28 Sep

Grammatik und Gewissheit. Für einen befreiten Wittgenstein

Von Ulrich Metschl (Innsbruck)


Mit gerade einmal einhundert Jahren seit Erstveröffentlichung nimmt sich Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung – der Tractatus – unter den klassischen Werken der Philosophie fast noch wie ein Neuzugang aus. Doch vielleicht ist ein Jahrhundert genau der passende Abstand zu fragen, was vom Tractatus, und wenn wir schon dabei sind: von Wittgensteins Philosophie überhaupt, an bleibenden Einsichten zu würdigen ist. Oder, wenn wir dem Urteil zukünftiger Generationen nicht vorgreifen wollen, was an Wittgenstein zumindest heute noch philosophisch belangreich erscheint.

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21 Sep

Seine Geschichte der Philosophie. Zum Alterswerk von Jürgen Habermas

Vittorio Hösle (University of Notre Dame, USA)


Für alle eine Überraschung war es für viele ein erneuter Anlass zur Bewunderung und für einige wohl auch ein kleines Wunder, als Jürgen Habermas mit seinem umfangreichen Alterswerk: Auch eine Geschichte der Philosophie (2 Bände, Suhrkamp 2019) nochmals die Summe aus seinem Schaffen und dem seiner Zunft zu ziehen unternahm. Die Resonanz war groß, wie zu erwarten vielstimmig und doch immer auch von der Verlegenheit begleitet, die knapp 1700 Seiten überhaupt angemessen würdigen zu können. Vittorio Hösle hat es in der Philosophischen Rundschau, anlässlich des neuen Hermeneutik-Sonderhefts, nun auf sich genommen, auf immerhin knapp 40 Seiten eine eingehende Besprechung zu verfassen, die sich zugleich als Antwort auf Habermas philosophisches Epochen- und Weltbild versteht. Im folgenden Beitrag, einem repräsentativen Auszug, findet sich eine Art Resümee der Auseinandersetzung, die insbesondere das Verhältnis von Glauben und Wissen bei Habermas kritisch pointiert. (Anmerkung der Redaktion)

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14 Jul

Mind the GAP, Teil II

Zur Preisfrage 2021 der GAP: “Was haben Platon, Kant oder Arendt besser verstanden als die gegenwärtige analytische Philosophie?”

Von Daniel-Pascal Zorn und Martin Lenz


Die diesjährige Preisfrage der GAP scheint auf das Verhältnis der gegenwärtigen analytischen Philosophie zur Geschichte zu zielen. Die Frage ist wichtig, hat in der gegebenen Form jedoch zumindest in den sozialen Medien ein gewisses Erstaunen ausgelöst. Da wir an einem Dialog über diese Frage interessiert sind und rasch feststellten, dass unsere Bedenken konvergieren, haben wir uns entschlossen, zwei Dinge zu tun: Erstens möchten wir die Vorannahmen der Frage näher betrachten (Teil I hier); zweitens möchten wir Kriterien möglicher Antworten ausloten.

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12 Jul

Mind the GAP, Teil I

Zur Preisfrage 2021 der GAP: “Was haben Platon, Kant oder Arendt besser verstanden als die gegenwärtige analytische Philosophie?”

Von Martin Lenz und Daniel-Pascal Zorn


Die diesjährige Preisfrage der GAP scheint auf das Verhältnis der gegenwärtigen analytischen Philosophie zur Geschichte zu zielen. Die Frage ist wichtig, hat in der gegebenen Form jedoch zumindest in den sozialen Medien ein gewisses Erstaunen ausgelöst. Da wir an einem Dialog über diese Frage interessiert sind und rasch feststellten, dass unsere Bedenken konvergieren, haben wir uns entschlossen, zwei Dinge zu tun: Erstens möchten wir die Vorannahmen der Frage näher betrachten; zweitens möchten wir Kriterien möglicher Antworten ausloten.

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06 Feb

Warum (schon lange) tote Philosophen lesen?

