15 Apr

Warum wir nicht sagen, was wir denken… Gedanken zur Toleranz in Zeiten von Corona

Von Oliver Hidalgo (Regensburg)


Vor einiger Zeit wurde ich gefragt, ob es legitim sei, bei einem Report über Islamfeindlichkeit mitzuschreiben, der von der Erdoğan-nahen Stiftung Seta finanziert wird. Und obwohl ich das keinem raten würde, beschäftigt mich seither die Frage: Warum eigentlich nicht? Die feststellbare Diskriminierung von Muslimen in Europa wird ja nicht davon entkräftet, dass die AKP ein Interesse daran besitzt, sie zu dokumentieren. Kommt es also wirklich nicht darauf an, was stimmt und was nicht, sondern allein, wer es für sich ausschlachtet? Und gehen solche Nuancierungen in Zeiten der Corona-Krise nicht ohnehin unter?

Als Demokratietheoretiker kann ich immerhin ein paar vordergründige Erklärungen anbieten. Bei Tocqueville habe ich z. B. gelernt, dass unter der Bedingung demokratischer Gleichheit das Urteil Einzelner wenig zählt, weil niemandem eine Expertise zugetraut wird, die das Urteil der Mehrheit überwiegt. Im Gegenzug übt die öffentliche Meinung einen immensen Konformitätsdruck aus, der jedes Dissidententum erheblich erschwert oder mit Ausgrenzung quittiert. Das zentrale Kennzeichen eines Diskurses, der zwischen formal Gleichberechtigten ausgetragen wird, ist mithin eine flexibel definierte Political Correctness. Dagegen anzugehen und anzuschreiben, erfordert ein dickes Fell – und die Gewissheit, den eigenen Job nicht zu gefährden.

So richtig weiter hilft dies allerdings nicht, weil die öffentliche Meinung gerne schwankt. Hinzu kommt, dass Populisten – politisch wie ökonomisch – nicht schlecht vom kalkulierten Tabubruch leben. Das verwandte Problem der ,Schweigespirale‘ kehren sie dabei zu ihren Gunsten um und behaupten, die wahren Vertreter der von der ,Lügenpresse‘ angeblich nur verzerrten öffentlichen Meinung zu sein. Es wäre insofern falsch zu glauben, sich in der Demokratie jenseits des ephemeren Mainstreams nicht prima einrichten zu können. Vielmehr scheint es eine Mischung aus politischer Ambition und individuellem Charakter zu sein, ob jemand sogar gegen Widerstände sagt, was er oder sie denkt – und ob der Betrachter dies dann als Chuzpe oder Unbeugsamkeit, Zivilcourage oder Menschenverachtung auslegt.

Derweil beteiligen sich Wissenschaftler:innen und Journalist:innen am öffentlichen Diskurs ohnehin selten im Dienst parteipolitischer Ziele. Auch sollte die Überzeugung, etwas zu sagen zu haben, dem Erfolg in den genannten Berufssparten nicht eben abträglich sein. Stattdessen sind Meinungsstärke und Konfliktfähigkeit bis hin zur Rechthaberei hier als verhältnismäßig weit verbreitet einzustufen. Es muss also etwas anderes dahinterstecken, wenn bevorzugt aus dieser Richtung seit geraumer Zeit das Gefühl artikuliert wird, die eigenen Überzeugungen nur bedingt publizieren zu können oder zu wollen, und das beileibe nicht allein wegen des „Bias“, der v.a. im wissenschaftlichen Jargon tunlichst zu vermeiden ist. Viel spricht dafür, dass es die Komplexität der Zusammenhänge ist, die in schwierigen Fragen wie dem Klimawandel, der Integrationspolitik und aktuell der Corona-Krise zu einer solchen Art der ,Sprachlosigkeit‘ führt. Denjenigen, die sich gleichwohl mit mutigen, zuweilen auch unüberlegten Vorschlägen aus der Deckung wagen, ist die allgemeine Empörung sicher: Weil sie dieses und jenes nicht bedacht haben, im Ganzen falsch gewickelt und sowieso unmögliche Menschen sind.

