Anmerkungen zur Frage der moralischen Beurteilbarkeit von Kunstwerken

Von Daniel Martin Feige (Stuttgart)


Der Streit um Eugen Gomringers „Avenidas“, die Kontroversen um den Literaturnobelpreis für Peter Handke oder die Hinweise auf das problematische Frauenbild Bukowskis haben einmal mehr in Erinnerung gerufen, dass auch die autonome Kunst scheinbar so autonom nicht ist: Besteht die Erfahrung eines Kunstwerks darin, sich auf seine sinnlichen wie sinnhaften Formen einzulassen, so sind diese doch immer schon mit gesellschaftlichen Diskursen, moralischen Orientierungen und überlieferten Tradition gesättigt. Mehr noch: Etwas als Kunstwerk zu behandeln ist bereits eine Praxis, die nicht vom Himmel gefallen ist, sondern weitreichende historische wie gesellschaftliche Voraussetzungen hat. Die Frage, der die folgende Skizze gilt, lautet, welche Rolle moralische Beurteilungen hinsichtlich der Kunst spielen sollten. Die kurze Antwort lautet: gar keine. Die längere Antwort lautet: Kunstwerke sind intrinsisch auf moralische Fragen bezogen aber in anderer Weise als derart, dass sie wie Handlungen oder Aussagen einfach ein unproblematischer Gegenstand für moralische Beurteilungen sind.

Was spricht dagegen, Kunstwerke unumwunden unter moralischen Gesichtspunkten zu beurteilen? Dagegen spricht nicht allein, dass sie keine Gegenstände sind, die eine moralische Perspektive artikulieren, sondern wenn überhaupt Gegenstände, die eine Perspektive auf moralische Perspektiven artikulieren. Dagegen spricht vielmehr auch, dass zunächst einmal unklar ist, was hier überhaupt beurteilt werden soll. Selbst ein herkömmlicher erzählender Roman drückt nicht einfach eine moralische Perspektive aus, wenn es sich bei ihm tatsächlich um ein Kunstwerk handelt – und mit Blick auf paradigmatische Werke der Musik wird aufgrund ihrer offensichtlichen Ferne zu jedem propositional angebbaren Inhalt sogar ganz unklar, was hier überhaupt moralische Perspektive in einem buchstäblichen Sinne heißen könnte. Wenn man hingegen die moralische Perspektive eines Kunstwerks nicht länger im Werk selbst sucht, sondern im Produzenten bzw. in der Produzentin des jeweiligen Werks, schafft man es vorgängig bereits als Kunstwerk ab, da es zum bloßen Symptom für die Überzeugungen oder psychischen Zustände seines Schöpfers bzw. seiner Schöpferin würde.

Der Grund, dass Kunstwerke, selbst wenn sie moralische Themen adressieren, diese niemals im Sinne moralischer Thesen artikulieren, liegt daran, dass das, was das Werk thematisiert, nur im Nachvollzug der je besonderen Form des jeweiligen Kunstwerks erfahrbar wird. Der Gehalt des Kunstwerks ist damit nichts, was übersetzbar wäre; Gehalt im Sinne eines herkömmlich verstandenen Begriffs des Inhalts haben Kunstwerke gar nicht. So sehr sich Kunstwerke dagegen wehren bzw. dialektisch diese Grenze immer wieder neu aushandeln, sie entkommen (mit Arthur C. Dantos gesagt) der Transfiguration nicht:[1] Bukowskis Romane haben offensichtlich Themen und sind nicht allein eine Verhandlung des Klangs oder gar der graphischen Seite der Literatur, aber wer die Form und Geste seines Schreibens übersieht, übersieht, worum es hier geht.

