Darf ich Sie auf ein Gedankenexperiment einladen?

Von Štefan Riegelnik (Zürich/Wien)


In unseren Gedanken können wir uns Szenarien vorstellen, die mit der Realität nichts zu tun haben. In diesem Beitrag möchte ich der Frage nachgehen, ob uns dabei Grenzen gesetzt sind. Und falls ja, welche? Oder können wir uns beliebige Szenarien denken? Ich möchte auf einige Aspekte dieser Frage eingehen und andeuten, wie wir mit Gedankenexperimenten an Grenzen stoßen.

“Stellen Sie sich vor, wie es wäre, wenn …” Diese Worte können als Einladung dazu dienen, sich in Gedanken eine Situation vorzustellen, in der man sich vielleicht gerade nicht befindet. So könnte man eine Person mit der Absicht, sie zu einem Ortswechsel zu bewegen, dazu einladen, sich auszumalen, wie es wäre, in eine ferne Stadt in einem unbekannten Land zu ziehen, um dort ein neues Leben zu beginnen. Auch wenn es vielleicht umstritten ist, ob es sich dabei um ein Gedankenexperiment handelt, so will ich es zumindest hier als ein solches auffassen. Nimmt die Person die Einladung zum Gedankenexperiment an, könnte sie darüber sinnieren, wie es wäre, an dem auserwählten Ort die Gegend zu erkunden, neue Freunde kennenzulernen und einer neuen Arbeit nachzugehen. Gewiss, bevor die Person den Schritt tatsächlich wagt, wird sie ein solches Szenario im Kopf durchgehen. Manche werden vielleicht das Szenario bloß grob umreißen, da zu viele Überlegungen auch zu viele unnötige Zweifel aufwerfen könnten. Eine sehr vorsichtige Person wiederum wird das Szenario bis ins letzte Detail akribisch ausführen, denn eine solche einschneidende Entscheidung möchte doch sehr gut überlegt sein. Sie wird in ihren Gedanken das Szenario in vielen Einzelheiten ausgestalten und sich vielleicht auch überlegen, wie es wäre, an diesem neuen Ort eine Vorstellung im Theater zu besuchen. Oder wie es wäre, an diesem Ort ins Kino zu gehen. Oder wie es wäre, in der neuen Stadt ein Konzert am Vormittag zu besuchen. Oder ein Konzert am Nachmittag. Und so weiter und so fort. So absurd und wenig hilfreich solche Überlegungen für die Entscheidung manchen von uns auch erscheinen, prinzipiell scheint es keine Grenzen zu geben, wie akribisch und detailliert man ein Gedankenexperiment ausführt. Scheinbar können wir selbst bestimmen, wann wir ein Gedankenexperiment für beendet erklären und so auch seine Grenzen setzen. Andererseits wird auch die etwas sehr pedantische Person ihren Gedankengang nicht ewig weiterführen können. Sie wird wohl irgendwann vom Schlaf überwältigt werden und dann ist der Gedankengang zumindest unterbrochen. Auch wenn sie ihre Überlegungen nach überstandener Nacht weiterführen sollte – das Gedankenexperiment wird sie wohl spätestens dann beenden, wenn sie den Weg alles Irdischen gegangen ist. Aber ganz unabhängig davon, ob das so geführte Gedankenexperiment sinnvoll oder hilfreich ist, um zu entscheiden, ob man es wagt, an den neuen Ort zu ziehen: Eine Form der Grenze von Gedankenexperimenten besteht durch die Zeit, die wir mit ihnen verbringen beziehungsweise verbringen können.

Ich möchte nun auf einen weiteren Aspekt einer potentiellen Grenze von Gedankenexperimenten eingehen. Gedankenexperimente ermöglichen es, Überlegungen anzustellen, ohne sie in die Tat umsetzen zu müssen. Auch wenn es naheliegend ist, Gedankenexperimente dahingehend zu unterscheiden, ob sie in die Realität umgesetzt werden oder nicht beziehungsweise ob sie umgesetzt werden können oder nicht, so scheint die von uns unabhängige Realität keine unmittelbaren Grenzen zu setzen, wenn es darum geht, Gedankengänge zu entwickeln. Nehmen wir an, eine Person grübelt darüber, mit einem Fluggerät zur Venus zu fliegen. Man hätte wohl keine besonderen Schwierigkeiten, sich prinzipiell eine solche Reise vorzustellen. Anstatt zum Mond zu fliegen, so könnte man räsonieren, versucht man, noch etwas weiter zu fliegen und gegen die auf der Venus herrschende Hitze wird man sich schon irgendwie schützen können. Auch wenn man sich das alles schwer als realisierbar vorstellen kann, so ist es doch irgendwie nachvollziehbar und verständlich. Das zeigt sich auch daran, dass – sollte man es tatsächlich versuchen, eine solche Reise in die Realität umzusetzen – man auch wüsste, wo man ansetzen müsste. Man weiß um die Distanz zur Venus und folglich auch wieviel Treibstoff man bräuchte, um die lange Reise zu überstehen. Man weiß auch, welche Temperatur auf der Venus herrscht und ein Flugobjekt aushalten müsste. All diese und auch andere Faktoren einbeziehend wird man dann vielleicht zum Schluss kommen, dass zumindest derzeit damit die Grenzen der Möglichkeit überschritten wären, weil uns schlicht die technischen Mittel dazu fehlen, eine solche Reise zu unternehmen. Aber in unseren Gedanken ist eine solche Reise möglich: Die von uns unabhängige Realität legt uns keine Grenzen auf.