Was die einen dann zur Annahme von Verschwörungstheorien treibt, bringt andere, die differenziert bleiben und einem deus ex machina misstrauen, dazu, die eigenen Worte immer sorgfältiger abzuwägen. Bis sie schließlich gar nichts Substantielles mehr sagen, um sich am Ende für fehlerhafte Einschätzungen nicht rechtfertigen zu müssen.

Die eigene Meinung macht angreifbar

Moralisch am sichersten ist es dann, sich auf mangelndes Wissen zu berufen, um einen klaren Standpunkt zu vertreten. Oder man redet sich ein, früher unerschrockener gewesen zu sein, dies aber aus Resignation aufgegeben zu haben, da sich ja sowieso nichts ändert. Für meinen Teil hatte ich deshalb lange das Gefühl, bei komplexen Themen einigermaßen den Punkt zu treffen, wann immer mir im Grunde niemand zustimmt. Doch seitdem die gesamte politische Diskussion in einer Weise polarisiert, dass für Differenzierungen kein Platz ist, bedeutet sogar das Sitzen zwischen allen Stühlen kein beruhigendes Indiz mehr.

Stattdessen beschleicht mich der Verdacht, dass wir uns deswegen zunehmend schwertun, zu sagen, was wir denken, weil uns dies zugleich die Illusion raubt, auf der ,richtigen‘ Seite zu stehen. Tatsächlich Farbe zu bekennen, heißt nämlich, zu akzeptieren, dass die eigene Überzeugung in der Regel nicht gut für alle, sondern allenfalls für einen bestimmten Teil der Gesellschaft ist.

Nehmen wir erneut das Beispiel Corona: So offensichtlich es ist, dass hier nur die Wahl zwischen Skylla und Charybdis bleibt, so sicher ist es auch, dass dies kaum jemand zugibt. Wie schön unkompliziert war es da noch, als man am Anfang der Krise so gar keine Ahnung hatte, und den Regierungen weder ihr zunächst sehr zögerliches Eingreifen übelgenommen hat noch den schnell einsetzenden Aktionismus, mit dem die exponentielle Verbreitung von COVID-19, die Überlastung der Gesundheitssysteme sowie das Sterben der Massen gestoppt werden sollten. Wie leicht wird man hingegen mittlerweile als sozialdarwinistischer Zyniker verschrien, wenn man den Hinweis wagt, dass die augenfällige Letalität beim neuen Corona-Virus wohl doch nicht viel mit der Pest im Mittelalter oder der Spanischen Grippe zu tun hat (und sei es nur, weil der Stand der heutigen Medizin und Hygiene um einiges weiter ist als damals). Um umgekehrt bei vielen als Totengräber von Demokratie, Freiheit und Wohlstand zu gelten, falls man der Meinung sein sollte, auch eine Sterberate von ca. 0,5 Prozent aller Infizierten könnte einen totalen Lockdown rechtfertigen. Doch halt, wie viel sind eigentlich 0,5 Prozent bei einer Bevölkerung von 83 Millionen? Oder 0,6? Und was hilft es überhaupt den Risikogruppen, wenn auch diejenigen quasi eingesperrt werden, für die das Virus wenigstens der Statistik nach nicht sehr gefährlich ist? Was ist also schon ,richtig‘, wenn eine dauerhaft effektive Unterbrechung der Infektionsketten das soziale, wirtschaftliche und politische Leben abwürgt, eine Öffnung jedoch viele Menschenleben kostet – und nicht nur das derjenigen, die sowieso nicht mehr lange leben würden?

Es gibt keine Lösung

Was in der Corona-Krise vielen dämmert, nämlich, dass es zumindest in offenen Gesellschaften schlicht kein Patentrezept gibt, ist im Grunde das tägliche Brot der Politik. Mögen die Parteien auch nicht müde werden, ihre partikularen Positionen und Entscheidungen als Dienst am Gemeinwohl zu verkaufen, zeigt sich doch zumindest in all jenen komplexen Fragen, die die Kraft haben, die Gesellschaft zu spalten, dass der Nutzen der einen zu Lasten der anderen geht. Hieraus erwachsen weitere, unbequeme Fragen wie diejenige, warum im Zuge der Corona-Pandemie auf einmal ein Shutdown möglich war, der weit mehr umfasste, als es Klimaschützer angesichts der uns bevorstehenden ökologischen Katastrophe bislang vergeblich gefordert haben. Waren die Bedrohungsszenarien der Virologen schlicht überzeugender als die der Klimaforscher? Lag es an der medialen Berichterstattung? Oder am Ende gar am „Great Reset“, wie die Verschwörungstheoretiker unken, ohne zu registrieren, dass sie ihr Feindbild des Kapitalismus damit ungewollt aufwerten?

