Was heißt Toleranz – und warum soll man es verteidigen?
Von Matthias Kaufmann (Halle)
Nachdem Toleranz lange Zeit als einer der wichtigen Beiträge der europäischen Aufklärung zur politischen und sozialen Kultur gefeiert wurde, erfuhr sie heftige Kritik als angebliche Legitimation von Indifferenz und Unmoral. Wenn man die vielen möglichen Verwendungsweisen etwas sortiert und genauer ansieht, wird deutlich, dass Toleranz in ihrer Kernbedeutung zum moralischen Fundament globalen menschlichen Zusammenlebens gehört.
Lange war es die auf sogenannte traditionelle, oftmals religiös begründete Werte rekurrierende Homophobie, allgemeiner der vehement propagierte Kampf gegen angebliche moralische Indifferenz, vermeintlichen Sittenverfall und dadurch verursachtes Anwachsen der Kriminalität, womit man die Ablehnung der Toleranz rechtfertigte. Seit einiger Zeit kommen dann „Sorgen“ um den angeblichen Verlust der nationalen, religiösen oder allgemein kulturellen Identität im Angesicht zunehmender Migration hinzu. Die Art, wie diese „Sorgen“ mit mehr oder weniger offenen Anleihen bei faschistischen Denkfiguren vorgetragen werden, überschreitet ihrerseits mitunter die Grenzen dessen, was ein demokratischer Rechtsstaat tolerieren kann.
Toleranz wird v.a. dort eingefordert, wo bestimmte Differenzen für zumindest eine Seite gefährlich werden, wo Menschen feststellen, dass „die Anderen“ auch anders denken, fühlen, urteilen, handeln oder auch lediglich anders aussehen und wo dies als Ärgernis oder gar als Bedrohung gesehen wird. In der europäischen Geschichte z.B. war die Entstehung der Forderung nach Toleranz eng verbunden mit der Erfahrung religiöser Bürgerkriege.
Von philosophischer Seite kann man in diesem Zusammenhang versuchen, die Formen von Verhalten zu differenzieren, die mehr oder minder berechtigt als tolerant bezeichnet werden. Ferner ist es von Interesse, sich die unterschiedlichen sozialen und politischen Konstellationen vor Augen zu führen, in denen der Begriff eine je unterschiedliche Bedeutung erhält. Vor allem aber gilt es, die verschiedenen Bedeutungselemente zu erfassen, um in Verbindung mit den anderen Reflexionen zu einer Einschätzung der Toleranz in unserer Zeit zu gelangen. Die Begriffsanalyse schafft nicht die jeweiligen politischen Probleme aus der Welt, vermag jedoch die Gründe zu ermitteln, warum beim Gebrauch derselben Wörter von unterschiedlichen Personen sehr Verschiedenes gemeint sein kann und so zu einer gemeinsamen Überlegung beizutragen.
Eine Möglichkeit, Formen der Toleranz zu unterscheiden, bietet die Frage, inwieweit da jemand bloß geduldet wird und inwiefern man von der Anerkennung der betroffenen Menschen und ihrer Auffassungen sprechen kann. Michael Walzer verwendet einen sehr weiten Toleranzbegriff und bestimmt Toleranz als das Akzeptieren der Differenz, wobei er die gesamte Bandbreite möglicher Motive zulässt, aus denen dieses Akzeptieren erfolgt, ob es sich nun um „eine resignierte Duldung der Differenz um des Friedens willen“, also aus Schwäche, oder aber um eine „enthusiastische Bejahung der Differenz“ handelt.[1] Ihm geht es entscheidend um die sehr unterschiedlichen politischen Strukturen, innerhalb deren Toleranz zum Tragen kommen kann, ob es sich um multinationale Imperien, Konföderationen, Nationalstaaten oder Einwanderungsgesellschaften handelt. Natürlich ist die Lage von Minderheiten, die ja relativ häufig Toleranz in Anspruch nehmen müssen, in einem Nationalstaat mit relativ homogener Bevölkerung anders als in einem „klassischen“ Einwanderungsland, in dem seit jeher unterschiedliche Gruppen zusammenfinden müssen. Eine solche Perspektive relativiert auch einige der überkommenen Urteile. Etwa fällt in Zeiten ethnischer und religiöser Konflikte der Umstand ins Auge, dass viele der ehemaligen „Vielvölkerstaaten“ trotz ihrer despotischen Regierungsform mit einer gewissen Selbstverständlichkeit „multikulturell“ sein mussten, sofern man nur den Aspekt des Akzeptierens der Differenz – ohne Blick auf die Motive – berücksichtigt. Hingegen war die Gründung von Nationalstaaten häufig mit der Unterdrückung oder Vertreibung von Minderheiten, bis zum Verbot der lokalen Sprache, verknüpft. Es bleibt aber fraglich, ob ein solches Akzeptieren von Differenz sinnvollerweise als Toleranz bezeichnet werden sollte.