Aber auch wenn der Aspekt der Umsetzbarkeit keine Grenzen zu setzen scheint – davon zeugt auch die Unzahl an fiktiven Erzählungen in der Literatur – Gedankenexperimente müssen doch auch gedacht werden können, oder, um es auf die Ebene der Sprache zu verlagern, Gedankenexperimente müssen verstanden werden können. Denn, so trivial es auch klingen mag: Um ein Gedankenexperiment entweder als passend, oder als in die Realität umsetzbar, oder als plausibel, oder als hilfreich – oder eben all das nicht – einschätzen zu können, ist immer vorausgesetzt, dass wir verstehen oder nachvollziehen können, was eine Erzählerin eines Gedankenexperiments ausdrücken will.

Die Frage nach dem Verstehen von Gedankenexperimenten – oder genauer: ob wir es verstehen – wird gerade dann akut, wenn es darum geht, die Grenzen des Verstehens zu bestimmen beziehungsweise wenn man zeigen möchte, dass die Grenze überschritten wurde und man eigentlich nicht versteht, was eine Sprecherin ausdrücken möchte. Wohl wahr, es kann an unterschiedlichen Gründen liegen, warum eine Person ein Gedankenexperiment nicht versteht. So könnte es daran liegen, dass das Gedankenexperiment in einer Sprache vorgetragen wird, die die Interpretin nicht versteht, zum Beispiel, weil sie nie Französisch gelernt hat. Für die Philosophie wesentlich interessanter sind jedoch jene Fälle, in denen es nicht an solchen praktischen Gründen liegt, sondern wenn das Verstehen im Zusammenhang mit philosophischen Problemstellungen thematisiert wird. Ein Beispiel: Descartes sinniert in der Ersten Meditation seiner Meditationen über die Erste Philosophie darüber, dass wir von der Welt um uns herum nichts wissen können, da wir nicht ausschließen können, dass ein böser Geist uns systematisch über die Außenwelt täuscht. Ich fasse dies als Gedankenexperiment auf, das Descartes vorbringt, um seinen methodischen Zweifel einzuführen mit dem Ziel, das Fundament unserer Wissensansprüche zu untersuchen. Ein Einwand gegen die These, wir hätten kein Wissen von unserer Außenwelt, lautet nun, in einer Kurzfassung, dass wir das so vorgetragene Gedankenexperiment nicht verständen, wenn wir nichts über die Außenwelt wüssten, da wir nicht über die notwendigen begrifflichen Mittel verfügten. Man hätte uns die Wörter und die mit ihnen ausgedrückten Begriffe – Täuschung, Geist, Welt etc. – nicht beibringen können, wenn wir nicht auch wissen würden, worauf sie sich beziehen. Folglich würde die Skeptikerin ein solches Gedankenexperiment nicht vorbringen können beziehungsweise wir als Interpretierende könnten es nicht verstehen.

Natürlich ist das Argument umstritten und es bedarf an ausführlicher Darstellung und Ausarbeitung, aber es spricht die Bedingungen des Verstehens des Gedankenexperiments an. Denn je nach Bild der Sprache wird man andere Bedingungen der Möglichkeit von Sprache anführen. Worauf ich hier nochmals hinweisen möchte ist, dass die Grenze eines Gedankenexperiments auch darin liegt, ob es über die Möglichkeit, dass wir es verstehen, hinausgeht.