Von Achim Vesper (Frankfurt am Main)

Philosophie hat es mit Problemen zu tun, die wir mit unseren Zeitgenossen teilen. Was sollte dagegen sprechen, die Probleme in einer Sprache zu beschreiben und nach Standards zu untersuchen, mit denen auch unseren Zeitgenossen bekannt sind? Philosophiehistoriker mögen dagegen einwenden, dass die Grenzen der Zeitgenossenschaft in der Philosophie besonders weit gezogen sind, da die meisten Probleme, mit denen sich Philosophen beschäftigen, keine neuen, sondern alte Probleme sind – es sind die gleichen Probleme, mit denen sich Philosophen auch in der Vergangenheit beschäftigt haben.

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07 Jan

Neutralität: Ein hartnäckiger Mythos (nicht nur) in der Philosophiegeschichtsschreibung

Von Martin Lenz (Groningen)

Neutralität gilt vielen als eine zentrale Tugend in den Wissenschaften. Obwohl die Idee, dass Wissenschaft völlig wertfrei sein könne, wiederholt und einschlägig kritisiert wurde, wird Neutralität gerade in den letzten Jahren immer wieder eingefordert. Während wissenschaftsfeindliche Populist*innen gerne behaupten, dass in den Wissenschaften „linksgrüne“ Parteilichkeit herrsche, gehen Vertreter*innen aus der Wissenschaft nicht selten in die Defensive, indem sie behaupten, diese habe „keine Agenda“. Eine vergleichbare Neutralitätsidee gibt es auch unter Philosophiehistoriker*innen. Sie findet sich vor allem in der Forderung, Historiker*innen müssten Anachronismen vermeiden. Die Idee ist folgende: Wenn Sie etwa ein Argument oder eine These von Spinoza rekonstruieren, müssen Sie darauf achten, Spinoza keine Annahmen zuzuschreiben, die er nicht auch selbst hätte akzeptieren können. Behaupten Sie zum Beispiel, Spinozas Annahmen über den Geist müssen sich an neurowissenschaftlichen Thesen messen lassen, so scheinen Sie sich schon schlicht deshalb des Anachronismus schuldig zu machen, weil es zu Spinozas Zeiten keine Neurowissenschaften gab. Nun ist diese Begründung natürlich trivial. Aber der Vorwurf ist nicht nur der, dass Sie die technologischen Entwicklungen ignorieren. Vielmehr geht es um die Wertmaßstäbe, die Sie bei der Evaluation von Argumenten anlegen. Die eigentliche Frage ist, ob neurowissenschaftliche Überlegungen einen angemessenen Kontext für die Rekonstruktion Spinozas bieten. Hier haben sich in den vergangenen Jahren zwei Lager herausgebildet: der Kontextualismus und der Appropriationismus bzw. der rationale Rekonstruktionismus. Während letzterer von gegenwärtigen Standards ausgeht und die Aneignung von historischen Argumenten betreibt, insistiert ersterer auf der Berücksichtigung der historischen Gegebenheiten. Ausschlaggebend bei unseren Interpretationen soll nicht das sein, was wir für richtig halten, sondern die Bedingungen, die sich aus den relevanten Kontexten ermitteln lassen. Kürzlich hat Christia Mercer sogar behauptet, dass die Auseinandersetzung zugunsten des Kontextualismus entschieden sei, da inzwischen selbst Appropriationist*innen historische Wahrheiten nicht ignorieren wollten. Zwar erschöpft sich der Kontextualismus keineswegs in Annahmen über historische Neutralität oder Objektivität, doch kann Mercers Aufsatz über die „kontextualistische Revolution“ durchaus als Zurückweisung des anachronistischen Appropriationismus gelesen werden.* Im folgenden möchte ich zumindest andeuten, warum ich glaube, dass die hinter dem Kontextualismus liegende Idee von Neutralität auf einem Mythos beruht.