Wenn man den Blick über die Literatur hinaus weitet, wird das noch schlagender: Malewitschs schwarzes Quadrat ist sicherlich keine metaphorische Verhandlung der Düsternis unserer modernen Existenz, auch wenn es selbst dann über sich hinausweist, wenn es tatsächlich nur in schwarzer Farbe besteht. Selbst die Aktionen des Zentrums für politische Schönheit sind, wenn man sie ernsthaft als Kunstaktionen behandelt, im Status dessen, was hier tatsächlich von wem wie getan worden ist, derart unklar, dass sie nicht in einer Beschreibung in politischen Begriffen aufgehen. Im Geiste Adornos kann man sagen:[2] Der Gehalt eines Kunstwerks besteht in der Spannung der Form zu außerkünstlerischen Realität, aber in nichts, was sich übersetzen ließe. Auf der Ebene der Erfahrung des Werks zeigt sich das daran, dass es eben nicht reduzibel ist auf eine ausgedrückte Intention, einen öffentlichen Diskurs oder eine politische Situation: Obwohl in ihm in verwandelter Form die außerkünstlerische Realität wieder auftaucht, stößt man in seiner Erfahrung immer wieder  an die Grenzen des Sinns; an etwas, was in einer Paraphrase nicht aufgeht und an dem man sich immer abarbeiten muss.

Diesen Gedanken hat die ästhetische Tradition unter anderem im Rahmen der Diskussion um den Geniebegriff konkretisiert. Sein sachlicher Kern besteht keineswegs in der These, dass einige Menschen ihren Status als Künstler*innen gewissermaßen in die Wiege gelegt bekommen haben und erst recht nicht in dem Gedanken, dass Begabung sich ohne Arbeit (und Einarbeitung in bestehende Kunstpraktiken) artikulieren kann. Sein wahrer Kern liegt vielmehr in dem Gedanken, dass Künstler*innen mit ihren Werken etwas produzieren, von dem sie (wie man mit Christoph Menke sagen kann)[3] in bestimmter Weise selbst nicht wissen, was es ist: Das Produzieren wie Erfahren von Kunstwerken ist nicht restlos in Begriffen unserer selbstbewussten, freien und vernünftigen Vermögen beschreibbar, sondern meint eine Weise des Produzierens und Erfahrens, die nicht vollständig der Logik des Subjekts zugehörig ist. Das ist genau deshalb so, weil im Kunstwerk das, was herkömmlicherweise inhaltliche Aspekte wären, von seiner Formseite und ihrer Spannung zum Sagbaren durchkreuzt ist; das künstlerische Produzieren ist keines, das vorgängig gegebene Regeln kennt, sondern im Vollzug erst die Regeln seines Produzierens in der Erarbeitung der Materialien hervorbringt.

Kunst als Kunst eignet damit ein widerständiges Moment. Dieses ist wohlgemerkt nicht darauf zurückzuführen, dass Werke mitunter anstößige Themen verhandeln und in der Abject Art etwa herkömmlicherweise kunstferne Materialien (Körperflüssigkeiten) gebrauchen. Anders gesagt: Der Unterschied zwischen Andres Serranos Arbeiten, Robert Mapplethorpes Fotografien und den Performances Chris Burdens auf der einen Seite und Herta Müllers Romanen, John Coltranes Improvisationen und Gustav Mahler Symphonien auf der anderen Seite ist kein kategorialer, insofern wir gewillt sind zu sagen, dass es sich hier um Kunstwerke handelt: Allen eignet eine eigensinnige Konstellation ihrer Materialien in und durch das jeweilige Werk (gleich, ob es sich dabei um raumzeitliche Objekte oder unwiederholbare, einzelne Ereignisse handelt).

Wenn diese Überlegungen überzeugend sind, wird deutlich, worum es eigentlich im Kontext des Streits um Gombringer, Handke, Bukowski usf. geht: Es geht schlichtweg um ihren Status als Kunstwerke. Der Begriff des Kunstwerks ist dahingehend ein normativer Begriff, dass, mit Albrecht Wellmer gesagt, „strenggenommen nur die gelungenen Werke Kunstwerke genannt werden dürfen.“[4] Festzuhalten ist dabei, dass die Redeweise eines normativen Kunstbegriffs nicht so verstanden werden darf, dass man über inhaltliche Kriterien des Gelingens eines Werks verfügen würde; sie ist so gemeint, dass Kunstwerke Gegenstände sind, die gelingen oder misslingen können, wobei für dieses Gelingen oder Misslingen (anders für andere Formen des Gelingens oder Misslingens) charakteristisch ist, dass es sich in der Beurteilung am Maßstab, den das Kunstwerk selbst entwickelt, zu orientieren hat (dass man mit Coltrane nichts anfangen kann, weil man seine Musik irgendwie nicht mag, sagt nichts über Coltranes Spiel aus, sondern über den Urteilenden bzw. die Urteilende).