Je länger ich über das Problem nachdenke, desto mehr wirkt es auf mich so, als hätte die Zurückhaltung unserer Überzeugungen mit dem Umstand zu tun, dass wir das Politische – zumal in der Demokratie – nicht an Zahlen festmachen können. Ein populäres Vorurteil besagt zwar, dass im Rahmen der Volksherrschaft das Mehrheitsprinzip gilt; doch zählt es im Gegenzug zu den größten Errungenschaften des demokratischen Rechtsstaats, dass dort die Belange (oder gar das Leben) des Einzelnen der Allgemeinheit nicht geopfert werden. Deswegen reicht es bei der Corona-Pandemie nicht, auf die statistische Minderheit zu verweisen, die überproportional gefährdet ist, während die anderen ruhig wieder Party machen dürfen. Im Umkehrschluss aber vermag auch niemand das notwendige Opfer zu beziffern, zu dem die Allgemeinheit bereit zu sein hat. Welche finanziellen Einbußen, welche Existenzängste sind noch zumutbar, und wann ist eine Grenze der Belastbarkeit, physisch wie psychisch, überschritten? Und glaubt wirklich noch jemand, die Flüchtlingskrise wäre durch eine Obergrenze zu lösen gewesen? Wer wollte diese festlegen? Oder berechnen, wo die Kapazitätsgrenzen einer Migrationsgesellschaft liegen?

Dass für solche Problemkreise keine verbindlichen Antworten und daher auch keine eindeutigen normativen Orientierungen existieren, heißt indes weder, dass wir keine persönlichen Prinzipien haben dürften, noch, dass über die jeweiligen Konsequenzen einer wertebasierten Haltung nicht schonungslos offen diskutiert werden müsste. Doch ist es nahezu quälend, sich die vorhersehbaren Folgen der eigenen Überzeugung zu vergegenwärtigen. Nicht, weil wir es nicht aushalten, es nicht allen rechtmachen zu können, sondern weil wir selbst gern bessere und klügere Menschen wären, als wir es sind. Um uns zugleich für diejenigen fremdzuschämen, die die Konsequenzen ihrer eigenen ,Wertvorstellungen‘ nicht einmal einsehen, frei nach dem Motto: „Ich habe nichts gegen Flüchtlinge und bin auch kein Rassist. Die sollen nur weg und am besten erst gar nicht ins Land kommen.“

Beim Corona-Virus und anderen unlösbaren Herausforderungen verlassen mithin diejenigen, die an sich differenzieren, notgedrungen ihre gewohnte Komfortzone. Die Wissenschaftlerin kann sich auf einmal ebenso wenig auf ihre obligatorische Neutralität und Objektivität berufen wie der Journalist auf den Nimbus, mit seinen Leitartikeln der Gerechtigkeit zu frönen. Und während der Unternehmer merkt, dass das Totschlagargument, sein privater Profit komme Wachstum und Arbeitsplätzen zugute, plötzlich nicht mehr zieht, droht Politikerinnen ihre ureigene Fähigkeit abhanden zu kommen, das partikulare Interesse der eigenen Klientel als Gemeinwohl zu verbrämen. Zu evident ist, dass alle artikulierten Positionen Folgen und Schäden nach sich ziehen, die niemand will. Doch würde es exakt darum gehen: An dieser wie an anderen Stellen den antagonistischen Grundcharakter des Politischen zu akzeptieren, den Carl Schmitt und Hannah Arendt auf so unterschiedliche Weise bekräftigt haben. Die politische Gestaltungsmacht in all ihrer Ambivalenz zu bejahen, das ist es, worum es in der Demokratie hauptsächlich geht.

