Warum eigentlich (nicht) Menschenrechte? – Zum Diskurs über die Klimakrise
Von Christoph Herrler (Erlangen)
Die mit dem anthropogenen Klimawandel einhergehende Erderhitzung ist mit vielen negativen Folgen verbunden. Dies dürfte allen, die naturwissenschaftliche Fakten als solche begreifen, nicht entgangen sein. Diese Folgen lassen sich häufig als Verletzung oder zumindest Bedrohung von Menschenrechten beschreiben. Gleichwohl sprechen die direkt politisch Verantwortlichen – meinem Eindruck nach – beim Klimaschutz eher von Kosten und Nutzen als von Menschenrechten. Wäre ein Umdenken angebracht?
Aus ethischer Perspektive würde ich dies unbedingt bejahen und mit einer zunächst paradox anmutenden Begründung versehen: Mit Menschenrechten kann zugleich einfacher und komplexer für Klimaschutz argumentiert werden als mit ökonomischen Kosten-Nutzen-Rechnungen. Einfacher, weil so weniger die Gefahr besteht, Klimaschutz einseitig zu gestalten und Menschen moralisch ungleich zu behandeln; und komplexer, weil Menschenrechte individuelle Betroffenheit besser abbilden können.
Zunächst zum ‚einfacher‘: Bei Kosten-Nutzen-Rechnungen ist es offenbar üblich, zeitlich zu diskontieren; auch in Berechnungen zum Klimawandel findet sich häufig eine ‚social discount rate‘. Diese bewirkt, so sie größer Null ist, dass künftig anfallender Wohlstand relativ zum gegenwärtigen Wohlstand weniger zählt. Aus ethischer Sicht ist dies nicht nachvollziehbar: Zwar mag es unter gewissen Umständen legitimierbar sein, künftigen Generationen finanzielle Kosten für den Klimaschutz zu übertragen, aber prinzipiell ist die moralische Gleichbehandlung aller Menschen unbedingt zu achten. Ebenso wenig wie der Geburtsort darf der Geburtszeitpunkt ein Grund dafür sein, menschenrechtliche Belange ungleich zu berücksichtigen. Dies kann das Menschenrechtsprinzip der Nicht-Diskriminierung deutlich machen (vgl. Herrler 2017: 164-172, Caney 2009, Caney 2014).
Menschenrechtliche Argumentationen können also einfacher der Gefahr entgehen, dass zentrale Belange künftig lebender Menschen übersehen oder vernachlässigt werden. Aber können künftige Generationen überhaupt Menschenrechte haben? Schließlich – so ließe sich einwenden – könnten nur bereits existierende Menschen Träger*innen von Menschenrechten sein. Dies mag zutreffen, wenn der Besitz von Rechten gemeint ist. Jedoch reicht für eine Zuschreibung recht(sähn)licher Ansprüche (die damit korrespondierende Pflichten in der Gegenwart generieren) die Annahme aus, dass künftig Menschen auf der Erde leben und dann eben Menschenrechtsträger*innen sein werden. Das Denken in Rechtsansprüchen kann übrigens auch leichter als andere ethische Begründungsversuche ähnlicher Pflichten die Probleme der Nicht-Reziprozität und der Nicht-Identität umgehen (vgl. Herrler 2017: 151-163, Bell 2011).
Weiter sind menschenrechtliche sowie generell klimaethische Ansätze beim Vorliegen von Ungewissheit (etwa wann Kipppunkte im Klimasystem überschritten werden) nicht zum Verstummen gezwungen. Während Kosten-Nutzen-Analysen mangels Eintrittswahrscheinlichkeit keinen (evidenten) Faktor zum Rechnen vorfinden, können sie auf das Vorsorgeprinzip (etwa in Kombination mit dem Maximin-Prinzip) verweisen, das sich auch in Artikel 3 der UN-Klimarahmenkonvention findet. Es besagt, dass klimapolitische Maßnahmen auch dann vorzunehmen seien, wenn völlige wissenschaftliche Gewissheit fehle, aber die drohenden Schäden ernsthaft und nicht wiedergutzumachen seien. Diese drohenden Schäden dürfen aus menschenrechtlicher Sicht zudem nicht derart groß sein, dass sie künftig lebenden Menschen prekäre Bedingungen oktroyieren, die ein Leben nach gerechten Prinzipien verunmöglichen (vgl. Herrler 2017: 172-178, McKinnon 2009, Gardiner 2006).
Doch nicht nur die menschenrechtlichen Belange künftig lebender Menschen drohen im Kosten-Nutzen-Denken vernachlässigt zu werden – diese Gefahr besteht auch für besonders vulnerable Gruppen in der Gegenwart (vgl. Caney 2010). Dies liegt daran, dass ökonomische Analysen häufig Fragen der Verteilungsgerechtigkeit inadäquat reflektieren. Der Klimaökonom Nordhaus (2008, 2010) kommt etwa zu dem Schluss, dass eine langfristige Temperaturerhöhung über 2 °C für die globale Wohlstandsentwicklung optimal wäre. Damit kann allerdings nicht der Wohlstand von Menschen gemeint sein, die in kleinen Inselstaaten wie den Malediven wohnen und dann mit einem noch stärkeren Anstieg des Meeresspiegels konfrontiert wären.
