Einsamkeit als Denk- und Lebensform bei Friedrich Nietzsche
von Raphael Rauh (Freiburg)
Friedrich Nietzsche wird 175 Jahre. Ist das zu alt für uns? Hat seine Philosophie noch die Kraft, uns zu bewegen? Gewisse Aussagen, aus seinem Werk herausgelöst und für bare Münze genommen, haben etwas Geschmackloses und Abstoßendes. Die Art allerdings, wie er fragt und zu antworten versucht, ist zeitlos. Philosophie, wie sie ansteckender und mitreißender nicht sein könnte… Die Aktualität des nietzscheschen Philosophierens lässt sich an Problemen darstellen, die für ihn eine existentielle wie philosophische Herausforderung waren und die auch uns berühren. Eines davon ist die Einsamkeit.
Seit einigen Jahren boomt ein vor allem medizinisch geprägter Diskurs, der chronische Einsamkeit – definiert als das subjektive und schmerzende Gefühl, von anderen getrennt zu sein – als ein Gesundheitsproblem auffasst. Die gesundheitsschädigenden Wirkungen von Einsamkeit seien alarmierend und wir müssten dringend etwas tun, individuell und gesellschaftlich, um diesem Krebsgeschwür unserer Seele den Kampf anzusagen. In regelmäßigen Abständen wird im Feuilleton die (populär-)wissenschaftliche Basis dieser Ansichten aufgegriffen und diskutiert. Auch in der Politik wurde dazu Stellung genommen.
Ob die Auseinandersetzung mit Nietzsches Gedankengut zu diesem Thema inspirierend sein könnte, soll im folgenden Essay nachgespürt werden. Zunächst wird dargestellt, welche Bandbreite der Ausdruck und die Erfahrung der Einsamkeit in Nietzsches Biografie und Werk hat. Von besonderem Interesse erscheinen in diesem Kontext Nietzsches Überlegungen zum Zusammenhang von Einsamkeit und Krankheit. Dann soll nachvollzogen werden, in welchen Kontexten er jene Erfahrung verankert und philosophisch fruchtbar macht: Wer ist überhaupt einsam? Welche ethischen Herausforderungen ergeben sich daraus? Steht Einsamkeit für ihn in einem besonderen Verhältnis zur Selbsterkenntnis? Abschließend werden zwei Schüler Nietzsches erwähnt, welche dessen Denkanstöße fortgeführt haben. Zuletzt soll behauptet werden, dass die herausgestellten Streifzüge der Einsamkeitsphilosophie eine gewinnbringende Ergänzung zum gegenwärtigen Diskurs sind.
Die Einsamkeiten Nietzsches als Form seines Lebens- und Denkweges
Nietzsche hat die Einsamkeit in ihren schwärzesten Abgründe durchlitten und in ihren beflügeltsten Formen gefeiert. Einsamkeit war Denk- und Lebensform der nietzscheschen Geistarbeit.
Als Nietzsche seine Professur in Basel aufgeben musste – wegen Migräne und, modern gesagt, ein bisschen Burnout – machte er sich auf, als freischaffender Intellektueller an entlegenen Orten zwischen den Alpen und dem Mittelmeer der besten Luft und der günstigsten Atmosphäre hinterher zu reisen, nie für längere Zeit an Ort und Mensch gebunden. Bei der Lektüre seiner Briefe lässt sich die schneidende Ambivalenz nachfühlen, die Nietzsche in Bezug auf Einsamkeit durchlebte: Einerseits war sie die (etwas zu) heißgeliebte Voraussetzung für die Vertiefung in die eigene, gefährliche Gedankenwelt, andererseits wird sie auch immer wieder entmutigt und empört angeklagt als ein menschenunwürdiges Fatum.
Im Werk wird die semantische Bandbreite von „Einsamkeit“ als dramaturgischer Kreuzweg entscheidender Gedankengänge inszeniert und deren Vielschichtigkeit fein nuanciert durch Abgrenzungen vom „Alleinsein“ oder der „Verlassenheit“ oder begrifflichen Zuspitzungen, wie der „einsamsten Einsamkeit“ oder der „azurnen Einsamkeit“. In einem späten Nachlassfragment kann Nietzsche sogar festhalten: „ich bin die Einsamkeit als Mensch…“ [NF-1888,25,7] Nietzsche als die zu Mensch gewordene Einsamkeit. Einsamkeit als Essenz des eigenen Wesens – was heißt das?
