Engels 2020 – Festjahr in Zeiten der Pandemie

Von Nikolai Plößer (Wuppertal)


Als im Februar des Wuppertaler Festjahres zum 200. Geburtstag von Friedrich Engels die erste Ankerveranstaltung stattfand – der internationale Kongress Die Aktualität eines Klassikers –, war die Corona-Krise eben erst im Ausbruch. Aus Pandemieschutzgründen durften unsere Gäste aus Beijng, Guangzhou und Nanjing nicht anreisen, weitere Tagungen wurden auf 2021 verschoben. Engels‘ visionäre Diagnose einer Dialektik zwischen Natur und Gesellschaft entfaltete indes weiteres analytisches Potenzial.

Engels nach Marx und Darwin

Der breiteren Öffentlichkeit ist Friedrich Engels heute günstigstenfalls noch als Finanzier des berühmteren Junghegelianers Karl Marx ein Begriff. Das verkürzte Bild vom begüterten Textilerben als mäzenatischem Freund der Familie Marx wird ihm allerdings ebenso wenig gerecht, wie die schlimmstenfalls noch immer kursierende Behauptung, seine Popularisierung der Marx’schen Lehre hätte auch noch den Stalinismus auf seine Rechnung gesetzt. In der Sache passte zwischen die Freunde Karl und Friedrich kein Blatt – und beide waren erklärte Antidogmatiker. Das aufgeklärte Credo einer „Reform des Bewusstseins nicht durch Dogmen, sondern durch Analysierung des mystischen, sich selbst unklaren Bewusstseins“, das Marx im September 1843 in einem Brief an Ruge formulierte, entsprach auch Engels‘ Selbstverständnis.[1]

Deutlich wird das nicht zuletzt an seinem Faible für die Naturwissenschaften. Das „Talent“ Engels – wie er sich selbst in bescheidener Abgrenzung zum unwesentlich älteren Freund begriff – interessierte sich deutlich mehr als das „Genie“ Marx für die empirisch-wissenschaftlichen Durchbrüche seiner Zeit. Dabei hatte es ihm besonders ein weiteres Genie angetan, Charles Darwin. Dessen 1859 veröffentlichtes Buch Über die Entstehung der Arten veranlasste ihn dazu, im Nachruf auf Marx Parallelen zwischen Historischem Materialismus und Evolutionstheorie zu ziehen: „Wie Darwin das Gesetz der Entwicklung der organischen Natur, so entdeckte Marx das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte“.[2]

Bereits zu Marx‘ Lebzeiten hatte Engels unter dem Arbeitstitel einer Dialektik der Natur damit begonnen, nach einheitlichen Prinzipien für die Wissenschaft überhaupt zu suchen und den Versuch unternommen, die dialektischen Denkgesetze aus der Eigenlogik der Natur selbst herzuleiten. Nicht bloß die klassengesellschaftliche Ordnung sollte als indirekter Ausfluss der Produktion menschlichen Lebens im Stoffwechsel mit der Natur verstanden, sondern die Grundlage logischen Denkens selbst sollte aus der Naturentwicklung und der evolutionären Gattungsgenese hergeleitet werden können.

Erschienen sind von dieser – wenn man so will – »Great Unified Theory materialistischer Dialektik« bis 1925 nur Auszüge, nämlich Die Naturforschung in der Geisterwelt (1898) und Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen (1896). Während es sich bei ersterer um eine Abrechnung mit den spiritistischen Tendenzen des Evolutionsbiologen Alfred Russel Wallace handelt, stellt letztere Schrift den Versuch dar, im Anschluss an Marx und Darwin eine Prognose über Entwicklungstendenzen der Natur- und Sozialwissenschaften zu stellen.