Wir müssen uns trotzdem entscheiden

Nicht zufällig war der häufigste Satz, den ich in meinem privaten Umfeld zu Beginn der Corona-Krise gehört habe, der folgende: Ich bin froh, kein Politiker zu sein und das alles beschließen zu müssen. In einer Demokratie müssen wir uns trotzdem eben dies zutrauen: Uns zu entscheiden. Um danach sowohl für die positiven als auch negativen Resultate die Verantwortung zu übernehmen. Denn nur zu kritisieren, ohne selbst Verantwortung zu tragen, ist leicht. Wenn wir dies verweigern, werden andere die Entscheidung für uns treffen.

Wo entschieden wird, passieren allerdings auch Fehler. Und das nicht zu knapp. Mittlerweile gehen die Versäumnisse und Fehleinschätzungen im Zusammenhang der Corona-Krise kaum noch auf die berühmte Kuhhaut. Der Lockdown light im November beispielsweise hat in der Rückschau wenig gebracht, wertvolle Zeit gekostet sowie die Geduld der Bürgerinnen und Bürger strapaziert, sich an Regeln zu halten, die wenigstens zum Teil kontraproduktiv waren. Zuvor wurde die Sommerpause weitgehend verschlafen, um etwa Konzepte für einen digitalen Schulunterricht zu erarbeiten, die Rückverfolgung von Infektionsketten zu verbessern und ausreichend (Schnell-)Testkapazitäten für die erwartbar schwierigen Wintermonate zur Verfügung zu stellen. Die Impfungen verlaufen im internationalen Vergleich überdies extrem schleppend, über die Gründe wird z.T. wild spekuliert. Ob zudem die neuen Coronavirus-Mutationen aus Großbritannien, Brasilien und Südafrika alle ausgetüftelten Strategien nicht ohnehin über den Haufen werfen, ist umstritten.

Doch nicht einmal die unvermeidlichen Trial-and-Error-Prozesse sind das eigentliche Problem. Sondern der politische (Selbst-)Anspruch, ,die‘ richtige Lösung auf eine ,Naturkatastrophe‘ zu finden. Die USA, Israel oder Großbritannien mögen etwa bei den Impfungen entschlossener vorgegangen sein als die Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Was allerdings die Gesamtbilanz der Coronakrise anbelangt, sind diese Länder kein Vorbild. Und während immer mehr Leute in Europa nach Asien und vor allem China blicken, um sich dort ,mustergültige‘ Lehren für eine erfolgreiche Bekämpfung der COVID-19 Pandemie abzuschauen, stellen andere die Frage nach der Verhältnismäßigkeit einer Kontrolle, die sich um so etwas wie Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit nicht viel schert.

Es kann also nur darum gehen, weiter Entscheidungen zu treffen, deren Vor- und Nachteile abzuwägen, Folgen zu beobachten, nachzusteuern oder auch zu revidieren. Weil das nun einmal der Charakter des Politischen ist. Es gibt viele unterschiedliche Wege, mit Krisen wie der Corona-Pandemie umzugehen. Am wenigsten ratsam wäre es daher, die vorhandenen Alternativen gedanklich erst gar nicht durchzuspielen, was z. B. von Schweden und Australien, China und den USA, Italien und Taiwan jeweils zu lernen, aber auch zu vermeiden ist. Das Bashing von anderen hilft in der Krise nicht weiter, sondern nur die unvoreingenommene, problembewusste Analyse. Auch auf die Gefahr hin, dass Vorschläge aufs Tapet kommen, die sich in ihren kurz- und langfristigen Folgen massiv unterscheiden und deren moralische Ambivalenz greifbar ist. Und dennoch ist dies ein besserer Weg als mithilfe von phantasieloser Undifferenziertheit Fehler und Verantwortung zu vermeiden.

Was ist gerecht?

