Von fallenden Steinen und träumenden Menschen

Von Mathis Lessau (Freiburg)


Gedankenexperimente haben etwas Mysteriöses an sich. Da sitzt der Philosoph mit zugezogenen Vorhängen in seinem sprichwörtlichen Lehnstuhl und nutzt nichts weiter als das Laboratorium des Geistes, um neues Wissen über die Wirklichkeit zu generieren. So zumindest könnte es scheinen angesichts der enormen Überzeugungskraft, die von einigen berühmten Gedankenexperimenten der Wissenschafts- und Philosophiegeschichte ausgeht.

Eines der bekanntesten und meist zitierten Gedankenexperimente stammt von Galileo Galilei. Es soll zeigen, dass alle Körper (im Vakuum) gleich schnell fallen und sich ihre Fallgeschwindigkeit nicht, wie es seit Aristoteles galt, proportional zu ihrem Gewicht verhält. Denn, so lädt uns Galileo zu denken ein, hätte Aristoteles recht und schwerere Körper fielen schneller als leichte, so müsste etwas Widersprüchliches passieren, wenn sich zwei unterschiedliche Körper im Flug verbänden. Einerseits müsste der langsamer fliegende, leichte Körper den Flug des schnelleren, schweren Körpers abbremsen – der zusammengesetzte Körper also insgesamt langsamer fallen, andererseits wöge das Kompositum  aber auch mehr – und müsste dementsprechend schneller fallen. Der zusammengesetzte Körper müsste also laut den aristotelischen Bewegungsgesetzen gleichzeitig schneller und langsamer fallen, was unmöglich ist. Ergo: Alle Körper fallen gleich schnell. (Vgl. Galileo Galilei 1974 [1638], S. 66-67)

Für den mathematischen Platonisten James Robert Brown geschieht hier etwas gänzlich Wunderbares: Ohne auf neue empirische Daten zuzugreifen, ohne die Vorhänge zu lüften (um im Eingangsbild zu bleiben), könne durch Galileos Gedankenexperiment Einsicht in die abstrakten Gesetze der Natur erhalten werden, gewissermaßen ein Blick in Platons Himmel geworfen werden (vgl. Brown 1991). Dass alle Körper gleich schnell fallen, sei nach der Durchführung des Gedankenexperiments einfach „sonnenklar“ [„plain as day“] (ebd., S. 123), und müsse nicht mehr weiter belegt werden, obwohl es sich auf keiner Weise ‚logisch‘ aus dem Vorhergehenden ergebe (logisch ergibt sich nur, dass Körper nicht proportional zu ihrem Gewicht fallen). Magic.

Der Empirist John Norton widerspricht vehement. Durch Gedankenexperimente könnten keinesfalls Einsichten in eine mysteriöse platonische Wirklichkeit geliefert werden, sondern ihr Erkenntnisgehalt ließe sich auf deutlich profanere Art und Weise erklären. Am Ende des Tages seien nämlich auch Gedankenexperimente nichts Weiteres als eine Form der „picturesquen“ Argumentation und ließen sich mit etwas Mühe stets in Argumentform bringen (vgl. Norton 1996). Und an der Tatsache, dass Argumente Einsichten vermitteln können, ist nichts Verwunderliches – sie können es, insofern ihre Annahmen wahr und die Inferenzen valide sind: Ein gutes Gedankenexperiment ist ein gutes Argument, ein schlechtes Gedankenexperiment ist ein schlechtes Argument (ebd., S. 335).

Das gelte auch für Galileos fallende Steine. Die Widerlegung der aristotelischen Bewegungsgesetze lässt sich ohne großen Aufwand in die Form einer reductio ad absurdum bringen, in welcher die zu widerlegende Ansicht zunächst als Prämisse angenommen, und dann gezeigt wird, dass sie in einen Widerspruch führt, also nicht richtig sein kann. Doch auch der für James Brown so wunderbare Schritt von der Widerlegung des aristotelischen Bewegungsgesetztes zu der Einsicht, dass alle Körper gleich schnell fallen, habe Norton zu Folge nichts mit einer Einsicht in platonische Gesetze zu tun, sondern ließe sich ebenfalls in Argumentform bringen. Was dann benötigt wird, ist eine implizite Zusatzprämisse, wie etwa: „Die Geschwindigkeit von fallenden Körpern hängt ausschließlich von ihrem Gewicht ab“ (Norton 1996, S. 342). Das narrative Gedankenexperiment habe keinen größeren Erkenntniswert als die logische Rekonstruktion und das rekonstruierte Argument mache die epistemische Kraft vollständig einsichtig. Platons Himmel schließt sich wieder.

Dass Gedankenexperimente grundsätzlich einem argumentativen Diskurs angehören und auf propositionales Wissen zielen, also Wissen der Form dass etwas der Fall ist, scheint weitestgehend akzeptiert. Darin unterscheiden sich Gedankenexperimente auch von anderen kontrafaktischen Szenarien, etwa der fiktionalen Literatur. Wie der Philosoph Gottfried Gabriel herausstellt, könne der Erkenntniswert fiktionaler Literatur nicht in einer Hand voll Propositionen zusammengefasst werden, sondern speise sich vor allem aus den umfassenden anschaulichen Vergegenwärtigungen der conditio humana, welche die fiktionale Darstellung ermögliche. Es handele sich dabei um einen nicht-propositionalen Erkenntniswert, der eher durch ein Wissen, wie als durch ein Wissen, dass charakterisiert werden könne (vgl. Gabriel 2019).