Damit komme ich zum Punkt, weshalb die komplexere Sprache der Menschenrechte die Folgen des Klimawandels angemessener beschreiben kann. Der Grund dafür ist allerdings einfach: Sie muss sich nicht auf einen (monetären) Maßstab beschränken. Alle für den Klimawandel relevanten Veränderungsprozesse zu quantifizieren und in ökonomischen Modellen abzubilden ist quasi unmöglich (vgl. Klepper et al. 2017, Gardiner 2010). Wie etwa sollte der Verlust von Heimat, wie er nicht nur künftigen Bewohner*innen der Malediven durch den Klimawandel droht, in Geldwerten angemessen ausgedrückt werden? Menschenrechte können hier immerhin – wie jüngst durch den UN-Menschenrechtsausschuss geschehen – auf Asylansprüche verweisen (vgl. OHCHR 2020).
Und sie können besser ausdrücken, dass zwar alle Menschen einerseits grundsätzlich, aber andererseits eben nicht im selben Maße vom Klimawandel betroffen sind bzw. sein werden: Denn grundsätzlich haben alle Menschen aufgrund ihrer Menschenwürde dieselben Rechte; konkret bedroht sind die Ansprüche aus diesen Rechten jedoch in unterschiedlicher Intensität und auf verschiedene Art und Weise. Üblicherweise ist hier von Vulnerabilität, also Verwundbarkeit, die Rede, die jeder Mensch als biologisches und soziales Wesen (Stichwort: relationale Autonomie) einerseits nicht vermeiden kann; andererseits unterscheiden sich Menschen aber in ihrer konkreten Verwundbarkeit (vgl. Hack & Herrler 2020).
Auf den Klimawandel angewandt könnte dies beispielsweise heißen: Generell kann extreme Hitze dem Gesundheitszustand eines jeden menschlichen Körpers zusetzen, aber besonders gefährdet sind etwa Ältere, Kinder und Menschen, die unter freiem Himmel arbeiten müssen (vgl. Watts et al. 2019). Die Betroffenheit durch negative Folgen des Klimawandels unterscheidet sich also nicht nur bezüglich der Generationenzugehörigkeit und Region, sondern ist auch innerhalb von menschlichen Gemeinschaften heterogen. Menschenrechte (hier etwa das Menschenrecht auf Gesundheit) können – da sie stark auf das Individuum bezogen sind – diese Unterschiede berücksichtigen.
Dies ist freilich kompliziert. Denn ein Menschenrechtsansatz hat es in der praktischen Anwendung nicht leicht. Das liegt auch daran, dass Menschenrechte „zugleich moralische und juridische Rechte“ (Forst 2007: 317) sind. Bisher habe ich mich vor allem auf ihren „moralischen Kerngehalt“ (Ibid.) bezogen. Menschenrechte nehmen insbesondere Staaten aber auch rechtlich in die Pflicht. Dies mag zum Teil erklären, warum sich politisch Verantwortliche mit menschenrechtlichen Begründungen beim Klimaschutz eher zurückhalten – und umgekehrt Menschenrechtsinstitutionen, NGOs oder Klimaaktivist*innen verstärkt auf Menschenrechte verweisen (vgl. OHCHR 2015, DIMR 2019, Peoples´ Summit 2019, tagesschau.de 2020). Da eine klare Zuordnung von Kausalitäten im Einzelfall schwerfällt, bleibt eine juristische Erfassung des Klimawandels jedoch schwierig, wenngleich nicht unmöglich (vgl. Lewis 2018).
Nichtsdestotrotz kann die Sprache der Menschenrechte beim Klimaschutz besser daran erinnern, dass Staaten vorrangig gegenüber Menschen verpflichtet sind – und nicht gegenüber Märkten oder ‚der Wirtschaft‘. Ein Staat muss nicht wie ein Unternehmen zunächst in Kosten- und Nutzenerwägungen denken, sondern hat die Menschenrechte und deren Grundvoraussetzungen zu schützen, zu respektieren und zu gewährleisten. Ein menschenrechtliches Framing von Konflikten, die mit dem Klimawandel einhergehen, entschärft diese freilich nicht schon automatisch – aber anders als eine bloße Betrachtung der Kosten kann es auch diesbezüglich besonders vulnerable, andernfalls womöglich marginalisierte Menschen besser als Gleichwertige berücksichtigen.
Freilich ist klar, dass hinter ‚der Wirtschaft‘ nicht allein Manager stehen, sondern auch Menschen, die Arbeitsplätze haben um ihre Grundbedürfnisse (und die ihrer Angehörigen) befriedigen zu können. Dies ist ihr gutes Recht. Allerdings meint ‚dies‘ hier die menschenrechtlich garantierten Grundgüter – und nicht etwa einen konkreten Arbeitsplatz. Menschenrechte haben nämlich eine progressive Tendenz und schützen nicht das Bestehende, nur weil es schon da ist. Vielmehr schützen und garantieren sie gewisse Standards, aber nicht den gerade üblichen Weg, diese zu erreichen. Das kann namentlich im globalen Norden bedeuten, dass man sich einschränken oder beim Ausleben seiner Freiheiten umdenken muss. Aber immerhin stellen die Menschenrechte auch sicher, dass der Übergang zu einer nachhaltigeren Gemeinschaft nicht mit menschenunwürdigen Zumutungen vonstattengeht. In diesem Zusammenhang ist übrigens auf die enge Verwandtschaft menschenrechtlicher und demokratischer Werte zu verweisen.
