31 Mrz

Charles Taylor zu Gruppenidentität in der liberalen Gesellschaft

Von Pirmin Stekeler-Weithofer (Leipzig) und Martin Gessmann (Offenbach)


Eine Würdigung des Werks von Charles Taylor anlässlich seines 90. Geburtstags

I

Charles Taylor, der gerade 9o Jahre alt geworden ist, gehört zu den profiliertesten Vertretern eines sogenannten Kommunitarismus der Gegenwart und ist zugleich einer der bedeutendsten Vermittler der Philosophie Hegels im englischen Sprachraum. Das ist schon wegen des spannungsvollen Verhältnisses bemerkenswert zwischen einer Gesellschaft der einzelnen Leute oder Staatsbürger und besonderen kulturellen Gemeinschaften, wie sie durch Herkunft und Sprache, religiöses Bekenntnis oder kommunale Lebensformen vermittelt sind. Im Zentrum von Taylors Schaffen steht dabei die Frage nach Herkunft und Bewertung des modernen Liberalismus mit seiner – vermeintlichen oder wirklichen – Überbewertung der Individuen bei gleichzeitiger Unterschätzung von Tradition. Ferdinand Tönnies‘ alternative Fundierung einer umfassenderen Soziologie als bei Max Weber in dem bahnbrechenden Buch Gemeinschaft und Gesellschaft bildet dabei einen wohl unbewussten Hintergrund. Taylors kritische Diagnose der Moderne und Gegenwart bleibt daher auch dann eine Herausforderung, wenn man in Einzelheiten nicht mit ihr übereinstimmt oder für andere Formen des Auswegs aus der diagnostizierten Misere eines von jeder Gemeinschaft entbundenen und damit am Ende sinnentleerten Selbst plädiert – wobei gerade auch ein neuer Blick auf die Bedeutung der Geschichte des christlichen Westens für eine inzwischen weltweite Moderne überfällig ist.

Es ist daher sehr fraglich, ob sich Charles Taylor durch den folgenden Auftakt in Dirk Lüddeckes Laudatio in der Süddeutschen Zeitung vom 5. November 2021 (S. 12) geehrt fühlt: „Wer das Wirkliche als vernünftig und das Vernünftige als wirklich erkennt, denkt hegelianisch, hat einfach nur gute Nerven, wenig Empathie oder einen ziemlich merkwürdigen Humor.“ Derart abwegige Urteile über die reale Dialektik geschichtlicher Entwicklungen im Kontrast zu guten Absichten und billiger Kritik, erst recht über den sich daraus ergebenden trockenen Humor Hegels, wird man nur bemitleiden können. Wie es zugehen soll, dass Charles Taylor einfach hegelianischer Kommunitarist sein soll, bleibt ohnehin unverständlich, da Hegel den nicht nur unter Bonaparte noch transnational begriffenen Zentralstaat und sein allgemeines Recht allen korporativen Gemeinschaften vorordnet. Damit steht die individuelle Gleichheit vor dem Gesetz und die Freiheit der Person höher als der – durchaus auch nötige – Schutz freier Gemeinschafen. Taylor dagegen engagierte sich bereits in den 1960er Jahren in politischen Dingen prominent und dezidiert für einen französischsprachigen Regionalismus in Kanada, zeitweise als Vizepräsident der New Democratic Party in Kanada und für die Region Quebec. Er trat 1965 landesweit gegen Pierre Trudeau an – und verlor die Wahl. Er verteidigte die Besonderheiten der – nicht zuletzt katholisch geprägten – Kultur und Lebensart der Frankokanadier gegen einen anglo-amerikanischen Mainstream in Nordamerika, wie aus seinen Studien Reconciling the Solitudes: Essays on Canadian Federalism and Nationalism aus dem Jahr 1993 und deren Fortführung in Anerkennungsfragen hervorgeht, die unter dem Titel Multiculturalism: Examining the Politics of Recognition 1994 erschienen sind.