In einigen Fällen scheint aber auch dieses nicht-propositionale Wissen der Vergegenwärtigung für den Erkenntniswert von Gedankenexperimenten eine Rolle zu spielen, mithin auch ihre Erkenntnisleistung nicht allein durch eine Rekonstruktion in Argumentform einsichtig gemacht werden zu können. Dies scheint besonders bei einigen ethischen Gedankenexperimenten der Fall zu sein. Werfen wir etwa einen Blick auf Robert Nozicks berühmte „Erlebnismaschine“. In diesem Gedankenexperiment stellt Nozick die Frage, ob es für einen Menschen wünschenswert sein könnte, nur noch virtuelle Erlebnisse zu haben und beantwortet sie dahingehend (so zumindest die gängige Deutung), dass mehr zu einem guten Leben gehöre, als das innere Erleben.

Man stelle sich eine Erlebnismaschine vor, die einem jedes gewünschte Erlebnis vermittelt. Super-Neuropsychologen können das Gehirn so reizen, daß man glaubt und das Gefühl hat, man schriebe einen großen Roman, schlösse eine Freundschaft oder läse ein interessantes Buch. Dabei schwimmt man die ganze Zeit in einem Becken und hat Elektroden ans Gehirn angeschlossen. Sollte man sich lebenslang an diese Maschine anschließen lassen, so daß alle künftigen Erlebnisse im voraus festgelegt sind? […] Was könnte den für uns von Bedeutung sein außer dem, wie unser Leben von innen erlebt wird? (Nozick 2012, S. 104)

Es ist nun interessant, dass es den Lesern des Gedankenexperiments so selbstverständlich erscheint, dass Nozick hier gegen ein virtuelles Leben im Tank argumentiert. Ganz unmittelbar wächst durch Nozicks Darstellung die Überzeugung in uns, dass es zu einem guten Leben gehört, eine tatsächliche Agentin in Kontakt mit der objektiven Wirklichkeit zu sein, die als Person mit besonderen Eigenschaften wahrgenommen wird. Nur: das Gedankenexperiment selbst spricht keine dieser Überzeugungen aus! Im Gegenteil: Nozick setzt sprachlich alles daran, die Wahl für das virtuelle Leben im besten Licht dastehen zu lassen und versucht, alle möglichen Sorgen aus dem Weg zu räumen:

Wenn man sich Sorgen macht, es könnten einem wünschenswerte Erlebnisse entgehen, so könnten wir annehmen, daß das Leben vieler anderer von Firmen gründlich durchforscht worden ist. Man kann aus ihrem riesigen Katalog […] solcher Erlebnisse auswählen und die eigenen Erlebnisse etwa für die nächsten zwei Jahre festlegen. Danach kommt man zehn Minuten oder Stunden aus dem Becken heraus und kann sich seine Erlebnisse für die nächsten zwei Jahre aussuchen. […] Auch andere können sich anschließen lassen und sich die gewünschten Erlebnisse verschaffen; es braucht also niemand unangeschlossen zu bleiben, um für andere da zu sein. (Nozick 2012, S. 105)

Wenn es uns also nach dem mentalen Durchspielen von Nozicks Gedankenexperiment ganz offensichtlich erscheint, dass bloße innere Erlebnisse für ein gutes Leben nicht ausreichend sind, dann wächst diese Überzeugung wohl nicht aus einer Reihe von Propositionen und ihren logischen Verbindungen, die aus Nozicks Darstellung rekonstruiert werden können. Wäre unsere Überzeugung nur von diesen abhängig, dann müsste die Darstellung der Erlebnismaschine vielmehr eine gegenteilige ethische Haltung im Leser hervorrufen.  Dass wir das Gedankenargument so selbstverständlich als Argument gegen die alleinige Bedeutung des inneren Erlebens für das gute Leben verstehen, scheint eine Folge der Vergegenwärtigungsleistung zu sein, welche die Schilderung der Erlebnismaschine ermöglicht, und welche so kraftvoll ist, dass all die propositionalen Beschwichtigungen Nozicks nichts gegen sie auszurichten vermögen.

Nortons These, dass alle erzählerischen Anteile (alles, wie er sagt, ‚picturesque‘) eines Gedankenexperimentes eliminiert werden könnten (indem es als Argument rekonstruiert wird), ohne dass dies den kognitiven Wert des Gedankenexperiments beeinträchtigen würde, ist also vielleicht nicht in jedem Fall ganz stimmig. Ein bisschen Magie bleibt.

Literatur:

Brown, James R.: „Thought Experiments: A Platonic Account“,  in: T. Horowitz/G. Massey (Hgg.): Thought Experiments in Science and Philosophy, Lanham 1991, S. 119-128.

Gabriel, Gottfried: „The Cognitive Value and Ethical Relevance of Fictional Literature“, in: Falk Bornmüller/Johannes Franzen/Mathis Lessau (Hgg.): Literature as Thought Experiment? Perspectives from Philosophy and Literary Studies, Paderborn 2019, S. 17-31.

Galilei, Galileo/Stillman Drake (Übers., Hrsg.): (Discourses on the) Two New Sciences. University of Wisconsin Press, Madison 1974.

Norton, John D.: „Are thought experiments just what you thought?“, in: Canadian Journal of Philosophy 26, 3 (1996), S. 333-366.

Nozick, Robert: „Die Erlebnismaschine“, in: Georg W. Bertam (Hrsg.): Philosophische Gedankenexperimente. Ein Lese- und Studienbuch, Stuttgart 2012, S. 104-105.

Dr. phil. Mathis Lessau ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Seminar der Universität Freiburg und unterrichtet Philosophie am Husserl-Archiv sowie am University College Freiburg. Zusammen mit seinen Kollegen Falk Bornmüller und Johannes Franzen hat er 2019 den Sammelband Literature as Thought Experiment? Perspectives from Philosophy and Literary Studies (Fink) herausgegeben.