Zur Toleranz im engeren Sinn des Wortes, wie sie etwa von Rainer Forst definiert wird,[2] gehört neben der unbestreitbar vorhandenen „Akzeptanz-Komponente“ stets auch eine „Ablehnungskomponente“, die lediglich von der Akzeptanzseite überwogen wird, solange die „Grenzen der Toleranz“ noch nicht erreicht sind. Ferner wird Toleranz nach dieser Sicht freiwillig ausgeübt und ist von daher allemal vom bloßen Erdulden verschieden. Um auf der anderen Seite der Skala, bei der Form von Akzeptanz, die man als Wertschätzung bezeichnet, noch von Toleranz reden zu können, muss sich die Wertschätzung auf Aspekte der tolerierten Haltung, bei gleichzeitiger Ablehnung anderer Aspekte beziehen. Eine weniger mit Wertschätzung aufgeladene Version der Akzeptanz bezieht sich auf den Respekt gegenüber der Autonomie der tolerierten Personen, dies ist eine Forderung, die mit jedem ernsthaften Anspruch auf Toleranz verbunden sein sollte.
Auch in diesem engeren Verständnis hat Toleranz eine je nach sozialer Struktur verschiedene Bedeutung: Eine ist die Erlaubnis-Auffassung, bei der ein Fürst oder eine in ihrer Dominanz ungefährdete Mehrheit einer Minderheit Toleranz gewähren, sei dies aus prinzipiellen oder pragmatischen Gründen, d.h. aus moralischer Überzeugung oder um der Friedenssicherung willen. Bei der Koexistenz-Form ist den beteiligten – oft mehr oder minder gleichstarken – Gruppierungen klar, dass sie einander wechselseitig hinzunehmen haben. Dies kann mit der Konfliktvermeidung aus Kostengründen beginnen, um dann zu partieller oder auch weitgehender Kooperation fortzuschreiten. Bei einer Respektkonzeption wahrt man die Achtung vor der Person auch dort, wo man deren Verhalten nicht gutheißt.
Um ein gegenwärtig weitverbreitetes Problem anzusprechen: Von Seiten derer, die sich als „alteingesessen“ verstehen, wird gegenüber manchen Migranten, auch der zweiten und dritten Generation, mehr oder minder selbstverständlich eine Erlaubnis-Version der Toleranz unterstellt, für welche die angebliche Mehrheit in Form der völligen Assimilation belohnt zu werden beansprucht. Von Manchen wird selbst dies nicht akzeptiert, wenn z.B. der Name noch ungewohnt klingt oder die Hautfarbe nicht derjenigen der Mehrheit entspricht. Wie tief verankert solche Reaktionen sind zeigt sich, wenn rassistische Anschläge auf Menschen mit mehrere Generationen zurückreichendem Migrationshintergrund, die z.B. in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, auch von Wohlmeinenden als „fremdenfeindlich“ bezeichnet und kritisiert werden, obwohl sich diese Menschen keineswegs fremd fühlten. Auf der anderen Seite wird die Forderung nach Akzeptanz, nicht nur Duldung, erhoben, nicht selten in der emphatischen Wertschätzungs-Variante. Nun kann man Wertschätzung nicht einklagen. Wohl aber kann und muss von den Bürgerinnen und Bürgern eines demokratischen Staates wechselseitige Toleranz in Form der Anerkennung ihrer vollwertigen Mitgliedschaft in der politischen Gemeinschaft verlangt werden. Dazu gehört die wechselseitige Toleranz gegenüber der jeweiligen ethisch-kulturellen Identität, solange diese nicht zu Handlungen führt, welche die Grenzen der Toleranz überschreiten. Dass es diese Grenzen gibt und dass sie durch Rechtsverstöße und durch die Diskriminierung von Menschen mit einer anderen kulturellen Identität gezogen werden, wird von Kritikerinnen und Kritikern der Toleranz oft nicht verstanden.