Die derzeit wahrscheinlich größte Hypothek für eine intellektuell ausgewogene Politik ist, dass in den modernen Gesellschaften das Sozialgefühl der Gerechtigkeit an die Idee der Gleichheit gekoppelt ist. Wenn alle gleich behandelt werden, alle gleich leiden, sich alle gleich einbringen, dann gilt dies als gerecht und nicht zuletzt ,solidarisch‘. In einem Beitrag für den SPIEGEL hat erst kürzlich Albert Newen diese verbreitete Gerechtigkeitsvorstellung pointiert zusammengefasst. Die Corona-Krise verglich er folgerichtig mit einem brennenden Haus, bei dessen Löschung alle mithelfen müssten ­ indem sie sich erstens allen psychologischen Hindernissen zum Trotz an einsichtige Regeln wie Abstände, Masken, Hygiene halten, zweitens wie Kanzlerin Merkel den Erkenntnissen der Naturwissenschaft vertrauen und indem sich drittens ein jeder impfen lässt. Wer dies nicht tue, der handle in ähnlicher Weise unsolidarisch, wie jemand, „der bei einer Löschkette mit Wassereimern heraustritt und sagt: Ich mache nicht mit.“ Doch stimmt das überhaupt? Ist es nicht vielmehr so, dass das Virus anders als Feuer eben nicht für alle Menschen gleich gefährlich ist? Dass viele ihr persönliches Risiko – einmal abgesehen vom Präventionsparadox – nicht deswegen als (zu) gering einstufen, weil – wie Newen es darstellt – das Virus unsichtbar ist und noch zu wenige im Freundes- und Bekanntenkreis schwere Erkrankungen hautnah miterlebt haben, sondern weil sie einfach zu keiner Risikogruppe zählen? Und es deshalb auch nicht recht überzeugen kann, alle Häuser mit Wasser zu überfluten, obwohl die allermeisten gar nicht brennen? Wenn schon die Metapher mit dem brennenden Haus bemüht wird, sollte eher davon gesprochen werden, den Brand unter Kontrolle zu halten, damit er nicht auf andere Gebäude überspringt. Hierfür wäre es nötig, das Feuer zu isolieren, also im übertragenen Sinn für strengere Quarantäne von Infizierten zu sorgen sowie die mögliche Ansteckung von Risikogruppen möglichst rigoros zu unterbinden. Auch hier wäre die erste Tugend wieder: zu differenzieren und nicht alle in einen Topf zu werfen, ohne dass dies im Umkehrschluss heißt, die einen wegzusperren, damit sich der große Rest nicht einschränken muss. Zumal sich das ,ungleiche‘ Risiko in vielen Ländern nicht unbedingt auf Alter oder Vorerkrankungen, sondern vor allem auf soziale Faktoren wie Wohn- und Arbeitsverhältnisse, Beruf und Zugang zu medizinischer Versorgung bezieht.

Äußerst leichtsinnig ist hier im Übrigen Newens Suggestion, die individuelle Freiheit sei nichts, worauf man sich in der Krise berufen dürfe. Das Recht auf individuelle Freiheit und Selbstverwirklichung ist vielmehr auch in der Coronakrise völlig intakt und lediglich temporär ausgesetzt. Sobald die Gründe dafür jedoch entfallen und – wie vor allem bei Geimpften – diese Individuen für andere nicht mehr eminent gefährlich sind, besteht auch keine Veranlassung mehr, sie in ihren Grundrechten zu beschränken. An dieser Stelle aufgrund des Gleichheitsprinzips Grundrechte als Sonderrechte zu diskreditieren, würde nicht weniger als einen Kernbestand des Rechtsstaates attackieren. Und auch, wenn es dem Gerechtigkeitsgefühl von vielen widerspricht: für die sukzessive Rückkehr zu einer ,Normalität‘ in Freiheit wäre es zielführender, Blasen und virusfreie Zonen mit Geimpften zu schaffen, als Newens Vorschlag zu folgen und auf Lockerungen zu verzichten, bis wirklich alle geimpft sind.