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05 Dez

„Vermännlichung“ und „Androgyn-Werden“ – Zwei Ideale menschlicher Vortrefflichkeit in den neuplatonischen Schriften. Teil 2: Das Androgyn-Werden der Seele

Von Jana Schultz (Berlin)

Im ersten Teil meines Blogbeitrags habe ich dargelegt, dass die Neuplatoniker für die Gleichheit der Tugend von Männern und Frauen argumentieren, jedoch innerhalb eines ontologischen Systems, das stets das Männliche bevorzugt. Im Metaphysischen ist die männlich konnotierte Grenze der weiblich konnotierten Unbegrenztheit (Kraft) überlegen und im Bereich der Seele ist die männlich verstandene Kontemplation den auf das Wahrnehmbare bezogenen Tätigkeiten der Seele überlegen, die weiblich gedacht werden.

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03 Dez

„Vermännlichung“ und „Androgyn-Werden“ – Zwei Ideale menschlicher Vortrefflichkeit in den neuplatonischen Schriften. Teil 1: Die Vermännlichung der Seele

Von Jana Schultz (Berlin)

Seit ungefähr drei Jahren arbeite ich an den Konzepten der „Frau“ und des „Weiblichen“ in den Schriften der neuplatonischen Philosophen. Mein Interesse ist philosophiehistorischer Natur. Ich frage nicht primär: „Wie verstehen wir die Konzepte „Männlich“ und Weiblich“, oder wie sollten wir diese verstehen? Kann uns der Neuplatonismus hier Hinweise liefern?“, Stattdessen stelle ich mir Fragen wie: „Wie konzeptualisiert der Philosoph Proklos das Weibliche in seinen metaphysischen Schriften? Ist sein Konzept innerhalb einer Schrift oder im Vergleich verschiedener Schriften konsistent oder finden Verschiebungen statt?“

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22 Okt

Frauen in der Philosophiegeschichte?

von Karen Koch (Berlin) und Thomas Hanke (Frankfurt)

„Wenn sie an die Philosophie denken, denken viele an die großen Philosophen (ja, fast ausschließlich an die Männer)“ – so steht es in der Ankündigung der Initiator*innen zum Thema „Philosophie & Geschichte“. Diese Bemerkung scheint zutreffend zu sein, und dies nicht etwa nur mit Blick auf philosophische „Laien“, sondern auch mit Blick auf die Situation von akademischen philosophischen Einrichtungen; nicht nur das wissenschaftliche Personal ist noch überwiegend männlich, sondern auch die Auseinandersetzung mit philosophischen Theorien in Forschung und Lehre gilt – zumindest in der Philosophiegeschichte – fast ausschließlich als eine Auseinandersetzung mit männlichen Repräsentanten unserer Disziplin.[1]

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08 Okt

Wie egoistisch ist der Mensch? Gottfried Wilhelm Leibniz über Eigennutz, Motivation und Nächstenliebe

Von Julia Borcherding (Cambridge) und Julia Jorati (Amherst)

Kann der Mensch völlig selbstlos handeln? Manche bezweifeln das und behaupten, alle unsere Handlungen und Entscheidungen seien letzten Endes eigennützig. Wenn jemand zum Beispiel Geld spende oder anderen Menschen helfe, tue er das hauptsächlich für das gute Gefühl, das es ihm bringt—oder gegen das eigene schlechte Gewissen. Vielleicht ist reine Selbstlosigkeit für uns sogar psychologisch unmöglich: Wir können nur das tun, was letztlich in unserem eigenen Interesse zu sein scheint. Diese These wird oft „psychologischer Egoismus“ genannt. Wenn sie wahr ist, kann das beträchtliche Auswirkungen auf die Ethik haben. Wäre es zum Beispiel gerecht, jemanden für eine eigennützige Handlung moralisch verantwortlich zu halten, wenn es tatsächlich psychologisch unmöglich ist, selbstlos zu handeln? Und könnten wir dann überhaupt noch sagen, dass wir manchmal moralisch verpflichtet sind, für das Wohl anderer zu handeln?

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