Zunächst impliziert die unparteiliche Berücksichtigung aller Personen auch als Zwecke an sich selbst, also ein zumindest in Europa, aber letztlich doch weltweit allgemein anerkannter Grundsatz der Moralität, eine Toleranz im Sinne des Respekts vor der Autonomie der anderen Person, also als einer Form der Akzeptanz. Grundsätzlich ist ferner niemand befugt, sich gegenüber anderen Menschen in die Rolle deren zu begeben, die anderen Menschen die persönliche Sphäre der Entscheidungsfreiheit per Erlaubnis oder Verbot erweitert oder einengt, nur weil sie oder er zur Mehrheit und die andere Person zur Minderheit gehört. Solche Einschränkungen können nur per Gesetz nach rechtstaatlichen Verfahren bestimmt werden und werden sich unter Anderem sowohl bei „Alteingesessenen“ wie bei Immigranten, bei Majoritäten wie bei Minoritäten gegen diejenigen richten, die nicht bereit sind, die Wechselseitigkeit des Respekts einzuhalten. Langfristig wird nur eine solche Einstellung das gedeihliche Zusammenleben der Menschen gewährleisten, auch wenn wir gegenwärtig vielerorts noch weit davon entfernt sind.
Matthias Kaufmann studierte Mathematik, Philosophie und Politische Wissenschaft. Promotion in Philosophie 1986 in Erlangen (Diss.: Recht ohne Regel? Die philosophischen Prinzipien in Carl Schmitts Staats- und Rechtslehre, Freiburg/München 1988). Habilitation 1992 (Habilitationsschrift: Begriffe, Sätze, Dinge. Referenz und Wahrheit bei Wilhelm von Ockham, Leiden/Köln 1994), seit 1995 Professur für Ethik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Seit 2001 Mitglied im Direktorium des Interdisziplinären Wissenschaftszentrums Medizin-Ethik-Recht; 2008-2019 Sprecher der Graduate School Society and Culture in Motion. 1988 Heinz-Maier-Leibnitz-Preis, seit 2009 Mitglied in der Academia di Scienze Morali e politiche der Società Nazionale di Scienze, Lettere e Arti a Napoli. Neuere Buchveröffentlichungen: Recht, Berlin/Boston 2016; Hrsg. (mit H.Stefan) Architektur des Lebens: Das Alter, Frankfurt/M. 2017; Hrsg. (mit Danae Simmermacher) Luis de Molina De iustitia et iure/Über Gerechtigkeit und Recht, Stuttgart/Bad Cannstatt 2019; Hrsg. (mit Manuela Massa, James Thompson und Stefan Knauß): Regelfolgen, Regelschaffen, Regeländern. Die Herausforderung für Auto-Nomie und Universalismus durch Ludwig Wittgenstein, Martin Heidegger und Carl Schmitt, Berlin u.a.: Peter Lang 2020.
[1] Michael Walzer, Über Toleranz. Von der Zivilisierung der Differenz, Hamburg 1998.
[2] Rainer Forst, Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt/M. 2003.