Mit ebenfalls plausiblen Argumenten könnte man in diesen und anderen moralisch heiklen Fragen natürlich auch zu anderen Lösungen und Entscheidungen gelangen. Das ist vollkommen legitim. Nicht, weil alles gleich oder beliebig ist, sondern weil in einer derart komplexen Krise wie der COVID-19 Pandemie niemand den Standort der Wahrheit für sich gepachtet hat. Virologen und Psychologen, einfache Bürger und Politiker, Lobbyisten und Kirchenvertreter, Journalisten und Demonstranten – jeder trägt für sich genommen nur eine ,blinde‘ Perspektive bei, deren Berechtigung außer Frage steht und deren Vernetzung erst dazu beiträgt, dass der Elefant im Raum am Ende vielleicht erkannt wird. Aus dem gleichen Grund ist es keinesfalls angebracht, allen denjenigen, die aufgrund der sich derzeit beschleunigenden dritten Coronawelle weiterhin zur Vorsicht mahnen, das aufrichtige Bemühen abzusprechen, eine identifizierte Gefahr bestmöglich zu bannen. Und sich in krude Verschwörungsmythen über die ,wahren‘ Gründe einer solchen Politik zu versteigen.

Wo bleibt die Toleranz?

Wie wir es drehen und wenden: Den einen gehen die getroffenen Maßnahmen noch immer nicht weit genug, für die anderen sind hingegen längst die Grenzen des Hinnehmbaren überschritten. Beides lässt sich rechtfertigen. Je nach persönlichem Standpunkt mag einem die erste Haltung als feige oder solidarisch und die zweite als verantwortungslos oder freiheitsbewusst vorkommen. Eben diesen Standpunkt mitsamt dem daraus entspringenden Verhalten gilt es jedoch grundsätzlich zu tolerieren. Und Toleranz fängt dort an, sobald jemand überzeugt ist, im Recht bzw. im Besitz der besseren Argumente zu sein, anderen aber gleichwohl ihr Recht auf eine andere Meinung zubilligt.

Leider ist eine solche Toleranz heute ziemlich selten zu entdecken. Stattdessen dominiert die Vorstellung, die ,anderen‘ seien einfach zu dumm, um zu verstehen, was Sache ist. Lockdown-Befürworter geißeln deshalb die mangelnde Solidarität derjenigen, die sich ihre Freiheiten wieder nehmen, Kritiker des Lockdowns sehen sich hingegen im Stich gelassen von einer Herde willfähriger Untertanen, die nicht kapieren, wie sie manipuliert werden. Was beiden Gruppen fehlt, ist Vertrauen. Vertrauen darauf, dass die Mehrzahl der Menschen durchaus in der Lage ist, eigene Risikoabschätzungen verantwortungsvoll vorzunehmen. Und es mangelt an Toleranz. Toleranz, dass jemand die Lage anders einschätzt, auch wenn mir die Gründe nicht wirklich einleuchten. Dabei wäre es fatal zu glauben, besser zu wissen, was für andere gut ist, als diese selbst.

Besser wäre es, den anderen zunächst einmal zuzuhören. Warum die einen so sehr davon überzeugt sind, nur mit harten Maßnahmen eine Katastrophe, ein Massensterben zu verhindern. Und warum die anderen immer weniger Verständnis für solche Worst Case Szenarien haben. Anstatt hier vorschnell zu (ver)urteilen, wäre es angebracht, sich mit den jeweiligen Gründen auseinanderzusetzen. Vielleicht kommt dann bei den einen raus, dass sie in ihrer Angst tatsächlich ein wenig übertreiben. Und bei den anderen, dass sie sich aus durchaus egoistischen Motiven in ihrer Freiheit nicht weiter einschränken lassen wollen. Doch ist nicht auch die Angst um das eigene Leben oder das der Familie und Freunde ein egoistisches Motiv? Oder altruistisch, wenn Risikogruppen verlangen, alle anderen müssten sich ihnen gegenüber solidarisch verhalten?

Natürlich führt auch eine solche Diskussion am Ende zu keinem Konsens. Die unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Meinungen würden bleiben. Aber wäre es nicht trotzdem schlicht ein anderer Umgang miteinander? Zu sagen: mir leuchtet deine Position zwar nicht ein, aber du bist kein Unmensch, nur weil du so denkst, wie du es tust? Und es auch offen sagst?

