Hegel 2020

Von Sabrina Zucca-Soest (Hamburg)


Nach 250 Jahren lässt sich zu Recht fragen, warum die zumal schwer zugänglichen Texte von G.W.F. Hegel noch gelesen werden sollten? Die Veränderungen einer global vernetzten, digitalisierten Welt schreiten mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit voran. Die vielbeschworenen existenziellen Fragen unserer Zeit, wie die nach der Klimakatastrophe, den unaufhörlichen Kriegen dieser Welt, der Verunsicherung über die Wahrheit von Fakten, oder auch der Demokratie als solcher, scheinen weder durch moderne philosophische Konzeptionen, noch die hieran anknüpfenden sozialwissenschaftlichen Theorieangebote wirklich beantwortet werden zu können. Warum also sollte man sich ausgerechnet mit dem Textgeflecht von Hegel auseinandersetzen, scheinen doch die großen Fragen einer Welt von vor 250 Jahren gänzlich andere gewesen zu sein?

Nun zum einen wird mit den Hegel`schen Texten ausdrücklich eine Erkenntnis angestrebt, die mehr anspricht als bereits historisch gewordene philosophische Fragestellungen, die man ad acta legen könnte. Und zum anderen ist nicht nur der Rückgriff auf einen tiefgreifenden, vernunfttheoretisch anzulegenden Begründungszusammenhang, wie ihn Hegel ausgeführt hat, als Forderung aktuell, sondern es erweisen sich ganz konkrete Konzepte seiner politischen Philosophie als anknüpfungswürdig.

In einer fragmentierten Welt, in der die Fragen nach Identität und Akzeptanz, wie auch nach dem einigenden Band am Grunde von Gesellschaften virulent sind, gewinnt insbesondere der Anerkennungsbegriff besondere Bedeutung. Dreh- und Angelpunkt ist dabei das Verhältnis von Allgemeinheit-Individuum, Einheit-Vielheit, Subjekt-Objekt. Anerkennung schließt dabei die Handlungen interpersonaler Verhältnisse wie auch ihre Verallgemeinerung in gemeinschaftlichen Zusammenhängen in den Rahmen eines allgemeinen Bewusstwerdungsprozesses ein.

Hegel hat mit „Anerkennung“ nicht nur die Struktur eines besonderen Typs des Handelns oder der sozialen Beziehungen verallgemeinern wollen, sondern zugleich die Struktur eines Bildungsprozesses von einzelnem und gemeinsamen Bewusstsein anzugeben versucht, der die verschiedenen Interaktionsformen und sozialen Beziehungen auf jeweils spezifische Art bestimmt. Hegel trennt also nicht zwischen den Strukturen interpersonaler und intrainstitutioneller Art; er sucht eher nach der „gemeinsamen Struktur“ im Zusammenhang eines allgemeinen „Bewusstwerdungsprozesses“.

An dieser Stelle zeichnet sich der neuralgische Punkt von modernen gesellschaftlichen Grundfragen ab. Denn ein anerkennungstheoretischer Zugang zielt in existenzieller Weise auf die Konstitutionsbedingungen von Gemeinschaft ab. Gefragt wird: Welche Art der interpersonalen Beziehungen werden inwiefern institutionalisiert und finden ihre Materialisierung in welcher politischen Form? Wesentlich kann jede dieser Teilfragen nur in ihrem Gesamtzusammenhang beantwortet werden.

Ein solcher Anerkennungsbegriff trifft eine der drängendsten Fragen unserer Tage: Wie können divergierende Identitäten und individuelle Freiheitsrechte ebenso wie gesellschaftliche Integration und globale politische Organisation in einem modernen Begründungszusammenhang gebracht werden?

Ungeachtet der nicht unerheblichen Rekonstruktionsproblematik besteht die bahnbrechende Wirkungskraft und auch moderne Anknüpfungsfähigkeit des Hegel`schen Anerkennungsbegriffs in der Einsicht und Bestimmung von „Sozialisierung“, von Allgemeinem und Einzelnen. Gemeint ist damit die Verankerung des Anerkennungsprinzips in den konkreten sozialen Beziehungen – also im gesellschaftlichen Lebenszusammenhang. In diesem Sinne muss das Anerkennungsprinzip konkret – als zwischen sozialen Subjekten wirkend – gedacht werden. Genau an dieser Stelle lässt sich die Bruchstelle zur Subjektphilosophie Hegels ausmachen, die hier in eine Intersubjektivitätstheorie umschlagen könnte.[1] Diese Grundthese, dass das Selbstbewusstsein als eine intersubjektive, durch soziale Praxen vermittelte Größe aufzufassen ist, bietet schließlich auch den Anknüpfungspunkt für die Konstruktionen von Autor*innen wie Charles Taylor, Jürgen Habermas, Rahel Jaeggi und Axel Honneth. Auch aus der feministischen Debatte ist der Anerkennungsbegriff nicht wegzudenken.[2]