II

Bei Taylor geht es also – wie z. B. auch in den Büchern seines Landsmanns Will Kymlicka Liberalism, Community, and Culture (1969) oder Multikulturalismus und Demokratie (Hamburg: Rotbuch Verlag 1999) – um eine Politik der Differenz. Es geht um Sonderrechte für soziale und kulturelle Gruppen und Minderheitenschutz. Kollektive Eigenheiten seien zu verteidigen gegen die Anfechtungen einer universalistischen Gesamtkultur. Die Besonderheiten einer Gemeinschaft sollen gefördert werden, u. a.  gegen Tendenzen einer Anpassung, in der sich alles Liebenswerte und Charmante, besonders aber regionale Selbstbestimmung, verliert im Einerlei einer herrschenden Mehrheitsmeinung von Einzelindividuen, die sich auf ihr privates, gegen die Umwelt ‚abgepuffertes‘ Selbst oder auch nur in die Familie zurückziehen.

Indem er die Einsicht in die Bedeutung von Gemeinschaften für das volle, nicht auf sich selbst als bloßes Einzelsubjekt zurückgeworfene, Subjekt übersetzt in die politische Praxis seiner Zeit und seines Ortes, fühlte sich Taylor konsequenterweise genötigt, der frankophonen Minderheit einen Sonderstatus einzuräumen. Er forderte dementsprechend einen Verfassungszusatz zur bestehenden Canadian Charter of Rights, in dem der ‚besondere Charakter‘ der Menschen in Quebec festgeschrieben werden sollte. Auf dieser verfassungsmäßigen Grundlage sollte es möglich sein, Gesetze zu erlassen, die den Fortbestand und das Gedeihen frankokanadischer Kultur förderten. Letzteres auch dann, wenn sie in Widerspruch gerieten eben zur Canadian Charter of Rights. Aber nicht nur Sonderrechte, auch Sonderpflichten sollten auferlegt werden. So wollte er etwa durchsetzen, dass Kinder französisch sprechender Eltern nicht auf englischsprachige Schulen geschickt werden dürften. In Großbetrieben sollte Französisch als Verkehrssprache festgeschrieben werden. Tradition und Gruppenidentität erscheint wichtiger als individuelle Wahlfreiheit. Er kam damit aber politisch nicht durch.

Dabei ist die Dialektik zwischen einer vom Gesamtstaat zu schützenden Individualautonomie und der Bewahrung traditionaler Kulturen, Gruppen und Verbänden in der Tat eines der prekärsten Themen politischer Philosophie. Das zeigt sich nicht nur daran, dass manche freien religiösen Gemeinden in Nordamerika wie bei Mennoniten oder Amischen Kindern den Zugang zu höherer Bildung verweigert oder wenigstens erschwert haben – und es partiell jetzt noch tun. Es zeigt sich auch am Problem der Sezession einer Region, in der eine Mehrheit von Bürgern, die im Gesamtstaat eine Minderheit bildet, neue Minderheiten schafft – mit Bürgerkriegen wie in der Ukraine oder in Afrika als Folgen, samt den Spannungen in den Staaten des Nahen und Mittleren Ostens. Schon wenn man Sonderrechte für Volksgruppen beansprucht, kann das problematische Folgen haben. Dennoch ist die wohlmeinende Idee des Schutzes kultureller Minderheiten zum Mainstream des politischen Denkens schöner Seelen geworden. Man glaubt, ein einfacher Mehrheitsentscheid könne die Abspaltung eines Landesteils von einem Zentralstaat wenigstens ‚ethisch‘ rechtfertigen – oder auch nur gewisse Sonderrechte einer autonomen Region.