Einsamkeit und Krankheit
Nietzsche beschreibt den oben geschilderten Bruch in der Biografie, der sich auch als Bruch im Stil und Inhalt seines Werks darstellt, rückblickend – auf seinen Werdegang reflektierend – als einen Prozess der Loslösung und des Genesens. In einer Sentenz aus dem Zarathustra verschränkt er seinen Lebens- und Denkweg: „Des einen Einsamkeit ist die Flucht des Kranken; des Andern Einsamkeit die Flucht vor den Kranken.“ (Also sprach Zarathustra – Auf dem Oelberge.) Diese Sentenz präsentiert sich zunächst als eine alternativlose Entgegensetzung und stößt einen damit vor den Kopf. Manche sind einsam, weil sie krank sind. Andere sind einsam, weil sie die Kranken meiden. Deren Einsamkeit wäre dann eher ein Ausdruck von selbsterhaltender Gesundheit. Nietzsche arbeitet gerne mit plakativen Entgegensetzungen, um dann aber an anderen Stellen seines Werks offenzulegen, dass die Unterscheidungen doch in sich verschlungen sind und zusammengedacht werden müssen. Wir haben keine substantiell einheitliche Seele, die entweder einsam und krank oder einsam und gesund ist. Vielmehr ist unser Seelenleben eine Subjektvielheit, ein komplexes Gewirr aus fordernden und widerstreitenden Trieben und Kräften. So kann man sich fragen, in Bezug auf die zwiespältig erlittene Einsamkeit: welcher Anteil meiner selbst will einsam sein? Ist das ein gesunder Impuls, ist es einer, mit dem ich mich identifizieren kann? Ist dieser Hang zur Einsamkeit eine Flucht vor Verantwortung, oder weiche ich nur schnöden und belanglosen Ansichten über mich und die Welt aus? Kann ich mich in Einsamkeit formen und stabilisieren, so dass es mir guttut, oder verfalle ich in eine trübsinnige Melancholie? Könnte diese ihre Berechtigung haben? Muss ich ausbrüten, was hinter ihr steckt?
Wer ist einsam? Nietzsches Angelhaken…
Der einsame Mensch, wie ihn Nietzsche sich denkt, ist ein irgendwie ungewöhnlicher Mensch (vgl. Schopenhauer als Erzieher – § 3). Er scheint ursprünglich heimatlos zu sein in dem Sinne, dass er in den Werten und Ansichten seiner Zeit keinen Halt findet und daran leidet. Das ist die Geburtsstunde des Philosophen in ihm. Der derartige „Einsame“ ist aber damit nicht sofort gleichgültig, nihilistisch, lieblos, unempfänglich für des Lebens Reize. Vielmehr umgekehrt: Er möchte neue Werte schaffen, Idealen folgen, zu denen er in ein organisches und belebendes Verhältnis treten kann. Nietzsche erfindet sich regelmäßig idealische Figuren und Mitstreiter – den „Wanderer und seinen Schatten“, „Freigeister“, „Zarathustra“ und imaginierte „Freunde“ – deren Zuspruch und Rückhalt ihm ein gutes Stück die Leiden seiner realen Vereinsamung verklären. Und er hofft auf Mitstreiter, die es ihm gleichtun. Immer wieder betont er, dass sein Werk als ein Verführungskunstwerk konzipiert sei, in welchem jene Heimatlosen eine für sie bekömmliche Lebensform exemplarisch vorgelebt bekämen.
Einsamkeit, Selbsterkenntnis und die Moral von der Geschichte
Wer etwas Neues schaffen will, muss in die Einsamkeit, so belegen es Nietzsches Ansicht nach die Lebensläufe von Ausnahmegestalten wie Beethoven und Schopenhauer. Hier löst man sich, leidvoll, von überkommenen Denk- und Wertungsmustern, neue Lebensdeutungen werden entworfen. Was da in Einsamkeit zutage tritt, muss nicht unbedingt ein genialer Gedanke, vertiefte Selbstliebe oder etwas Schönes sein. Viel Schmodder und Schmutz, lässt der Philosoph einen wissen, liegt auf dem zerklüfteten Grunde jeder Seele, wohl dem, der etwas daraus bilden kann…
Der Zusammenhang von Einsamkeit und Selbsterkenntnis ist bei Nietzsche nicht bloß ein pathetischer Gedanke. Einsamkeit ist der intime Resonanzraum seiner Entlarvungspsychologie. Er entdeckt in der Einsamkeit an sich selbst Reaktions- und Deutungsmuster auf Reize aus der (sozialen) Umwelt, die er verallgemeinert und als Konstitutionsmechanismen des Menschlichen, Allzumenschlichen überhaupt aufbauschen kann, ja zur Entstehungsgeschichte des Menschen überhaupt. In der Einsamkeit wird gewissermaßen alles größer, was man in sich birgt. Sie ist – unbeirrt ertragen – wie ein Brennglas auf seelische Regungen und Energien. Durch deren Loslösung aus den gesellschaftlichen Normierungsinstanzen können sie sich dehnen und strecken und in Reinform präpariert und seziert werden. Es treten Gedanken, Gefühle und Regungen ans Licht des Bewusstseins, die im gesellschaftlichen Anteil unserer selbst vermummt und stumm waren. Seine entlarvenden Einsichten zur Wirklichkeit unserer Bosheit und kompensatorischer religiöser Praktiken, die Bedeutung asketischer Ideale für uns, die Psychologie des Ressentiments, der Moral als Rache- und Machtinstrument – ohne den Willen, die vertiefte Einsamkeit für die Reflexion zu nutzen, kaum denkbar.
