Epische Phänomene und Quallen (von denen Mary aber nichts weiß)

Von Sebastian Rosengrün (Berlin)


Dieser Artikel ist ein Gedankenexperiment. Es handelt von Mary. Mary ist eine brillante Philosophin, die, aus welchen Gründen auch immer, gezwungen ist, über die Welt von einer Bibliothek aus nachzudenken, die zwar einen durchaus beachtlichen Bestand aufweist, aus deren Büchern, Aufsätzen und sonstigen Texten aber alle Gedankenexperimente (und nur diese) ausradiert wurden. Und von hier ausgehend wird dieses Gedankenexperiment so wunderbar widersinnig, dass es am Schluss nicht weniger verwirrend wird als jede andere Einsicht der Philosophie.

Mary spezialisiert sich nämlich auf die philosophische Erkenntniskraft von Gedankenexperimenten und eignet sich, wie wir annehmen wollen, alle philosophischen Theorien und Argumente an, die die Philosophiegeschichte dazu jemals hervorgebracht hat. Sie liest zum Beispiel alles über die Erkenntniskraft des Gedankenexperiments “Mary” von Frank Jackson, ohne jedoch zu wissen, dass dieses Gedankenexperiment von einer brillanten Wissenschaftlerin handelt, die sich auf Farbwahrnehmung spezialisiert hat, ohne jemals Farben gesehen zu haben. Im Internet stößt Mary schließlich auf die Rubrik “Gedankenexperimente” des Philosophie-Blogs www.praefaktisch.de. Selbstverständlich filtert die Bibliothek auch alle Gedankenexperimente aus dem Internet heraus. Mary kann in diesem Themenblog zwar alles Mögliche über Gedankenexperimente lesen, aber die dort zitierten und selbst ausgedachten Gedankenexperimente sind ebenfalls unkenntlich gemacht.

Nichtsdestotrotz würde Mary dort sehr gerne einen Artikel über Gedankenexperimente veröffentlichen, da sie eine ausgewiesene Expertin für die Erkenntniskraft von Gedankenexperimenten ist. Mary möchte darin die Frage diskutieren, ob sie etwas Neues über Gedankenexperimente lernen könnte, wenn man ihr nur einmal einen Text zum Lesen reichen würde, der ein wirkliches Gedankenexperiment enthält. In diesem Artikel müsste Mary sich jedoch zunächst die Frage stellen, ob sie ein Gedankenexperiment überhaupt erkennen würde. Wenngleich sie alles zu Gedankenexperimenten und ihren Funktionen in der Philosophiegeschichte weiß, ist sie sich nämlich unsicher, ob sich dieser Begriff definieren lässt, ob es überhaupt so etwas wie notwendige und hinreichende Bedingungen geben kann, um etwas als Gedankenexperiment zu klassifizieren. Nach allem, was sie von Gedankenexperimenten weiß, handelt es sich dabei nämlich um einen künstlichen Begriff, den Menschen sich ausgedacht haben.[1] Er bezeichnet keine konkreten Dinge, sondern lediglich einen bestimmten Typus von Text, der eine bestimmte Funktion in einer wissenschaftlichen Argumentation einnimmt.

Diese Funktion besteht sehr häufig darin, Theorien zu untermauern, zu widerlegen, zu veranschaulichen oder weiterzudenken, wobei sie auch schon gelesen hat, dass manche Gedankenexperimente moralische Intuitionen abfragen wollen. Es gibt sogar die Theorie, dass ein Gedankenexperiment eigentlich gar nichts anderes als ein gewöhnliches Argument ist, das nur besonders kreativ formuliert worden ist. Deshalb fragt sie sich, ob es ein Gedankenexperiment geben kann, dass diese Theorie untermauert, widerlegt, veranschaulicht oder weiterdenkt, und ob auch dieses Gedankenexperiment auf ein Argument für die Theorie, das ein Gedankenexperiment nichts anderes ist als ein Argument, reduziert werden kann. Jedoch hegt Mary eine fürchterliche Abneigung gegen die in der Philosophie um sich greifende Gewohnheit, alles auf der Metaebene zu diskutieren. Marys Ziel in der Philosophie ist es, komplizierte Dinge zu simplifizieren, nicht simple Dinge zu verkomplizieren.

Daher wird Mary in ihrem Artikel auch die Frage aufwerfen müssen, ob ein Gedankenexperiment nicht einfach nur ein Beispiel ist, dessen Funktion ja ebenfalls häufig darin besteht, Theorien zu untermauern, zu widerlegen, zu veranschaulichen oder weiterzudenken. Sie kennt sogar einige Beispiele für sehr kreative und ausführliche Beispiele in der Philosophiegeschichte. Dennoch ist diese Frage offensichtlich zu verneinen. Wenn Gedankenexperimente dasselbe wären wie Beispiele, könnte Mary nämlich gar keine Beispiele kennen, da in ihrer Bibliothek dann auch alle Beispiele aus Büchern und Aufsätzen ausradiert sein müssten. Dies scheint ein gültiger Schluss zu sein. Mary müsste jedoch dagegen einwenden, dass sie gar nicht wissen kann, ob die Bibliothek tatsächlich alle Gedankenexperimente ausradiert hat, wenn unklar ist, wie sich ein Gedankenexperiment überhaupt definiert. Möglicherweise hätte sie dann sogar schon einmal ein Gedankenexperiment gelesen, ohne es als solches wahrgenommen zu haben. Jedoch steht auf dem Schild im großen Lesesaal eindeutig, dass diese Bibliothek kein einziges Gedankenexperiment enthält und diese Behauptung lässt sich nur mittels eines Gegenbeispiels widerlegen. Ein Gegenbeispiel anzuführen ist wiederum unmöglich, wenn Mary ein Gedankenexperiment nicht als Gedankenexperiment wahrnehmen kann, weil sie nicht weiß, wie ein Gedankenexperiment definiert ist.