Eine besonders problematische Pointe pluraler, vermeintlich toleranter, Differenzenpolitik findet sich in einer eigenartigen, nahezu ironischen Weiterentwicklung derartiger Gedankengänge. Sie zeigt sich in dem gegenwärtigen Versuch kollektiver Minderheiten und sogar Mehrheiten, den Werten der in der Tat europäischen Moderne regionale Traditionen als angeblich gleichwertig entgegenzusetzen – und zwar auch solcher, die von der Würde der jeweils einzelnen Person nichts wissen (wollen). Es geht heute daher – nicht etwa nur in China, Japan oder Russland, um große Beispiele zu nennen – nicht (mehr) um eine Identität als Form des Personseins in einer bestimmten nationalen Tradition, Religionsgemeinschaft oder regionalen Solidarität von Bürgern gegen Aufklärung, sondern um die Identität der freien Person gegen Anti-Aufklärung. Die Aufklärung ging also in Vielem nicht etwa zu weit, sondern ist im Gegenteil noch nicht so weit vorangeschritten, dass Menschen ihre wahre Identität zur Geltung bringen und zum erfolgreichen Beitrag für uns alle machen könnten. Kulturelle Eigenart muss also nicht mehr geschützt werden gegenüber einem in einem Staat rechtlich geschützten Individualismus, sondern es muss längst schon das individuelle Recht auf kulturelle Identität in Schutz genommen werden vor den Anfeindungen und Missverständnissen traditionalistischer Weltbilder besonderer Gemeinschaften. Taylor befürchtete dagegen noch, dass Minderheitenkulturen überrollt würden von nivellierenden Tendenzen in Mehrheitsgesellschaften. Vertreterinnen und Vertreter einer neuen Identitätspolitik erkennen schon, dass verfestigte kulturelle Voreinstellungen gerade verhindern (können), dass echte Gleichberechtigung zustande kommt – z. B. zwischen den Geschlechtern und dann auch im Blick auf Abstammung, Sprache, Hautfarbe, sexuellen Orientierungen und leider noch manch anderem mehr.

Identitätspolitik und Traditionsbewusstsein bringen offenbar Kippeffekte hervor, die vom guten Schein in eine schlechte Wirklichkeit kippen. Am Ende empfindet sich jeder irgendwie als zu einer beklagenswerten Minderheit gehörig, die von den anderen, der Mehrheit, besser zu respektieren, zu schützen oder (auch finanziell) zu unterstützen sei.

In immer neuen Schüben wurde das Erzählmuster über den europäischen Individualismus durchgespielt, nicht nur unter Anleihen auf eine Sicht aus Fernost, wo das Ich dem Wir noch untergeordnet ist, gerade auch in einem schon von Schopenhauer romantisierten Buddhismus, in welchem noch weit mehr als im Christentum der Glaube an das Selbst und die Selbstliebe die Ursünde sein soll. Derartige Verfallsgeschichten der Tugend und Weisheit hinterlassen ähnlich wie Heideggers archaisierende Seinsgeschichte und seine These von einer Seinsvergessenheit das ungute Gefühl, dass sich die Erzähler gerade dann gegen ihre eigene Herkunft stellen, wenn sie der Gegenwart den Spiegel einer angeblich längst untergegangenen Tugend vorhalten. Nicht anders als in der Gegenposition, dem selbstgerechten Historismus des imperialistischen 19. Jahrhunderts Europas und Nordamerikas, sehen wir auch hier eine unbewusste Überheblichkeit am Werk. Wenn man seine eigene Herkunft als rein kontingent ansieht, landet man am Ende in Hegels geistigem Tierreich, deren Wesen in ihrem ephemeren Sein bloß aktualer Intuitionen nur noch subjektiv rational denken können und nicht wissen (wollen), woher sie diese Fähigkeit haben. Dabei hilft philologisch exakte Quellenforschung allein keineswegs weiter. Denn für ihre struktur- und erst damit kulturgeschichtliche Ausdeutung haben wir je heute gemeinsam, also im streitbaren Diskurs, eigene Verantwortung zu übernehmen. Das wirklich einzusehen, würde uns zwingen, uns am Ende doch wieder auf die Seite des versöhnlicheren Hegel zu schlagen, der ja davor warnt, der eigenen Vorgeschichte das Vertrauen zu entziehen. Die alternativen Wahrheiten selbsternannter Wissenschaftsskeptiker streuen nicht weniger als der billige Zweifel daran, dass die wirkliche Entwicklung geistiger Kultur insgesamt, also im Prinzip und Wesentlichen, vernünftig gewesen ist. Dem stehen die unendlich vielen Mängel und Verbrechen im besonderen Tun von vielen Menschen nicht entgegen. Wer etwas versteht, etwas Wesentliches – wie kontrovers auch immer es sein mag –, hat mehr erreicht, als wenn man nur mit den Achseln zuckt und sich dabei stur und skeptisch oder niveauvoll negativistisch gibt.