Das mit Abstand schlechteste Argument in diesem Zusammenhang wäre im Übrigen das, woran wohl nicht wenige gerade gedacht haben: Aber die Experten, die Wissenschaftler, die Virologen sagen uns doch, was richtig ist! Das muss ich doch anerkennen! Ich habe doch gar keine Kompetenz, um den Experten zu widersprechen! Doch darum geht es gar nicht. Denn dafür widersprechen sich diese Experten oft genug selbst, und zwar beileibe nicht nur diejenigen, die im Internet wilde Verschwörungstheorien verbreiten. Wie viel Masken wirklich bringen, welche Maßnahmen de facto gegriffen haben und welche nicht, wie das Infektionsgeschehen unter Lockdown-Bedingungen verläuft, wie viel Kinder dazu beitragen, wie gut die einzelnen Impfstoffe wirken, ob die Feinstaubbelastung eine Rolle bei der Letalität spielt, wie hoch letztere überhaupt zu taxieren ist, welche Langzeitfolgen bei COVID-19 zu befürchten sind – über all das konnte man im Laufe der Krise von renommierten Experten höchst konträre Aussagen lesen. Das Gleiche gilt für die sehr spekulativen Hochrechnungen zu Übersterblichkeiten, verhinderten Sterbefällen und Kollateralschäden des Lockdowns. Oder auch für die Gefahr, durch Impfung derjenigen, für die das Virus eigentlich gar nicht gefährlich ist, das Risiko von Mutationen zu erhöhen. Die Experten entlasten also nicht von der Meinungsbildung. Ihre Uneinigkeit ist vielmehr der Hauptgrund, warum es momentan so viele unterschiedliche Meinungen und Verhaltensweisen gibt. Wären die Dinge klarer, würde weniger gestritten.

Demokratie braucht Toleranz – vor allem in der COVID-19 Pandemie

Noch wichtiger aber ist: die Experten sind nicht diejenigen, die entscheiden. Zumindest nicht in der Demokratie. In einer Demokratie sind es die Bürger selbst, die auf Basis der verfügbaren Informationen über die zu ergreifenden Maßnahmen befinden, zumeist mittelbar und entlang der üblichen Transmissionsriemen politischer Macht, aber: sie entscheiden. Und wenn einige, viele oder sogar die meisten von ihnen mit den Auffassungen der Regierung nicht einverstanden sind, dann haben sie das Recht, dies öffentlich kundzutun oder auch auf die Abwahl einer solchen Regierung hinzuarbeiten. Ohne dafür angefeindet zu werden. Erneut aber braucht es dafür bei allen betroffenen Seiten Toleranz. Toleranz dafür, dass Regierungen, so lange sie im Amt sind, kollektiv verbindliche Entscheidungen für alle Bürgerinnen und Bürger treffen können, auch für diejenigen, die diese Entscheidungen inhaltlich ablehnen. Formal müssen letztere sie mittragen, auch, wenn das während einer Pandemie heißt, die politischen Bürgerrechte nur auf bestimmte Weise ausüben zu können. Toleranz aber auch dafür, dass es legitim ist, der Regierung ihre teils massiven Versäumnisse vorzurechnen, obwohl man ihr nicht abspricht, das Beste gewollt zu haben. Und schließlich Toleranz dafür, dass verschiedene Gruppen im politischen Diskurs für eine alternative Politik zum Regierungskurs werben. Für Zero COVID bzw. No COVID oder für das Gegenteil: etwa den schwedischen Versuch, mithilfe einer weitgehend einsichtigen Bevölkerung Ansteckungsquoten gleichmäßig niedrig zu halten, die Intensivmedizin zu entlasten und – hoffentlich – die Immunität der Nicht-Risikogruppen voranzutreiben. Beides ist politisch legitim und versucht auf je eigene Weise, das geringstmögliche Übel zu erreichen. Dies gilt es zu tolerieren.

Mit am gefährlichsten ist deshalb die aktuelle Tendenz, der Demokratie zu unterstellen, für die Bewältigung der Krise nicht geeignet und einer Autokratie wie China diesbezüglich hoffnungslos unterlegen zu sein. Wenn die Leute so uneinsichtig sind und das Risiko des Coronavirus nicht ernstnehmen, dann müssen sie notfalls mit aller Härte gezwungen werden! Dieses ,Argument‘ ist in letzter Zeit des Öfteren zu vernehmen, zwar hinter vorgehaltener Hand, aber zunehmend lauter und schriller. Der größte Vorteil der Demokratie, dass hier diverse und divergente Wege zu diskutieren sind, dass sie aus begangenen Fehlern lernen und zwischen den gegensätzlichen Interessen und Wünschen der Bürger vermitteln kann, wird dabei nonchalant in einen Nachteil umgedeutet.