Mary führt dies alles aber zu der folgenden Überlegung.[2] Wenn ihre Bibliothek nämlich nicht nur einen sehr beachtlichen, sondern gar einen unendlichen Bücherbestand aufweisen würde, der alle denkbaren Kombinationen aller Buchstaben des Alphabets in jeder beliebigen Länge beinhaltet, gleichzeitig aber alle Gedankenexperimente (und nur diese) aus diesem Bücherbestand ausradiert wären, dann wäre jede Buchstabenkombination, die nicht in ihrer Bibliothek enthalten wäre, ein Gedankenexperiment. Der Begriff des Gedankenexperiments würde sich also genau durch das definieren, was ein Gedankenexperiment nicht ist. Um ein Gedankenexperiment zu lesen, müsste sie gar nicht die Bibliothek verlassen (was sie sowieso nicht kann). Sie müsste nur alle Bücher dieser unendlichen Bibliothek lesen und darauf achten, welche Buchstabenkombinationen darin fehlen, da eine Liste der nicht in der Bibliothek vorhandenen Buchstabenkombinationen nichts anderes wäre als eine lückenlose Gesamtausgabe aller denkbaren Gedankenexperimente der Menschheit. Ihre Überlegung einer solchen unendlichen Bibliothek erscheint ihr daher zunächst paradox, doch dauert es nicht lange, bis sie dahinter eine interessante Dialektik erkennt: Ein Ausradieren aller Gedankenexperimente kann nämlich gar nicht möglich sein, da etwas auszuradieren dasselbe ist wie etwas besonders hervorzuheben. Eine Bibliothek ohne Gedankenexperimente ist daher dasselbe wie eine Bibliothek, die nur Gedankenexperimente enthält — und Mary ist versucht zu glauben, dass etwas, das nur Gedankenexperimente enthält, selbst ein Gedankenexperiment sein muss.

Von der Erkenntnis dieser Dialektik inspiriert und motiviert, zieht Mary sich schließlich in ihren Lehnstuhl zurück, wo sie darüber nachdenkt, sich ein eigenes Gedankenexperiment auszudenken und dieses niederzuschreiben. Sie kommt allerdings zu dem Schluss, dass dies nicht möglich ist. Wenn in ihrer Bibliothek nämlich alle Gedankenexperimente aus allen Büchern und Aufsätzen ausradiert sind, kann sie schließlich keinen Aufsatz schreiben, der ein Gedankenexperiment enthält, da dieser Aufsatz dann ebenfalls ausradiert sein müsste. Sie beschließt daher, in ihrem Aufsatz auf ein Gedankenexperiment zu verzichten und stattdessen von etwas zu schreiben, das mit unmittelbarer Evidenz kein Gedankenexperiment ist. Mary, die, abgesehen von den selbstverständlich ausradierten Täuschergott-Passagen, den gesamten Descartes gelesen hat, denkt hier natürlich sofort an “Cogito ergo sum”. Wenn für sie nämlich etwas eindeutig kein Gedankenexperiment ist, dann ist dies ihre eigene Existenz. Diese Existenz besteht darin, als eine auf die Erkenntniskraft von Gedankenexperimenten spezialisierte Philosophin ihr gesamtes Leben lang in einer Bibliothek eingeschlossen zu sein, in der es keine Gedankenexperimente gibt.

Da sie bereits zur Einsicht gekommen ist, dass der Begriff des Gedankenexperiments all das bezeichnet, was er nicht bezeichnet, beginnt sie die Geschichte ihrer Existenz mit dem Satz “Dieser Artikel ist ein Gedankenexperiment”. Diesen Artikel publiziert sie schließlich unter dem Pseudonym Sebastian Rosengrün[3] auf www.praefaktisch.de. Ihr Text wird dort in die Rubrik “Gedankenexperimente” einsortiert. Die Frage, die sie mit ihrer Existenz aufwirft, lautet nämlich: Was wird passieren, wenn Mary plötzlich einen ungefilterten Internetzugang bekommt und ihren eigenen Artikel liest — wird sie etwas lernen oder nicht?


Literatur:

Borges, Jorge Luis. Die Totale Bibliothek”. In: Eine neue Widerlegung der Zeit und 66 andere Essays. Eichborn, Frankfurt am Main 2003, S. 165–169.

Descartes, René. Meditationen. Felix Meiner, Hamburg 2009.

Jackson, Frank. “Epiphenomenal Qualia”. In: Philosophical Quarterly 32, 1982, S. 127–136.

Wittgenstein, Ludwig. Philosophische Untersuchungen. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2003.

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Dr. Sebastian Rosengrün ist Senior Lecturer für digitale Technikphilosophie an der CODE University of Applied Sciences in Berlin. Weitere Informationen: www.rosengruen.eu


[1] Mary weiß natürlich, dass Wittgenstein solche Begriffe gerne mitsamt einem Käfer in eine Schachtel steckt. Da Paragraf 293 in ihrer Ausgabe der Philosophischen Untersuchungen ausradiert ist, kann sie mit dieser merkwürdigen Redeweise jedoch nichts anfangen.

[2] Mary glaubt natürlich, dass diese Überlegung gänzlich von ihr stammt, da ihre Gesamtausgabe von Jorge Luis Borges fast ausschließlich leere Seiten enthält.

[3] Als dieser bedankt sie sich in einer Fußnote bei Julia Langkau für Diskussion und Anmerkungen.