Sie anerkennen sich als gegenseitig sich anerkennend

Anerkennung als Basis menschlicher Vergemeinschaftung beschreibt jenen Zusammenhang, mit dessen Hilfe die konstitutiven Momente gesellschaftlicher Vergemeinschaftung sich als Struktur aufbauen und sich gleichzeitig die Inhalte sozialer Interaktionen von Individuen je neu verflüssigen. Anerkennung, verstanden als Wechselseitigkeit sozialer Beziehungen, impliziert den notwendigen Reflexionsvorgang vom Bewusstsein über Selbstbewusstsein zum Geist. Diese Konzeption hat dabei sowohl erklärende wie normative Bedeutung und „Selbstbewusstsein“ meint nicht nur eine kognitive Beziehung des „Sich-Wissens“, sondern auch eine emotionale und voluntative.[3] Zu diesem Selbstbewusstsein gehören offenbar also auch Beziehungen zwischen selbstbewussten – bzw. selbstbewusst werdenden – Individuen und Gruppen sowie solche zwischen verschiedenen Gruppen, die mehr oder minder fest institutionalisiert sein können.[4]

Deskriptiv wie auch normativ

Anerkennung, verstanden als soziale Tatsache wie auch moralisch-praktische Forderung, bildet ein verbindendes Scharnier zwischen der Faktizität gesellschaftlicher Institutionen und sozialphilosophischen Konzeptionen. In diesem Sinne kann das Anerkennungsparadigma sozialwissenschaftliche Analysen systematisch mit normativen Rechtfertigungsansprüchen verknüpfen und so normative Maßstäbe für die Beurteilung faktischer Institutionen artikulieren. Das Anerkennungsparadigma umgreift also das intersubjektive Verhältnis von sich einander anerkennenden Subjekten und den dadurch konstituierten Institutionen auf theoretisch-normativer wie auch empirisch-deskriptiver Ebene.

Intersubjektivität

Anerkennung spielt sich, und das konstitutiv, zwischen Individuen als Ich/Du-Beziehung, wie auch gemeinschaftlich in der Ich/Wir-Beziehung ab. Gerade auf diese Weise entsteht ein komplex aufgebautes intersubjektives Verhältnis. Denn es handelt sich um „verschiedene für sich seiende Selbstbewusstsein[e], die Einheit derselben sind; Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist“[5].

Anerkennen impliziert dabei eine plurale, intersubjektive Verfassung des Selbstbewusstseins und bietet als Ausgangspunkt gleichzeitig einen Maßstab sozialer Beziehungen und Gemeinschaftsformen. Damit ist nicht nur der Bogen vom interpersonalen Verhältnis von Individuen zu der gesellschaftlichen Arena von institutionalisierten sozialen Ordnungen geschlagen. Sondern die Dialektik dieser Verhältnisse strebt die Überwindung der Trennung zwischen beiden Ebenen an. Denn das wahre Bewusstsein – das An-und-für-sich-Sein der beiden im Füreinander – kann den Gegensatz, der durch die Unterscheidung von Ich und Anderem entstanden ist, nur überwinden, indem es beides ist, und zwar in ihrem Aufeinanderbezogensein. Es wird zur aufgehobenen Einheit des Gegensatzes. Diese Einheit als aufgehobene gliedert sich in das nunmehr sich bewusstseiende Ich und das Unterschiedene, dessen es sich bewusst ist, das Andere.

Identität als „Mensch-sein in der Welt“

Das Konzept der Anerkennung bezeichnet so ein anthropologisches Grundverhältnis zwischen Einzelpersonen oder Personengruppen, gesellschaftliche Institutionen gewinnen an Geltungskraft und auf normativer Ebene an anerkennungswürdig gegründeter Richtigkeit, Wahrheit und Wahrhaftigkeit (Habermas). Für die anerkennenden Individuen wirkt die Anerkennung von normativen Geltungsgründen im Gegenzug identitätsstiftend und wird damit zu einer zentralen Kategorie gesellschaftlicher Praxis.