Erst wenn zwischen bloßen Äußerlichkeiten gerade auch in der Frage nach der demokratischen Repräsentation und Mitbestimmung diverser Gruppen auf der einen Seite, den wesentlichen Formen eines gemeinsamen Lebens und der politischen Formung eines Gemeinwillens im gemeinsamen Handeln unterschieden wird, werden wirklich alle zu gleichwertigen Mitglieder einer Gesellschaft – zunächst eines Staats und dann, als Personen, einer Welt. Am Ende sind eben daher auch alle Religionen, unter Einschluss der bürgerlichen Zivilreligion der Künste nach der Aufklärung, als bloß äußerliche Varianten der Bindung der Einzelpersonen an die Gemeinschaftsprojekte einer Gesellschaft eines Staates und dann auch der Weltgesellschaft aufzufassen, selbst dann, wenn wir sie in diversen Hinsichten als verschieden gut bewerten. Eine Politik der Differenz der religiösen Bekenntnisse und kulturellen Traditionen erweist sich daher möglicherweise als ebenso oberflächlich wie eine säkulare Religionswissenschaft und Religionssoziologie als Erbe des Historismus des 19. Jahrhunderts.

III

Schon die Lektüre von Taylors Hegel Mitte der 1970 Jahre hatte demnach zwei Seiten. Auf der einen war es eine Erleichterung, eine Gesamtdarstellung zu bekommen, unbelastet von schulinternen Abrechnungen und verfestigten Vorurteilen. Taylors Erzählung legt einen distanzierten Beobachterstandpunkt nahe, der Hegel aus dem Feuer der Debatten um seine geschichtlichen Wirkungen herausnehmen wollte. Er erscheint dann als ruhig argumentierender Klassiker, den man ins akademische und zugleich häusliche Philosophie-Regal der Vorgeschichte des 20. Jahrhunderts stellen konnte. Interessanterweise schien Taylor aus seiner Außenperspektive gerade der ebenso selbstbewusste wie bewusst perspektivische Umgang mit dem Geschichtlichen je aus der eigenen Zeit her fremd, dessen Verständnis bis heute für so viel ideologische Vereinnahmung und interessierte Fehllektüre sorgt. Geschichte im Sinne einer History mit großem H, als Reflexion auf grundsätzliche Formen von Staat und Gesellschaft in der weltweiten Entwicklung des Personseins, war ein Punkt, den er damals am besten einfach ganz überspringen wollte. Das passte gut in die Stimmung der Zeit, die in den US-amerikanischen Colleges auf eine ‚non-metaphysical view‘ drängte, ein Schlagwort, das bis heute noch in seiner Bedeutung unklar ist. Klaus Hartmanns einschlägige Studie von 1972 wurde später von Robert Pippin und Terry Pinkard vertieft und curriculums-reif ausformuliert. Es passte auch in eine Zeit, in der man Hegel als Vorläufer der Amerikanischen Pragmatismus lesen lernte. Die ganze Phänomentiefe, welche Hegel in seiner systematischen Wiedergabe abendländischer Geistesentwicklung erreicht hatte, wurde damit zugänglich, freilich abgesenkt auf eine wohlwollend-entspannte Seminar-Lektüre.

