder anderen zeitgenössischen) Philosophen und ihre Ideen zur Kenntnis nehmen. Sondern sich nur hinsetzen und selber denken. Worüber denken? Wittgenstein spricht von der Philosophie als der Klärung des je schon Verstandenen. Ein Lieblingsbeispiel meines Vaters, der sich sein ganzes Leben mit Philosophie auseinandergesetzt hat, ist das von Augustin – wenn niemand fragt, was Zeit ist, weiß man es, wenn aber jemand fragt: was ist die Zeit? Dann weiß man es nicht oder dann ist das gar nicht so einfach zu sagen.
Selber denken, selbst das je schon Verstandene klären – und wo bleiben da die anderen Philosophen, wo die Philosophiegeschichte? Warum also sollte man auf Basis dieser Definition (historische) Philosophen lesen? (Lesen als Weg der Rezeption, denn v.a. bei historischen Philosoph*innen ist es unmöglich mit ihnen zu diskutieren.)
Ein Grund: Weil in diesen Schriften das selber Denken vorgemacht wird. Man kann an ihnen beispielhaft lernen was es heißt selbst zu denken. Und da sind eigentlich Philosophen aller Zeiten zunächst gleich gut oder gleich schlecht, dass sie älter sind, macht sie in dieser Hinsicht nicht schlechter. Es ist also nicht wie in den Naturwissenschaften, wo Forschungsliteratur schon von vor zehn Jahren inzwischen veraltet ist. Deswegen werden auch heute noch Platon, Aristoteles, Augustinus, Thomas von Aquin, usw. gelesen.
Doch häufig verbindet sich mit dem Stichwort historische Philosophie auch etwas Abwertendes, gleichbedeutend mit: für uns heute nicht mehr systematisch relevant. Systematisch bedeutet hier: für die Klärung der Sache an sich. Dafür ist nicht relevant, was je jemand dazu gedacht hat, wie er (seltener: sie) zu diesem Standpunkt gekommen ist, was Argumente für und wider diese HISTORISCHEN Positionen sind. Vielmehr zählt für das Systematische nur, was die Sache selbst betrifft. Historische Positionen und Philosoph*innen wären auf dieser Basis nur noch von einer Art ethnologischem Interesse: ‚interessant, was diese Leute zu dieser Zeit gedacht haben, das ist aber komplett anders als unsere Denke’
Die übliche Unterscheidung von Philosophie und philosophischen Arbeiten in historisch und systematisch kann aber immer wieder hinterfragt und angefochten werden: Elisabeth Anscombe, Bernard Williams und andere Philosoph*innen des 20. Jh. hielten Positionen von Aristoteles, insbesondere im Bereich der Ethik, für so anschlussfähig, dass sie sich und ihre Tugendethik in einer direkten Linie mit ihm sahen. Überhaupt hat insbesondere Aristoteles über die Zeiten hinweg immer wieder direktes (selber) Weiterdenken inspiriert, während Platon häufig eher antithetisch gewirkt hat, es also vielfach neue philosophische Positionen in expliziter Abgrenzung von Platon gab.
Dabei hat gerade Platon sich sehr viele Gedanken über das Selber-Denken gemacht. Seine so genannte Schriftkritik hat dazu geführt, dass er statt Traktaten Dialoge verfasste. Nun gibt es zahlreiche Menschen, ich gehöre dazu, die die Dialoge Platons recht steif und unrealistisch in ihrer Abbildung angeblich realer Gespräche finden. Und doch hat Platon einen wichtigen Punkt erkannt: das eigene Nachvollziehen philosophischer Argumente kann einem niemand abnehmen. Wenn ein philosophischer Text Thesen vorbringt und für diese argumentiert, dann muss Leser*in diese Argumente genauso selbst nachvollziehen, wie man bei einem platonischen Dialog wie z.B. dem „Gorgias“ selbst herausfinden muss, wie eigentlich die Diskussion um Rhetorik und diejenige um das gute Leben zusammenhängen (kleiner Hinweis: es könnte damit zu tun haben, dass reden über etwas immer Kenntnis von diesem etwas, der Sache, über die geredet wird, erfordert. Empfehlungen im Bereich gut und schlecht, wie Redner wie Gorgias sie geben, betreffen das für den Menschen Gute [bzw. Schlechte] und dies erfordert Kenntnis dessen, was ein Mensch für Möglichkeiten und Fähigkeiten hat, um daraus abzuleiten, worin das gute Leben bestehen könnte). Platons Texte lassen einem, anders als andere philosophische Texte, keine Wahl als zwischen all den auftretenden Dialogcharakteren mit all ihren unterschiedlichen Meinungen, Thesen und Meinungsänderungen sich selbst ein Bild zu verschaffen und selbst zu klären, was stichhaltige Argumente sind.
Einschränkend muss bemerkt werden, dass viele historische Philosophien als Hintergrund ein metaphysisches Weltbild mit sich bringen, seien das Gott als der bestimmende Faktor oder die platonischen Ideen mit ihren Maßgaben. Ein solch metaphysischer Zugang gilt heute (meist) als überholt (dass es das oder ein „Wesen des Menschen“ gibt, wie es z.B der „Gorgias“ voraussetzt, ist heute vielfach umstritten). Die damit verlorene Grundsicherheit und Bestimmtheit des Universums muss argumentativ anders eingeholt werden, wie es z.B. Wittgenstein mit seinem antimetaphysischen Nachdenken über den Zusammenhang von Sprache und Welt getan hat (Wittgenstein hat übrigens, außer Platon, kaum andere Philosophen gelesen).
Bestimmte Probleme, wie sie z.B. in Bereichen der Neonatologie oder Sterbehilfe, bei automatischem Fahren, Big Data oder künstlicher Intelligenz und ihren (ethischen) Folgen auftreten, sind erst kürzlich aufgetreten durch die Entwicklung der entsprechenden Technologien. Hier hilft der Blick in die Geschichte scheinbar nicht. Viele der Fragestellungen mögen neu sein, die darin enthaltenen Grundfragen sind teilweise aber früheren grundsätzlichen Fragestellungen nicht unähnlich. Schon Aristoteles hat z.B. darüber nachgedacht, was eigentlich Leben ist. Seine Überlegungen zu dynamis und energeia mögen für ein Nachdenken über Föten und ihre potentiellen wie aktuellen Möglichkeiten hilfreich sein. Das aber muss immer wieder neu argumentiert, neu (selbst) bedacht werden. Am Ende muss jede*r selbst wissen, was von Interesse für die eigene Person und das eigene Nachdenken ist.
Dr. Bettina Bohle ist als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Ruhr-Universität Bochum beschäftigt. Sie studierte Musik/Musikwissenschaft, Gräzistik und Philosophie in Glasgow, Greifswald, Padua und London.