Es gibt keine Gedankenexperimente!

Von Julia Langkau (Fribourg)


Gedankenexperimente haben in letzter Zeit viel Aufsehen erregt, und das nicht nur in der akademischen Philosophie. Die zeitgenössische (analytische) Philosophie scheint endlich etwas gefunden zu haben, das einerseits dem Kern ihrer Tätigkeit entspricht und andererseits in kompakter Form etwas darstellt, woran alle teilnehmen können. Das Gedankenexperiment ist zum Paradebeispiel gelungener Philosophie-Vermittlung geworden. Indem es eine konkrete, meist auch absurde Geschichte erzählt, gibt es dem Laien einen repräsentativen und im besten Falle unterhaltsamen Einblick in philosophisches Denken. Das Gedankenexperiment ist zugleich befremdlich und zugänglich. Es vermittelt den Eindruck, dass wir es mit etwas spezifisch Philosophischem zu tun haben, gleichzeitig aber keinen grossen Aufwand betreiben müssen, ja uns beim Philosophieren sogar unterhalten lassen dürfen. Es suggeriert, dass es in der Philosophie nicht nur um die schwierigen, grossen Fragen danach, was wir wissen können, was wir tun sollen und hoffen dürfen etc. geht, sondern manchmal auch um das ganz Konkrete: um chinesische Schriftzeichen, um Liebespillen, um einen Geiger, um Smith und Jones und Swampman und Mary … und wie sie sonst noch alle heissen.

Die Frage, was denn ein Gedankenexperiment genau ist, ist für die Philosophie-Vermittlung kaum relevant, hat aber die akademische Philosophie besonders im letzten Jahrzehnt umgetrieben, und treibt sie auch heute noch um. Hier ist ein klassisches Beispiel:

In seinem Aufsatz „Geist, Gehirn, Programm“ beschäftigt sich John Searle mit der Frage, inwiefern ein Computer, der so programmiert ist, dass er Fragen zu einer Geschichte beantworten kann, diese Geschichte tatsächlich versteht, und inwiefern das, was der Computer bzw. das Programm tut, menschliches Verstehen erklären kann. Hier ist das Szenario, das wir uns vorstellen sollen: „Nehmen wir an, ich bin in einem Raum eingeschlossen, und man gibt mir einen Packen mit chinesischer Schrift. Nehmen wir weiter an, dass ich (…) kein Chinesisch kann, es weder schreiben noch sprechen kann, und dass ich nicht einmal sicher bin, ob ich chinesische Schrift als chinesische Schrift erkennen und von, sagen wir, japanischer Schrift (…) unterscheiden könnte. (…) Nehmen wir nun weiterhin an, dass man mir nach dem ersten Packen mit chinesischer Schrift einen zweiten Packen mit chinesischen Schriftzeichen gibt, zusammen mit einer Reihe von Anleitungen, wie ich den zweiten Stoss zum ersten in Beziehung setzen soll. Die Anleitungen sind in Englisch abgefasst, und ich verstehe diese Anleitungen ebenso gut wie jeder andere, dessen Muttersprache Englisch ist. Sie ermöglichen es mir, eine Reihe formaler Symbole in Beziehung zu einer anderen reihe formaler Symbole zu setzen, und ‚formal’ bedeutet hier nichts weiter, als dass ich diese Symbole ausschliesslich an Hand ihrer Form identifiziere. Nehmen wir nun auch noch an, man gibt mir einen dritten Packen chinesischer Symbole, zusammen mit einigen Anweisungen, ebenfalls in Englisch, die es mir ermöglichen, Teile dieses dritten Packens in Beziehung zu setzen zu den zwei ersten Packen; und diese Anleitungen weisen mich an, bestimmte Symbole mit bestimmten Formen in Antwort auf bestimmte Formen, die mir mit dem dritten Packen zugegangen sind, zurückzugeben. Was ich nicht weiss, ist, dass die Leute, die mir all diese Symbole geben, den ersten Packen eine ‚Schrift’, den zweiten packen eine ‚Geschichte’ und den dritten Packen ‚Fragen’ nennen. Des weiteren nennen sie die Symbole, die ich ihnen in Antwort auf den dritten Packen zurückgebe, ‚Antworten auf die Fragen’, und die Reihe von englischsprachigen Anleitungen, die sie mir geben, nennen sie ‚Programm’.“ (Searle 1980, 234-235) Searle fährt nun fort, dass für eine Person, die nicht in diesem Raum ist, Searles ‚Antworten auf die Fragen’ nicht unterscheidbar sind von Antworten, die jemand geben würde, dessen Muttersprache Chinesisch ist. Würden wir sagen wollen, dass Searle Chinesisch versteht? Searle verneint die Frage und zieht dann eine Parallele: Auch in Bezug auf Computer, die in der Lage sind, Antworten auf Fragen zu produzieren, die sich nicht von Antworten unterscheiden, die ein Mensch geben würde, wollen wir nicht davon sprechen, dass sie irgendetwas verstehen.