Auf den gesellschaftlichen Institutionalisierungsprozessen impliziten Vorstellungen – davon, was es heißt, Mensch zu sein – fußen schließlich die Konzeptionen des guten Lebens, die die modernen Gesellschaften geprägt und die Identität des heutigen Menschen geformt haben. Die bestehenden gesellschaftlichen Strukturen können nicht mehr als ein Letztes gedacht werden; vielmehr sind sie durch Vorstellungen von (Freiheits-)Erfüllung begründet und resultieren aus einer den Dingen innewohnenden Struktur, die nicht nur für mich gilt, sondern für alle Menschen bedeutsam ist.[6]

Ein solches dialektisch begründetes Anerkennungsverhältnis soll nicht nur zu einer Politik der Anerkennung führen, sondern beschreibt ebenso die identitätsnotwendigen Prozesse unterschiedlicher Autonomieverschränkungen[7]. Damit beschreibt Anerkennung ein individuelles wie auch überindividuelles „Mensch-sein in der Welt“.

Einheit

Diese Vorstellung eines dialektischen Anerkennungsverhältnisses von Individuen und Institution steht in engem Bezug zu der Moderne und den ihr immanenten Sphären von Freiheit und Subjektivität. Essetzt die konkreten Individuen und ihre in der Gemeinschaft organisierten Institutionen in ein sich gegenseitig bedingendes Verhältnis. Dabei muss das Bewusstsein in einem Reflexionsprozess mehrdimensionale Perspektiven einnehmen. Es sieht einmal das einzelne Ich, das, um zu bestehen, das Andere setzen muss und ummantelt beides als Einheit des Gegensatzes: „In dieser Einheit des Gegensatzes ist das sich Bewußtseiende die eine Seite desselben, und das, dessen es sich bewusst ist, die andere – beide sind wesentlich dasselbe, beide eine unmittelbare Einheit der Einzelnheit und der Allgemeinheit.“[8]

Der beschriebene Anerkennungsprozess auf interpersonaler Ebene zwischen Ego und Alter und der intrainstitutionelle zwischen dem Ich und Wir stellt also eine Einheit von sich selbst organisierenden und zugleich auch explizierenden Verhältnissen dar. Beide Anerkennungszusammenhänge setzen sich wechselseitig voraus und konstruieren damit eine triadische Systemkonzeption[9], zwischen Ich, Ich und Wir. Sie setzen und negieren sich einander, um sich selbst erkennen zu können.

Dieser intersubjektive Charakter von Anerkennungsprozessen umfasst mehrdimensionale Konsequenzen für die beteiligten Individuen wie auch für die Gemeinschaft. Die Reziprozität der individuell geforderten Anerkennung ruht zum einen auf der Selbstachtung des Individuums als eines Zwecks in sich selbst und zum anderen auf der Wahrnehmung von Anderen als meinesgleichen, so dass die Übertragung[10] oder auch strukturell-immanent (Habermas) bestehende Selbstachtung als Achtung des Anderen eigentlich nicht mehr als ein Akt praktizierter Logik bzw. praktizierten Verständigungshandelns  ist. Diesem Anspruch nach, würde die von Fraser kritisierte „injustice of recognition“[11] einen pathologischen, nicht gelungenen Anerkennungsprozess beschreiben; denn es liegt in der Konsequenz der für mich selbst gestellten Forderung, dass ich sie auch meinesgleichen zugestehe.[12]


Dr. Sabrina Zucca-Soest ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg und forscht im Schnittbereich von Philosophie, Politik- und Rechtswissenschaften.


[1] Habermas, Jürgen, Wege der Detranszendentalisierung, 1999.

[2]Moody-Adams, Michele; Rössler, Beate; Telfer, Elizabeth; Young, Iris Marion; Meyers, Diana Tietjens; Butler, Judith

[3] Siep, Ludwig, 2009, Kampf um Anerkennung bei Hegel und Honneth, in: Forst, Rainer/Hartmann, Martin/ Jaeggi, Rahel/ Saar, Martin (Hrsg.): Sozialphilosophie und Kritik, Frankfurt am Main 2009, S. 179-201.

[4] Siep 2009, S. 179., kritisch hierzu die feministische Perspektive.

[5] Hegel, G.W.F.: Jenaer Systementwürfe I, Das System der spekulativen Philosophie, 1986, S. 189.

[6] Taylor, Charles, Negative Freiheit?,1992, S. 253.

[7] anstatt vieler Zucca-Soest, Sabrina, „Das Recht der Menschenwürde“, In Autonomie und Normativität, herausgegeben von Seelmann, Kurt, Zabel, Benno, 2014, S. 99-125.

[8] Hegel, G.W.F., Jenaer Systementwürfe I, 1986, S. 189.

[9] Hösle, Vittorio, Hegels System, 1998, S. 5.

[10] Gerhardt, Volker, Die angeborene Würde des Menschen, 2004, S. 25.

[11] Fraser, Nancy, 2003, Social justice in the age of identity politics: Redistribution, recognition, and

participation. In Redistribution or recognition?, 2003, S. 49.

[12] Gerhardt 2004, S. 25.