Von der Arbeit des Affen zur Selbstaffektion durch Naturherrschaft

Den historisch-materialistischen Gedanken, soziales Leben und gesellschaftliche Ideen seien stets auch als Nebenprodukt einer Bearbeitung der äußeren Natur aufzufassen, verknüpft Engels in Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen mit Darwins Theorie einer fortlaufenden evolutionären Anpassung von Organismen an spezifische Umweltbedingungen. Der vermittelnde Begriff für die Zusammenführung dieser auf den ersten Blick disparaten Theoreme ist derjenige der „Arbeit“.[3]

Die Arbeit, so die These, schafft nicht nur »neue Naturen« im Sinne einer menschlich hergestellten »Zweitnatur«, sie schafft zuallererst den Menschen selbst. Engels Darstellung der humanen Gattungsgenese beginnt daher konsequent bei einer in Rudeln lebenden Spezies von baumbewohnenden Affen, die ihre Hände und Füße zum Klettern gebrauchen und über die Fähigkeit verfügen, am Boden zuweilen aufrecht zu gehen, wodurch ihre Hände für den anderweitigen Gebrauch frei werden. Im Zuge der Nutzung für zunehmend feinmotorischer werdende Tätigkeiten unterliegen die vorderen Extremitäten dieser Affen kontinuierlichen Anpassungs- und Selektionsprozessen, die letztlich in den evolutionären Überschritt zur Physiognomie der Hand von Homo sapiens einmünden.

Das Muster dieser Anpassungsleistungen an evolutionäre Herausforderungen, die durch praktische Betätigung an der äußeren Natur überhaupt erst erzeugt und kontinuierlich forciert werden, wiederholt sich in Engels‘ Darstellung auf zwei weiteren Stufen. Zunächst auf derjenigen der Entwicklung unserer Sprachorgane und schließlich eines leistungsfähigen Gehirns. Während die Sprache im Zuge der Notwendigkeit zur Koordination immer kooperativer werdender (Hand-)Arbeitsvorgänge zunehmend artikulierter wird, befördern die durch Fortschritte sprachlicher Interaktion möglich gewordenen Jagdtechniken und die Erfindung des Feuers die Gewöhnung an regelmäßige Fleischnahrung und schaffen auf diesem Wege die urzeitliche Nährstoffgrundlage zur Entwicklung eines größeren und effizienter arbeitenden Gehirns.

Was zunächst wie eine positivistische Lobpreisung menschlicher Herrschaft über die Natur anmuten mag, verknüpft Engels mit einer kritischen Betrachtung der Rückwirkungen solcher „Herrschaft“ auf soziale Verhältnisse. Man habe es sich in Mesopotamien, Griechenland und Kleinasien in früheren Zeitaltern nicht träumen lassen, dass die Rodung von großen Waldflächen zur Nahrungsgewinnung zugleich die Grundlage für die spätere Verödung ebendieser Landstriche legen würde. Ebenso hätten die Verbreiter der Kartoffeln in Europa nicht vorhergesehen, dass mit der monokulturellen Nahrungsumstellung der Arbeiter auf Kartoffelkost der irischen Hungersnot von 1847 der Weg bereitet war, die eine bis dahin ungekannte Welle der Armutsmigration in Richtung Amerika auslösen sollte. Solche nachhaltigkeitstheoretischen Überlegungen nutzt Engels für eine klare Absage an technokratische Allmachtsphantasien:

Und so werden wir bei jedem Schritt daran erinnert, daß wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand der außer der Natur steht – sondern daß wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören.[4]

Der Mensch, so die Pointe, ist selbst ein Stück »äußerer« Natur, wenn auch eines, das denkt. In dieser dialektischen Struktur einer reflexiven Selbstvermittlung der materiellen Natur mit sich im Medium menschlicher Geistestätigkeit liegt für Engels der Schlüssel zur Vereinigung von Natur- und Geisteswissenschaften. Vom antizipierten Kulminationspunkt der beiden Wissenschaftszweige erhofft er sich nicht weniger, als dass „sich die Menschen wieder als Eins mit der Natur nicht nur fühlen, sondern auch wissen“. Je mehr sich diese Einsicht auch zivilgesellschaftlich bahnbreche, „desto unmöglicher wird jene widersinnige und widernatürliche Vorstellung von einem Gegensatz zwischen Geist und Materie, Mensch und Natur, Seele und Leib“.[5]