Fortdenker der Einsamkeit im 20. Jahrhundert
Die Einsamkeit Nietzsches ist freilich nicht unsere. Er entschied sich, den ‚stahlharten‘ Problemen der Modernität den Rücken zuzukehren oder sie aus der Distanz zu verspotten. Fortdenker Nietzsches wie Theodor W. Adorno und Michel Foucault hatten keine andere Wahl, sie mussten das Leiden der Masse als philosophisches Problem ernst nehmen.
Adorno beschreibt eindringlich, wie die Isoliertheit der Subjekte die moderne Lebenswelt prägt und der kapitalistische Geist einer instrumentellen Vernunft die Individuen einkapselt und gegen sich und einander verhärtet (vgl. Adornos Minima Moralia). Foucault spürt ganz analog den Subjektivierungsdynamiken nach, wie sie sich in unserer Gesellschaft vollziehen. Für ihn und Richard Sennett (vgl. Foucault/Sennett: Sexualität und Einsamkeit) ist in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts klar, dass jeder von uns die „Einsamkeit der Differenz“ als Patina des Selbstgefühls mit sich herumträgt, weil wir das Heil unserer Seele über das Dispositiv der Sexualität definieren. Und dass dies eine heillose Verquickung sei, insofern unser Selbstgefühl dadurch zu einem Durchgangs- und Knotenpunkt von gesellschaftlichen Machtstrategien wird, die uns glauben lassen, es gehe um unsere Befreiung, während sie uns eigentlich auf ein biopolitisch rentables Minimum unserer Möglichkeiten reduzieren.
Ausblick
In Anbetracht der zeitlos gültigen und wichtigen Fragen, welche Mächte und Ideale uns ausrichten und was wir für ein emanzipiertes Leben tun können, haben radikale Denkerpersönlichkeiten etwas Befreiendes. Es ist nichts einzuwenden, wenn man Einsamkeit als subjektives Gefühl definiert, von den Mitmenschen getrennt zu sein und daran zu leiden. Man kann diese Erfahrung auch mit physischen und psychischen Krankheiten ‚assoziieren‘.
Für philosophisch angelegte Köpfe ergeben sich daraus allerdings weiterführende Fragen: ist jene moderne Definition der schlechten Einsamkeit nicht eigentümlich reduktionistisch? Ist das so verfänglich einfache Surrogat der guten Gesellschaft, welche jene wettmachen könnte, annähernd realisierbar? Ist es nicht ein Hohn auf die wirklich gravierend Vereinsamten, die Verlierer unserer Gesellschaft, Einsamkeit zu einem individuellen Gesundheitsproblem zu reduzieren? Wie lässt sich das Interesse – jenseits einzelner federführender Subjekte – genauer beschreiben, das hinter diesen Ansichten steckt? Wer oder was denkt hier? Um diesen Fragen weiter nachzugehen, ließe sich eine ergänzende Definition der Einsamkeit als Arbeitshypothese formulieren: Einsamkeit ist der unbehagliche Ausdruck von gesellschaftlichen Subjektivierungsdynamiken unseres Selbst. Die Einsicht in die Mechanismen dieser Dynamiken birgt emanzipatorisches Potential.
Raphael Rauh hat im Fach Philosophie zum Thema Einsamkeit und Moralkritik bei Friedrich Nietzsche und Sören Kierkegaard promoviert. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin in Freiburg und studiert im Zweitstudium Medizin.
Literatur:
Alle für diesen Essay relevanten Verweise auf Nietzsches Werk finden sich auf: www.nietzschesource.org.
Adorno, Theodor W. (2003): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Foucault, Michel/Sennett, Richard (1984): Sexualität und Einsamkeit. Michel Foucault und Richard Sennett. In: Von der Freundschaft als Lebensweise. Michel Foucault im Gespräch. Deutsch von Marianne Karbe und Walter Seitter. Berlin: Merve Verlag, S. 25-55.