Ist ein Gedankenexperiment ganz einfach ein Argument? Wer das vertritt, legt die Betonung darauf, dass wir mit dem Gedankenexperiment eine gewisse Theorie oder einen Begriff stützen oder verwerfen wollen. Searle will z.B. zeigen, dass Computer zwar gemäss ihrer Programmierung wie intelligente Wesen funktionieren können, dabei aber nicht verstehen, worum es geht. Aber werden wir mit dieser Auffassung des Gedankenexperiments der Rolle unserer Vorstellungskraft gerecht? Das Gedankenexperiment, so andere Philosoph*innen, ist eher wie ein Experiment, nur eben in Gedanken: wir stellen uns irgendein oft kontrafaktisches, zumindest aber merkwürdiges Szenario vor, das es ermöglicht, einen normalerweise verdeckten Zusammenhang freizulegen. Welche Rolle spielt dabei das Partikuläre und die Tatsache, dass wir es mit einer kleinen Geschichte zu tun haben? Manche Philosoph*innen denken, dass das Gedankenexperiment genau aufgrund der Nähe zum literarischen Text auf ganz eigene Weise Wissen, Einsicht oder Verständnis vermitteln kann.

Philosoph*innen, die Gedankenexperimente von Argumenten unterscheiden wollen, sprechen unserer Intuition eine wichtige Rolle zu. Im obigen Beispiel wäre es die Intuition, dass Searle kein Chinesisch versteht, obwohl er chinesische Sätze produzieren kann (und ausserdem wohl die Intuition, dass sich dieses Szenario auf Computer übertragen lässt). Das Gedankenexperiment zeigt uns so, dass zwischen der Fähigkeit, einen korrekten Satz hervorzubringen einerseits und dem Verstehen dieses Satzes andererseits kein notwendiger Zusammenhang besteht. Nun sind sich aber nicht immer alle einig, was die Beurteilung eines solchen Szenarios angeht. Zum Beispiel denken manche, dass Searles chinesisches Zimmer als Ganzes, bestehend aus der Person im Raum, dem Programm und den Schriftzeichen, durchaus Chinesisch versteht. Da unsere Intuitionen oft nicht übereinstimmen, stellt sich schnell die Frage, wessen Intuitionen denn nun relevant sein sollten. Auch hierzu wurde in letzter Zeit viel geschrieben.