Mit all dem soll niemand davon abgehalten werden, kostengünstige Wege beim Klimaschutz zu suchen. Und sicherlich ist auch der Hinweis, dass zeitnahes klimapolitisches Handeln weniger Kosten verursache als späteres Handeln, plausibel und angebracht. Mir ging es hier weniger um ein Bashing ökonomischen Denkens, sondern vielmehr darum, für eine Verschiebung des Narratives beim Klimawandel zu werben: Menschenrechte dienen der Ermöglichung von Freiheit für möglichst viele Menschen, egal wo und wann sie auf der Erde leben (werden). Und ich finde: Es geht beim Klimawandel nicht so sehr um Nutzen-, sondern um Freiheitsmaximierung!
Christoph Herrler hat nach einem Studium der Geschichte und der Politischen Wissenschaft in Erlangen und Lund über die Begründung von Klimaschutz promoviert. Derzeit ist er Lehrbeauftragter und Postdoc im Graduiertenkolleg ‚Menschenrechte und Ethik in der Medizin für Ältere‘ sowie Teil der Arbeitsgruppe ‚Climate Change Conflicts – The Relevance of Human Rights Framings‘.
Literatur
Bell, Derek (2011): Does anthropogenic climate change violate human rights? In: Critical Review of International Social and Political Philosophy 14 (2), S. 99-124.
Caney, Simon (2009): Climate Change and the Future:
Discounting for Time, Wealth and Risk. In: Journal of Social Philosophy 40 (2),
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— (2010): Climate Change, Human Rights, and Moral Thresholds. In: Gardiner, Stephen M. et al. (Hg.): Climate Ethics. Essential Readings. Oxford/New
York (Oxford University Press), S. 163-177.
— (2014): Climate change, intergenerational equity and the social discount
rate. In: Politics, Philosophy & Economics 13
(4), S. 320-342.
Deutsches Institut für Menschenrechte (DIMR) (2019): Menschenrechtsbasierte Klimapolitik. Empfehlungen für die Umsetzung des Pariser Klimaabkommens. https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/POSITION/Position_Menschenrechtsbasierte_Klimapolitik.pdf (Stand: 25.01.2020).
Hack, Caroline & Herrler, Christoph (2020): Teilhabe im Pflege- und Gesundheitswesen – menschenrechtliche Fundierung und ethische Aspekte bei der Realisierung. In: Riedel, Annette & Lehmeyer, Sonja (Hg.): Ethik im Gesundheitswesen. Berlin (Springer). (i. E.)
Herrler, Christoph (2017): Warum eigentlich Klimaschutz? Zur Begründung von Klimapolitik. Baden-Baden (Nomos).
Forst, Rainer (2007): Das Recht auf Rechtfertigung. Elemente einer konstruktivistischen Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt/Main (Suhrkamp).
Gardiner, Stephen M. (2006): A Core Precautionary
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— (2010): Ethics and Global Climate Change. In: Gardiner, Stephen M. et al. (Hg.): Climate Ethics. Essential Readings. Oxford/New
York (Oxford University Press), S. 3-35.
Klepper, Gernot et al. (2017): Kosten des Klimawandels und Auswirkungen auf die Wirtschaft. In: Brasseur, Guy P. et al. (Hg.): Klimawandel in Deutschland. Entwicklung, Folgen, Risiken und Perspektiven. Berlin/Heidelberg (Springer), S. 253-264.
Lewis, Bridget (2018): Environmental Human Rights and Climate Change. Current Status and Future Prospects. Singapore (Springer).
McKinnon, Catriona (2009): Runaway Climate Change: A Justice-Based Case for Precautions. In: Journal of Social Philosophy 40 (2), S. 187-203.
Nordhaus, William D. (2008): A Question of Balance.
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— (2010): Economic aspects of global warming in a post-Copenhagen environment.
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https://www.ohchr.org/Documents/Issues/ClimateChange/COP21.pdf (Stand:
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https://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=25482&LangID=E
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Peoples’ Summit on Climate, Rights and Human Survival (2019): The Declaration.
Peoples’ Summit on Climate, Rights and Human Survival(Stand: 25.01.2020).
tagesschau.de (2020): Klimaaktivisten verklagen Bundesregierung. https://www.tagesschau.de/inland/fridays-for-future-verfassungsgericht-101.html (Stand: 25.01.2020).
Watts, Nick et al. (2019): The 2019 report of The Lancet Countdown on health and climate change: ensuring that the health of a child born today is not defined by a changing climate. In: Lancet 394 (10211), S. 1836–1878.