Auch an diesem Punkt zeigt sich wieder, dass die Coronakrise in vielerlei Hinsicht keine neue Situation geschaffen hat, sondern wie ein Katalysator für bereits zuvor virulente Entwicklungen wirkt. Ein Katalysator, der alte Defizite ans Tageslicht bringt wie die wachsende soziale Kluft und entsprechend ungleich verteilte Risiken, ein krank gespartes Gesundheitssystem sowie einen politischen Diskurs, der auf der einen Seite vor Political Correctness nur so trieft und vielleicht – mit Chantal Mouffe – gerade deswegen extrem polarisiert: Weil es nicht mehr darum geht, sich mit anderen Meinungen und Argumenten auseinanderzusetzen, sondern im Lager der ,Guten‘ zu stehen und die ,Bösen‘ mit Totschlagargumenten zur Räson zu bringen. Auch die de facto beängstigenden Zweifel an der Demokratie sind schon lange vor 2020 artikuliert worden – etwa von denen, die angesichts des Klimawandels von einer Öko-Diktatur träumten oder denen, die die Demokratie längst von populistischen respektive kapitalistischen Kräften unterwandert sahen. In der Coronakrise haben solche Vorbehalte gegenüber der Volksherrschaft nochmals krass zugenommen. Auch wenn sich alle Seiten nach wie vor auf sie berufen und immer nur dem politischen Gegner vorwerfen, als Totengräber der Demokratie zu agieren. Damit Demokratie indes funktionieren kann, darf der Gegner nicht diffamiert, sondern muss toleriert werden – so lange er das Gleiche tut.

Was nun?

Und die Moral von der Geschichte? Ja, ich kann und soll meine Meinung sagen. Vor allem in der Krise, selbst wenn es dort vielen womöglich am schwersten fällt und harsche Reaktionen zu erwarten sind. Aber wenn sich diese vielen nicht überwinden, dominieren nur die Schreihälse. Auf beiden Seiten. Die sich gegenseitig beschimpfen, weil die Nerven blank liegen. Sodass zahlreiche Demonstranten die Befürworter der Corona-Schutzmaßnahmen als Nazis verunglimpfen, während ihnen in den sozialen Netzwerken von nicht wenigen ein qualvoller COVID-Tod gewünscht wird: als Strafe für ihre Uneinsichtigkeit. Ja, ich habe meine Meinung und äußere sie, aber ich muss auch die Meinungen der anderen zur Kenntnis nehmen und nicht nur das selektieren, was meinen eigenen Standpunkt unterstützt. Ich darf sogar Querdenker sein, den Regierungskurs ablehnen und allen anderen mit meiner Meinung auf die Nerven gehen. Aber ich sollte keine Fake News produzieren und verbreiten, z. B. dass in Deutschland gerade ein Euthanasieprogramm läuft, in dem alte, wehrlose Menschen gegen ihren Willen zu Tode gespritzt werden. Und nicht vollkommen geschichtsvergessen behaupten, es sei wieder 1933, das Infektionsschutzgesetz ein Ermächtigungsgesetz und deswegen gewaltsamer Widerstand angebracht. All das läuft gerade ziemlich aus dem Ruder, verhöhnt die Opfer des Dritten Reichs und fast noch schlimmer: entschuldigt die Täter. Und verkennt, dass es in der Coronakrise nur ganz am Rande um Schuldzuweisungen gehen sollte.

Doch egal, welcher Meinung ich bin, ich habe zu tolerieren und meine Frustration zu beherrschen, wenn ich damit ziemlich allein dastehe und zumindest politisch in der Minderheit bin. Eine Toleranz der Meinungsvielfalt, der Ambiguität und nicht zuletzt der eigenen Frustration: Sie fehlt derzeit am meisten. Noch mehr als ausreichend Impfstoff und Solidarität.