Die Menschwerdung als offenes Projekt

So überambitioniert das Vorhaben einer Dialektik der Natur aus Sicht einer heute eher in Spezialisierungen drängenden Forschung anmuten mag, so aktuell wirken Engels‘ Intuitionen auf einem holistischeren Hintergrund, vor dem die Grenzen zwischen natürlichen und gesellschaftlichen Krisen analytisch mehr und mehr verschwimmen. Die Frage etwa, ob die Covid19-Pandemie als eine naturphänomenale Kalamität aufzufassen oder ob sie nicht vielmehr ebenso ein Produkt globalisierter Wertschöpfungs- und Naturvernichtungsketten ist, wie das bei Primark erhältliche T-Shirt, lässt sich nur im Vakuum begrifflicher Abstraktionen noch kategorial eindeutig entscheiden. Mit seiner zukunftsgerichteten Sensibilität für reale Verflechtungen einer galoppierenden Globalisierung war der Junghegelianer Engels – so lässt sich mit Jürgen Habermas sagen – tatsächlich unser „Zeitgenosse“.[6]

Eine fertige Antwort auf die Frage nach einer humanen Weltordnung, die dem komplexen Zusammenspiel zwischen ökonomischen, ökologischen und sozialen Problemfeldern Rechnung trägt, hätte Engels zu seiner Zeit schwerlich geben können. Seine Dialektik der Natur – wie auch seine vielmissbrauchte Staatstheorie –, blieben Entwürfe prognostisch-antizipativen Charakters. Die Aktualisierung und Ausarbeitung seiner Thesen bedürfen heute, wie der Kongress in Wuppertal gezeigt hat, einiges an weiterer Zurüstung.[7] Aber bei welchem Klassiker wäre es anders?

Engels‘ Wissenschaftsprognose der zunehmenden Einsicht in die Interdependenzen globaler Krisenphänomene hat sich indes bewahrheitet. Der Zusammenhang etwa zwischen unserem sorglosen Fleischkonsum, dem Hunger nach gerodeten Regenwaldflächen, den fragilen Lieferketten unserer Weltwirtschaft, ihrer Anfälligkeit für Seuchen und dem Bankrott unserer Gesundheitssysteme ist wissenschaftlich gut untersucht und in Zeiten von Corona auch öffentlich omnipräsent. Covid19 ist so nur die jüngste Station einer langen Reihe von menschheitsgeschichtlichen Aufgaben, die wir uns selbst stellen und die wir lösen könn(t)en.[8]

Seit Engels‘ Geburt sind eben erst 200 Jahre vergangen. In evolutionsgeschichtlichen Zeiträumen, aber auch sozialwissenschaftlich betrachtet, hat die menschenschaffende Arbeit an unserer notorisch zu kurz planenden Affennatur eben erst begonnen.


Dr. Nikolai Plößer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter von Prof. Smail Rapic am Lehrstuhl für Praktische Philosophie und Philosophie der Neuzeit der Bergischen Universität Wuppertal. In dieser Funktion hat er zuletzt im Februar 2020 die Durchführung des großen internationalen Kongresses Friedrich Engels: Die Aktualität eines Klassikers – The Timeliness of a Historic Figure koordiniert. Ebenfalls dieses Jahr erschienen ist seine Dissertation: Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe. Zum Diskurs einer Herrschaft über die Natur bei Bacon, Herder und in der Kritischen Theorie in der Reihe Alber Thesen des Verlags Karl Alber (Freiburg/München).


Links

Friedrich Engels-Portal: www.Engels2020.uni-wuppertal.de


[1] Karl Marx: „Brief an Ruge vom September 1843“. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. 42 Bde., Berlin 1956ff. (hier und im Folgenden unter Angabe von Band und Seitenzahl zitiert als „MEW“), MEW 1, 343-346, hier S. 346.

[2] Friedrich Engels: „Das Begräbnis von Karl Marx“. In: MEW 19, 335.

[3] Friedrich Engels: „Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen.“ In: MEW 20, S. 444-455.

[4] Ebd. S. 453

[5] Ebd.

[6] Jürgen Habermas: Auch eine Geschichte der Philosophie. Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen. Berlin 2019, S. 29.

[7] Eine Auswahl von aufgezeichneten Vorträgen ist noch bis zum Jahresende in der Mediathek zum Kongress abrufbar: www.friedrich-engels-portal.uni-wuppertal.de/engels-kongress/video-stream/.

[8] Vgl. Karl Marx: „Zur Kritik der politischen Ökonomie, Vorwort“. MEW 13, 7-11, hier S. 9.