Vielleicht ist die Frage nach den Intuitionen aber auch gar nicht so interessant. In einem unveröffentlichten Manuskript argumentiert Derek Ball, dass Gedankenexperimente keine Quellen von Wissen, sondern einfach eine Art sind, Fragen zu stellen. Als ich das vor einiger Zeit in einem Vortrag zum ersten Mal hörte, schrieb ich gerade an meiner Dissertation zum Thema Intuitionen und fand die Idee schlecht – natürlich, weil sie meinen damaligen Thesen widersprach. Mittlerweile bin ich mit Derek einig, dass wir uns manchmal gar nicht sofort darüber im Klaren sind, wie wir auf die oft befremdlichen Szenarien reagieren sollen. Ob wir überhaupt eine Intuition haben, hängt wahrscheinlich unter anderem von unserem Charakter ab. Meine eigenen Beispiele, Gegenbeispiele und „Gedankenexperimente“ wähle ich selbstverständlich so aus, dass ich von ihnen überzeugt bin, aber beim Lesen eines Textes nehme ich meist erst einmal die Position der Autor*in an, um überhaupt verstehen zu können, wozu das Beispiel oder das Gedankenexperiment im theoretischen Kontext dienen soll. Es ist also ganz normal und durchaus in Ordnung, zu einem Szenario erst einmal keine Intuition zu haben – besonders, wenn das Szenario aus dem Kontext herausgerissen ist, in dem es eine gewisse Funktion hat.

Auf keinen Fall aber ist es wichtig, dass wir Philosoph*innen alle die gleichen Intuitionen haben (geschweige denn, dass Personen, die ein Szenario ausserhalb des Kontextes, in dem es eine bestimmte Funktion hat, beurteilen, die gleichen Intuitionen haben wie Philosoph*innen), denn unterschiedliche Intuitionen motivieren uns, verschiedene Theorien auszuarbeiten – und das gibt uns die Möglichkeit, unsere Auffassungen detaillierter miteinander zu diskutieren und unsere Theorien im gegenseitigen Austausch zu entwickeln.

„Wer ist wichtiger, deine Freundin oder du selbst?”, hat mich kürzlich mein 6-jähriges Kind gefragt. Als ich zögerte und versuchte, den Kontext der Frage zu verstehen (weil die Antwort, die man Kindern gibt, ja oft vom Kontext abhängt – also davon, was sie gerade zu beschäftigen scheint), kam auch schon die nächste Frage: “Stell dir vor, jemand sage zu dir, er müsse eine von euch erschiessen. Würdest du dich erschiessen lassen?”- “Wenn es um dich und mich ginge“, fiel mir als erstes ein, „würde ich mich auf jeden Fall erschiessen lassen”. Mein Kind war nicht überrascht, dass ich keine direkte Antwort bereit hatte. Es fuhr fort: “Wenn ich alt wäre und die andere Person jung, dann wäre die Sache klar.” Damit war das Gespräch beendet, wir waren im Park, mein Kind mit einer Freundin, die Sonne schien, und beide rannten fröhlich mit ihren Waffen (Stöcken) davon. War das gerade eine philosophische Frage zum Begriff der Freundschaft? Und war das vielleicht ein Gedankenexperiment? Wir könnten diese Überlegungen leicht in eine Form bringen, die anderen Szenarien gleicht, die „Gedankenexperimente“ genannt werden, vielleicht etwa so: „Anne und Marie sind sehr gute Freundinnen. Eines Tages, während sie wie oft durch den Park spazieren, werden die beiden von Mitgliedern eines Kultes gekidnappt. Sie werden voneinander getrennt und Anne wird erklärt, dass der Kult ein Opfer verlangt, und dass sie entscheiden kann, ihr eigenes Leben oder das Leben der Freundin zu opfern. Was sollte Anne tun?“ Und dann könnten wir das Gedankenexperiment variieren und fragen: Was sollte Anne tun, wenn sie ein Kind hat, Marie aber nicht? Was, wenn Anne älter ist und Marie ein Kind? – Gedankenexperimente sind dazu da, auf schwierige Fragen hinzuweisen. Aber Fragen stellen wir uns natürlich nicht nur in der akademischen Philosophie, und nicht nur anhand von konkreten Beispielen wie dem von Anne und Marie.