Wenn es so wäre, dass Handkes Texte tatsächlich nichts als eine Apologie des serbischen Völkermordes sind, zwar eine „literarisch“ aufgeschmückte und irgendwie „gut geschriebene“ Apologie, so spräche alles dafür, sie überhaupt nicht als Kunstwerke zu behandeln, sondern als Sachtexte (die wie alle Texte immer auch eine Formseite haben, die in der Philosophie so unterschiedliche Autoren wie Wittgenstein, Heidegger und Derrida virtuos bespielt haben, ohne dass sie das für Kunstwerke charakteristische irreduzible Ineinander bzw. die irreduzible Spannung von Form und Inhalt aufweisen würden). Diese Frage lässt sich aber eben nicht unabhängig von einer Erfahrung der Werke und einen Streit um ihre Interpretation entscheiden: Man kommt nicht um eine Lektüre herum und darum, den Bruchpunkten und gegenwendigen Momenten in den Texten selbst nachzuspüren.

Um es ganz deutlich zu sagen: Nichts von dem hier Gesagten diskreditiert die legitimen Fragen nach den macht- und geschlechterpolitischen Grammatiken des Zugangs zum Kunstmarkt wie der Kanonbildung in den Künsten. Mein Argument lautet allein, dass eine unverblümte moralische Kritik das Werk selbst überspringt – und dass ein gelungenes Kunstwerk aus sich heraus einen Gegensinn zu einer solche Kritik etabliert. Anders gesagt: Die Aufregung über scheinbar moralisch problematische Werke speist sich nicht selten aus einem Missverständnis der Ebene, auf der sich das Ästhetische und das Ethische begegnen. Denn eine sich über das Werk hinwegsetzende moralische Kritik übersieht, dass die Kunst selbst eine emanzipatorische wie kritische Praxis just dadurch ist, dass in ihren sinnlichen wie sinnhaften Konstellationen etwas aufscheint, was sich Instrumentalisierungen unter praktischer wie theoretischer Perspektive gleichermaßen sperrt. Noch einmal im Geiste Adornos gesagt: Kritisch und widerständig sind Werke nicht aufgrund eines paraphrasierbaren Inhalts, sondern aufgrund ihrer Form, die eine andere Logik von Elementen meint als eine Logik, in der Elemente ökonomisch verwertbar sind (was ein Element des Werks ist, arbeitet es aus sich selbst heraus; die Elemente eines Werks hängen in nicht-äußerlichen Relationen zusammen). Ein Begriff, anhand dessen sich diese Dimension fassen ließe, wäre der Begriff der Bildung; Bildung dabei nicht verstanden als etwas, was verwertbares Wissen und  Kompetenzen meint, sondern als etwas, in dem wir uns in ungesicherter Weise an einem Gegenstand abarbeiten, der nie ganz in unserem Wollen und Wünschen aufgeht und just dadurch andere werden, als wir vormals waren.


Daniel Martin Feige ist Professor für Philosophie und Ästhetik an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart. Seine Forschungs- und Publikationsschwerpunkte liegen an der Schnittstelle von Fragen der Ästhetik, der theoretischen Philosophie und der Kulturphilosophie. Neben den klassischen Fragen interessiert er sich vor allem für vermeintliche Randbereiche der Ästhetik, die einen neuen Blick auf die klassischen Fragen bieten. Seine jüngste Monographie ist „Design. Eine philosophische Analyse“, 2018 erschienen im Suhrkamp-Verlag, 2021 wird ebd. sein neues Buch „Die Natur des Menschen. Eine dialektische Anthropologie“ erscheinen.


[1] Vgl. Arthur C. Danto, Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981.

[2] Vgl. Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973.

[3] Vgl.  Christoph Menke, Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008.

[4] Albrecht Wellmer, Versuch über Musik und Sprache, München: Hanser 2009, S. 125.