In der Philosophie haben sich Gedankenexperimente für unterschiedliche Zwecken etabliert. Auch, wie ich es hier nenne, Einladungen zu Gedankenexperimenten – denn sie werden eingesetzt, um zu zeigen, dass wir bestimmte Äußerungen nicht verstehen. Eine solche Vorgehensweise wird etwa gewählt, wenn man zeigen möchte, dass manche Sätze notwendig wahr sind. In diesen Fällen könnte man fragen, ob wir die Verneinung solcher Sätze verstehen würden und falls nein, so spräche doch etwas dafür, dass besagter Satz notwendig wahr ist. Typischerweise gehören mathematische Sätze wie “Zwei plus zwei ergibt vier” dazu. Darf ich Sie nun auf ein Gedankenexperiment einladen, und Sie versuchen, sich vorzustellen, dass zwei plus zwei nicht vier ergibt, sondern fünf? Vielleicht werden sie ausrufen, dass Sie es natürlich verstehen. Damit Ihre Behauptung aber nicht unbegründet stehen bleibt, hoffe ich, Sie folgen mir. Versuchen Sie sich nun vorzustellen, dass Sie auf einen sonst leeren Tisch zwei Äpfel legen und dann nochmals zwei Äpfel – können Sie dann wirklich glauben, dass Sie plötzlich fünf Äpfel vorfinden? Würde Sie nicht doch eher glauben, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugeht und jemand einen fünften Apfel versteckt dazugelegt hat? Oder würden Sie – ich nehme es nicht an – deswegen die Grundgesetze der Mathematik in Frage stellen? Falls sie immer noch skeptisch sind und weiter annehmen, dass sie sich vorstellen können, dass zwei plus zwei fünf ergibt, darf ich Sie dann weiter fragen, ob Sie denn auch der Meinung sind, dass wenn von den angeblichen fünf Äpfeln zwei wieder weggenommen werden, und dann nochmals zwei, ob dann ein Apfel übrig bleibt? Und wie viele Äpfel sind Ihrer Meinung dann auf dem Tisch zu finden, wenn ich zunächst zwei Äpfel hinlege, und dann drei Äpfel? Es lässt sich schwer nachvollziehen, dass in beiden Fällen fünf Äpfel auf dem Tisch zu finden wären. Und, um das Szenario weiter zu führen, wie würden Sie agieren, wenn Sie einen Tisch in einem Restaurant für Sie, Ihre Begleitung und ein befreundetes Paar reservieren wollen würden? Welchen Tisch müsste das Gegenüber für Sie reservieren, wenn Sie sagen würden, dass zwei Paar kommen, also ein Tisch für fünf Personen notwendig ist? Lässt man sich ernsthaft auf das Gedankenexperiment ein und versucht die Konsequenzen der anfänglichen Annahme konsistent zu denken, wird man sich schnell in Widersprüche verstricken und sich ein solches Szenario nicht denken können. Man wird zum Schluss gelangen, dass wir eine Person, die das ernsthaft behauptet, nicht verstehen, was sie uns sagen will (natürlich kann sie einen solchen Satz äußern) beziehungsweise wüssten wir nicht, wie wir danach handeln sollen. Denn es käme zu zu vielen Konflikten mit grundsätzlichen Annahmen, die unsere Lebensweise bestimmen. Die Grenzen von Gedankenexperimenten liegt daher auch in dem, was wir verstehen, wobei ich nicht leugnen möchte, dass es einige Umwege braucht, um zu zeigen, dass wir ein Gedankenexperiment nicht verstehen.

Gedankenexperimente spielen innerhalb und außerhalb der Philosophie eine wichtige Rolle. Sie werden zu unterschiedlichen Zwecken eingesetzt und manchmal ist der Zweck nicht erfüllt, weil das Gedankenexperiment am Thema vorbei geht, wichtige Details nicht bedacht werden und das Argument, das die Philosophin vorbringen möchte, nicht stützt. So trivial es auch ist, in all diesen Fällen der Beurteilung ist das Verstehen des Gedankenexperiments vorausgesetzt. Ebenso trivial ist es, dass wir die Grenzen des Verstehens nicht überschreiten können, denn dann würden wir es ja doch verstehen und die Grenze wäre eben nicht überschritten. Verstehen wir es als Einladung und versuchen, eine anfängliche Annahme eines Gedankenexperiments konsistent weiterzudenken, dass mit der Intention eingeführt wurde, um uns an die Grenze des Verstehens zu bringen, so würden wir merken, wann diese Grenze erreicht wurde. Wir müssten viele grundlegende Annahmen, die unsere Lebensform bestimmen, aufgeben. Und das scheint uns in manchen Fällen doch an die Grenzen zu bringen.


Štefan Riegelnik lebt und arbeitet in Zürich und Wien. Er unterrichtet an der WU Wien, an der Universität Zürich und an der Universität Klagenfurt. Seine Forschungsgebiete sind die Sprachphilosophie, die Erkenntnistheorie und die Philosophie der Sozialwissenschaften. Homepage: www.riegelnik.org.