Ich bin mit Derek darin einig, dass Gedankenexperimente dazu dienen, Fragen aufzuwerfen, aber ich gehe einen Schritt weiter: Es gibt Gedankenexperimente als eine spezifisch philosophische Methode nicht. Niemand denkt, im Lehnstuhl sitzend (wer arbeitet überhaupt im Lehnstuhl?) und über eine philosophische Frage nachdenkend: hier sollte ich ein Gedankenexperiment durchführen. Der einfache Grund ist, dass das, was wir mit Gedankenexperimenten tun, zu unserer Kerntätigkeit als Philosoph*innen gehört. Besonders als analytische Philosoph*innen sind wir beinahe davon besessen, Vergleiche zu ziehen und Unterscheidungen zu treffen, um besser darüber nachdenken können, wie sich gewisse Begriffe oder Sachverhalte zueinander verhalten – ob sie etwa notwendig zusammenfallen oder nicht: ob Computer wirklich verstehen, wenn sie sich so verhalten, als würden sie verstehen, oder ob Freundschaft bedeutet, bereit zu sein, das eigene Leben für das der Freundin herzugeben. Und manchmal erdenken wir Beispiele oder Szenarien, die besonders weit vom alltäglichen Leben entfernt sind und deswegen vielleicht besonders interessant klingen. Unter anderem wohl auch, weil sie Fragen betreffen, die von breiterem Interesse sind, haben einige dieser Beispiele und Szenarien den Weg aus der akademischen Philosophie in die breitere Öffentlichkeit gefunden. Die meisten philosophischen Gedankenexperimente sind allerdings schlechte Geschichten. Sie sind lieblos, absurd und pedantisch, und deswegen merkwürdig – und ja, das kann manchmal durchaus seinen Reiz haben.  Diese Geschichten sind aber nicht mehr als Nebenprodukte unseres alltäglichen philosophischen Denkens.

Statt Diskussionen über eine Theorie der Gedankenexperimente zu führen, sollten wir uns vielleicht allgemeiner damit beschäftigen, was philosophische Fragen kennzeichnet und wie die Vorstellungskraft uns helfen kann, solche Fragen zu stellen – und zu beantworten. Und statt zu suggerieren, dass es eine Methode der Philosophie gibt, die dem Laien einen schnellen und unterhaltsamen Zugang zu Philosophie ermöglicht, sollten wir vielleicht kommunizieren, dass philosophische Fragen sich oft davon wegbewegen, was uns im alltäglichen Leben gegeben ist. Sie verlangen, dass wir uns gedanklich nicht nur mit vertrauten Situationen beschäftigen, sondern darüber hinausgehen. Statt nur auf die übliche, beschränkte Auswahl an bekannten Szenarien der Philosophiegeschichte zu schauen, wäre es vielleicht wichtiger (oder zumindest genauso wichtig), zu lernen, selber feine Unterscheidungen jenseits des Alltagsgeschehens zu treffen – ob im Park mit einer guten Freundin, zu Hause im Lehnstuhl … oder doch eher am Schreibtisch.


Dank an Sebastian Rosengrün und Derek Ball.


Ball, Derek (https://www.st-andrews.ac.uk/~db71/), „Thought Experiments as Questions”, unveröffentlichtes Manuskript.

Searle, John (1980): „Geist, Gehirn, Programm“. In Zimmerli, Walter C, Wolf, Stefan (Hg.), Künstliche Intelligenz: Philosophische Probleme, Stuttgart: Reclam 1994.


Julia Langkau (http://www.julialangkau.com/) ist Philosophin und war zuletzt Ambizione Fellow des Schweizerischen Nationalfonds an der Universität Fribourg. Sie hat ihre Dissertation zu Intuitionen und Gedankenexperimenten in St Andrews (Schottland) geschrieben und war an den Universitäten Zürich, Konstanz und Miami tätig. Derzeit arbeitet sie an einem Buch zur Natur und Struktur von Erfahrung, die wir in der Auseinandersetzung mit Literatur machen.