Die Attraktivität des Kontraktualismus
Von Tim Reiß (Berlin)
Es ist heute vielleicht mehr denn je aktuell, den Individualismus der Vertragstheorie gegen den utilitaristischen Kollektivismus zu verteidigen: Zur systematischen und gegenwärtigen Relevanz der Theorie der Gerechtigkeit.
John Rawls feierte dieses Jahr seinen hundertsten Geburtstag. Vor fünfzig Jahren erschien seine epochale Theorie der Gerechtigkeit. Dieses Werk hat nicht nur die politische Philosophie in den nachfolgenden Jahrzehnten so nachhaltig geprägt wie kein zweites. Auch sind Begriffe wie ‚Urzustand‘, ‚Schleier des Nichtwissens‘ und ‚Überlegungsgleichgewicht‘ weit über die akademische Philosophie hinaus prominent geworden. Es ist nun allerdings gegenwärtig die Tendenz zu beobachten, die Theorie der Gerechtigkeit nurmehr historisch zu lesen, als philosophischen Ausdruck einer Zeitstimmung aus einer untergegangenen Welt, nämlich derjenigen des kapitalistischen Wohlfahrtsstaates. Diese Interpretation geht aber nicht nur daran vorbei, dass Rawls sein Werk durchgehend als Kritik gerade dieses Gesellschaftsmodells verstanden hat. Vor allem unterschätzt diese Lesart, so die im folgenden vertretene These, die Bedeutung und unverminderte Aktualität des philosophischen Kerns des Hauptwerks. Dessen kontraktualistische Grundanlage zu verteidigen ist nicht nur immer noch, sondern vielleicht gerade gegenwärtig von größter Relevanz. Um diese Relevanz herauszuarbeiten, möchte ich es im folgenden unternehmen, das Verhältnis zwischen Kontraktualismus und Urzustandsfiktion genauer anzuschauen. Die Urzustandsfiktion ist nämlich nicht nur in der Rezeptionsgeschichte einer ganzen Reihe gravierender Missverständnisse ausgesetzt gewesen. Rawls hat, aus Gründen, die im folgenden deutlich werden sollen, dieses Gedankenexperiment in seinen nachfolgenden Schriften auch in entscheidender Weise abgewandelt. Auch wenn die Urzustandsfiktion letztlich nicht überzeugen sollte: Die kontraktualistische Grundprämisse kann und sollte auch unabhängig von dem Urzustandsmodell verteidigt werden.
„Ist das, was ich tue, oder die Regel, an der sich mein Tun orientiert, geeignet, meine eigenen Interessen bestmöglich zu fördern?“ – „Ist das, was ich tue, oder die Regel, an der sich mein Tun orientiert, gerecht?“ – Die meisten Menschen würden sagen, dass es sich hier um zwei ganz unterschiedliche Fragen handelt. Diejenige Handlung oder Regel, die meine eigenen Interessen bestmöglich fördert, muss nicht unbedingt gerecht sein – und umgekehrt. Nun gibt es eine Traditionslinie in der Geschichte des philosophischen Nachdenkens über Gerechtigkeit, die genau das, was zunächst ganz kontraintuitiv erscheint, behauptet – dass beide Fragen recht besehen dieselbe Antwort haben, dass also, was gerecht ist, auch das ist, was mir zum Vorteil ausschlägt. Allerdings folgen in der Regel zugleich Einschränkungen: Beide Fragen fielen zusammen, wenn man die erste Frage so versteht, dass sie danach fragt, was langfristig in meinem aufgeklärten, wohlverstandenen Eigeninteresse liegt, und zwar unter der Voraussetzung, dass ich zur Verfolgung meiner eigenen Ziele und Interessen auf soziale Kooperation angewiesen bin. Man merkt schon an diesen Einschränkungsklauseln: Es sind jede Menge Zusatzannahmen nötig und vielleicht auch einige begriffliche Verrenkungen, um das Zusammenfallen beider Fragen ansatzweise plausibilisieren zu können. Rawls gehört, entgegen einem durchaus begegnenden Missverständnis, nun allerdings gerade nicht zu der eben skizzierten philosophischen Richtung, die versucht, das Zusammenfallen von Gerechtigkeit und Eigeninteresse aufzuweisen – oder, etwas technischer ausgedrückt: die versucht, Normativität aus Zweckrationalität abzuleiten. Rawls hat nie geglaubt, dass sich die zweite Frage („Was ist gerecht?“) durch die erste Frage („Was dient bestmöglich meinen Interessen?“) beantworten ließe. Der Versuch, die Frage nach dem Gerechten auf die Frage danach zurückzuführen, wie sich eigene Interessen unter Bedingungen des Angewiesenseins auf soziale Kooperation bestmöglich durchsetzen lassen, ist aber nicht nur deshalb verlockend, weil dann das moralische Motivationsproblem gelöst wäre. Dieser Versuch ist auch deshalb so attraktiv, weil uns zur Beantwortung der ersten Frage – der Frage nach Vorteilsmaximierung unter Bedingungen sozialer Kooperation – ein methodisch ausgefeiltes und raffiniertes rationalitätstheoretisches Werkzeug zur Verfügung steht, das die Entscheidungs- und Spieltheorie im 20. Jahrhundert entwickelt hat. Rawls‘ geniale Grundidee ist es nun, das ausgefeilte Instrumentarium der Spiel- und Entscheidungstheorie in den Dienst einer Gerechtigkeitstheorie zu nehmen. Eine der Grundideen der Theorie der Gerechtigkeit ist der Versuch einer Zweckentfremdung der Zweckrationalität in normativitätstheoretischen Diensten.