Taylors Ambition war also gerade nicht, herauszuarbeiten, wie Hegels Radikalisierung von Kants transzendentaler Reflexion zu einer Verweigerung jeder Vereinseitigung von Tradition oder Autonomie, von Vernunft oder Geschichte führt. Das Prekäre und eben damit Aktuale seiner Philosophie von Freiheit und Selbstbewusstsein, Person und Citoyen gegenüber einem unterstellten Konservatismus zu rehabilitieren, gehörte eher zur Agenda von Gadamer, Henrich, Riedel, Bubner und anderen. Dabei ging es auch darum, Hegel aus dem Abseits herauszuholen, in das ihn schon der Siegeszug des Historismus der Geisteswissenschaften und Philosophie gleich nach seinem Tod gestellt hatte, wie er später im Verein mit einem Sozialdarwinismus zu einer Apologetik der Nationalismen Europas führte. Von den gegenläufigen politischen Vereinnahmungen im 20. Jahrhundert und den zugehörigen impliziten Großen Erzählungen sowohl eines selbsternannten Liberalismus wie bei Ludwig von Mises, Karl Popper oder Friedrich August Hayek als auch im Marxismus, auch bei Anhängern und Gegnern des Nationalsozialismus, brauchen wir hier nicht weiter zu sprechen. Taylor hatte ja auch nie vor, den Ost-West-Gegensatz in der Philosophie neu zu bedenken, zumal sich die Konstellation Marx gegen Hegel, wie er bei ‚Philosophen‘ des realexistierenden Sozialismus auftritt, als Ammenmärchen für höhere Schüler herausstellt: Diese Stellvertreter-Debatte zwischen ‚sozialistischer‘ und ‚bürgerlicher‘ Philosophie hat sich gottseitdank überlebt, längstens; nicht so aber die Frage nach der vollen Person als homo politicus und damit Frage nach dem Kern des Politischen. Und letztere stellt sich dann besonders dringlich, wenn man nicht mehr vor Augen hat, dass man selbst nicht immer nur Minderheit ist, sondern zugleich auch Mehrheit, nicht immer nur Opfer von Bestimmungen, sondern auch selbst mitbestimmend, nicht nur bedrohte Identität, sondern auch ebensolche setzende – kurz und mit Rousseau: Teilhaber einer volonté générale, der man sich im Zweifel beugt, weil es grundsätzlich die eigene willentliche Identität ist, welche darin zum Ausdruck kommt. Politische Identität ist und bleibt so gesehen immer vielschichtig.

Solche Überlegungen kann man auch noch einmal grundsätzlicher fassen und auf die Weltverhältnisse im Ganzen schauen. Taylor ist dabei dem Schöpfen aus tieferen Quellen nicht abgeneigt. Mancher Kommentator scheut daher vor Zuschreibungen eines ‚Neoromantikers‘ nicht zurück. Dabei sollte man im Auge behalten, dass Hegel vergleichsweise unromantisch gerade auch über spekulative, damit auch theologische, Sätze über das Ganze nachdachte – und das durchaus fern aller anmaßenden Behauptungen. Schon seine berühmteste Formel, nach welcher das Wahre das Ganze ist, meint nicht etwa, dass das Ganze irgendwie gottgegeben sei, sondern dass in der Rede über das Ganze und Wahre im Kontrast zu je bloß unserem endlichen Kennen und perspektivischen Erkennen eine göttliche Perspektive fingiert wird. Dies geschieht, um die Form unserer innerweltlich-realen Unterscheidung zwischen einem bloßen Glauben und einem berechtigten Wissensanspruch durch die zugehörige Idealform – im generischen Gesamtblick auf die Form – zu artikulieren. Alle endlichen Instanzen werden dabei schon seit Heraklit dem unendlichen Ideal eines göttlichen Wissens kontrafaktisch so entgegengestellt, dass die mit unserer Perspektive verbundene Fallibilität aller unserer realen Geltungsansprüche ebenso klar, ja trivial, wird wie der Fehler eines jeden spekulativen Skeptizismus – bis hin zu Kants Entgegensetzung eines am Ende selbst noch metaphysisch-transzendenten Ding an sich und ‚seinen bloßen Erscheinungen‘.

Was Taylor anbot, war dabei (nur) ein theologisch abgespeckter Hegel, der den traditionalen Glauben an Gott in eine Metaphysik des objektiven und absoluten Geistes transformierte – was dann auch Jürgen Habermas von Taylor übernimmt. Übrig bleibt die hoffende Gewissheit eines will to believe (William James), nach dem ‚die Vernunft‘ wirklich und geschichtsmächtig wirksam sei. Mit diesem ‚pragmatistischen‘ Geist verbunden sind die beiden Grundnormen der Versöhnung (Charles Taylor) und des Vertrauens (Robert Brandom). Versöhnt werden sollen die entfremdeten Verhältnisse der beginnenden Moderne. Ins Werk gesetzt werde diese Versöhnung vom modernen Staat. Der Staat ist ja die Institution, die den rechtlichen Ausgleich organisiert und dafür sorgt, dass Personen als Bürger einander vertrauen können. Für Taylor und Habermas gilt diese Form der Versöhnung nun aber als grundsätzlich unzureichend und sogar gescheitert – und mit ihr die bürgerliche Konzeption eines modernen Staates. Erst recht desavouiert sei eine Weltgeschichte, die als gottähnliches Weltgericht den Strukturwandel der Moderne reflektiert, bewertet und daher partiell im Vorgriff steuert.

Die Behauptung dieses Scheiterns (gerade auch der Reflexionen Hegels) hat nun aber massive Folgen nicht nur für die Philosophie, sondern für den gegenwärtigen Zeitgeist. Wie in der Soziologie Max Webers und der Sozialpolitik Karl Poppers soll es, um die Verhältnisse zu bessern, immer nur noch ‚second best‘-Maßnahmen geben. Man darf also nicht mehr über die wahren Ursachen der Entfremdung von Person und Gemeinwesen nachdenken, denn man scheint dann auf geistesgeschichtlichem Sand zu bauen. Hier beginnt nun aber gerade Taylors eigenes Projekt, nach den Sources of the Self Ausschau zu halten, also den Ursprüngen des modernen ‚Individualismus‘. Während Hegel dabei nach der Logik in allen Selbstbeziehungen und in allen gemeinsamen Handlungen im Unterschied zu bloß akzidentellen, gerade auch statistischen, Aggregationen des Verhaltens und Handelns vieler Menschen fragt, stellt Taylor die Weichen in die Richtung einer großen Erzählung, im Prinzip nicht anders als später auch Jürgen Habermasʼ integrierte Betrachtung von Religion und Denken in „Auch eine Geschichte der Philosophie“.

Zurecht beklagt Taylor dabei die Naivität klassischer ‚Subtraktionserzählungen‘, als stünde vor uns ein Berg traditioneller Mythen und Vorurteile, der von der Aufklärung mühsam, aber immer heroisch, abgetragen werden müsse. Seine Gegenerzählung suggeriert aber, in früheren gesellschaftlichen Verhältnissen sei das Gute noch mit Händen zu greifen gewesen. Die wohlklingenden Texte z.B. der aristotelischen Tugendlehre oder Areté lassen das aristokratische Ethos mit paternalistischer Rechtfertigung der Sklavenhaltung übersehen, samt der Differenz zwischen Antike und beginnender Moderne. Die Erzählung von einem Verlust der Tugend (Alasdair McIntyre) im Laufe dieser Modernisierung unserer Weltverhältnisse ist daher zumindest partiell zu revidieren. Interessant bleibt aber die im Grunde dialektische Einsicht Taylors, dass gerade die Verinnerlichung allgemeinverbindlicher Werte und Kriterien zu einer auf sich selbst zurückgeworfenen Selbstgerechtigkeit führen kann. Je weiter daher das ‚private‘ Selbstdenken über das Wahre und Gute voranschreitet, umso schlimmer steht es möglicherweise um das politische Gemeinwesen, sofern wir nicht gegensteuern durch eine institutionelle Praxis einer (zivil‑)religiösen Wiederanbindung der Einzelpersonen an das Gemeinschaftsprojekt. Nur so werden aus den an ihrem erwartbaren Nutzen interessierten bourgeois und den bloß erst verbal das Gute predigenden Kulturschaffenden volle Personen. Ein citoyen ist daher weder nur homo oeconomicus noch säkularisierter Pastor. Als homo politicus transzendiert er bei weitem den hobbesianischen Atomismus subjektiven Sinns, wie er den homo sociologicus Max Webers oder Ralf Dahrendorfs noch definiert.

Die Warnungen Taylors bleiben damit ebenso aktuell wie die Überlegungen Hegels zur logischen Grundlegung der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften. Auch wenn er es vielleicht sein möchte, ein Denker zeitgenössischen Mehrheitskonsenses ist Taylor nie gewesen. Das ehrt ihn weit mehr, als alle besonderen Richtigkeiten in seinen Analysen, die ohnehin durch die umstrittenen Fragen nicht aufgehoben sind.


Pirmin Stekeler-Weithofer ist Senior-Professor für Theoretische Philosophie an der Universität Leipzig; Martin Gessmann ist Professor für Kultur- und Techniktheorie sowie Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main.

Dieser Text ist der Teil einer Kooperation mit der Philosophischen Rundschau. Der ausführliche Artikel zum Thema findet sich hier.

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