Eine Interpretation, wonach die Theorie der Gerechtigkeit den Anspruch habe, Gerechtigkeitsprinzipien mit Hilfe entscheidungstheoretischer Argumente aus Gesichtspunkten des aufgeklärten Eigeninteresses abzuleiten, ist eigentlich auch bereits bei oberflächlicher Lektüre offenkundig fehlgeleitet. Die Theorie der Gerechtigkeit ist keine Theorie des strategischen Kontraktualismus. Rawls geht es vielmehr um eine „arbeitsteilige Kooperation von Zweckrationalität und Normativität“ (Ingeborg Maus)[1]. Rawls benutzt ein entscheidungstheoretisches Gedankenexperiment als Werkzeug, um den Inhalt von Gerechtigkeitsprinzipien zu konkretisieren. Rawls schlägt nämlich vor: Wenn wir nach den Kriterien fragen, die es erlauben, die Gerechtigkeit der Grundstruktur unserer Gesellschaft zu beurteilen, dann können wir uns an denjenigen Kriterien orientieren, auf die sich strategische Kontraktualist*innen einigen würden, wenn sie sich im sog. Urzustand befänden. Nochmals: Es ist eine ganz andere Frage, warum wir – die Bürger*innen, die über Gerechtigkeit nachdenken – uns überhaupt an Gesichtspunkten der Gerechtigkeit orientieren sollten. Warum sollten wir die Grundstruktur unserer Gesellschaft nicht einfach danach beurteilen, ob sie uns persönlich, hier und jetzt, zum größten Vorteil ausschlägt? Übrigens beschäftigt sich Rawls durchaus auch mit dieser anderen Frage. Der leider öfters übergangene, philosophisch jedoch so anspruchsvolle wie aufregende dritte Teil der Theorie der Gerechtigkeit, der zudem umfassend Ergebnisse der Moral- und Entwicklungspsychologie einarbeitet, beschäftigt sich genau mit diesem Problem und möchte eine Antwort auf die wohl unüberbietbar grundsätzliche Frage geben, „ob es für einen Menschen etwas Gutes ist, ein guter Mensch zu sein“.[2] Aber: Allein die Tatsache, dass der dritte Teil des Werks ausführlich mit dieser Frage beschäftigt ist, sollte bereits hinreichend deutlich zeigen, dass Rawls gerade nicht davon ausgeht, diese Frage durch das Urzustandsexperiment bereits beantwortet zu haben.
Das Urzustandsargument setzt eine normative Prämisse voraus, ist aber nicht zirkulär. Die bei Rawls stets vorausgesetzte normative Prämisse ist die Freiheit und Gleichheit aller Bürger*innen. Das Urzustandsargument soll nun folgende Frage beantworten helfen: Welches sind diejenigen grundlegenden gesellschaftlichen Ordnungsprinzipien, die diese Freiheit und Gleichheit am besten zum Ausdruck bringen? Rawls‘ Antwort besagt, dass dies genau diejenigen zwei (oder eigentlich drei) Prinzipien sind, die er unter dem Titel ‚Gerechtigkeit als Fairneß‘ zusammenfasst: Das erste Prinzip ist der Vorrang der Grundfreiheiten. Diese umfassen sowohl persönliche Freiheiten als auch die politischen Grundrechte einschließlich der Garantie des ‚fairen Werts‘ der politischen Rechte. Das zweite Prinzip besteht nochmals aus zwei Teilen: Das ist zum einen das Prinzip fairer Chancengleichheit und zum anderen das berühmte Differenzprinzip. Letzteres besagt, dass die gesellschaftliche Güterverteilung vom prima-facie-Maßstab der Gleichverteilung nur in genau dem Maße abweichen darf, in dem eine ungleiche Verteilung auch den am wenigsten Begünstigten gegenüber einer Gleichverteilung einen Vorteil bringt. Innerhalb dieser zwei bzw. drei Prinzipien besteht eine klare Hierarchie: Der erste ist dem zweiten Gerechtigkeitsgrundsatz ‚lexikalisch‘ vorgeordnet, das heißt, er besitzt einen absoluten, kategorischen Vorrang. Einzelne Grundfreiheiten dürfen ausschließlich mit dem Ziel eingeschränkt werden, andere Grundfreiheiten zu sichern oder zu stärken. Eine Optimierung der Güterverteilung nach dem Differenzprinzip ist dagegen niemals ein zulässiger Grund für die Einschränkung politischer oder persönlicher Freiheiten. – Rawls‘ Beweisziel ist es zu zeigen, dass diese, abkürzend als ‚Gerechtigkeit als Fairneß‘ bezeichneten Prinzipien anderen (etwa utilitaristischen) Ordnungsprinzipien im Hinblick darauf klar überlegen sind, den Respekt vor der gleichen Freiheit aller Bürger*innen zum Ausdruck zu bringen.
Rawls geht nun davon aus, dass sich dieser Zusammenhang darlegen lässt, indem gezeigt wird, dass sich die Parteien im sogenannten Urzustand genau auf diese zwei bzw. drei Prinzipien von ‚Gerechtigkeit als Fairneß‘ einigen würden. Die Grundidee hinter dem Urzustandsgedankenspiel ist: Gerecht sind diejenigen Regeln, auf die sich strategische Kontraktualist*innen – also Personen, die zu sozialer Kooperation ein instrumentelles Verhältnis einnehmen – einigen würden, deren Verhandlungen jedoch unter bestimmten einschränkenden Bedingungen stehen. Diese einschränkenden Bedingungen sind (vor allem) die folgenden: Erstens ziele eine jede in den Verhandlungen darauf ab, die eigenen Interessen bestmöglich zu fördern (wenn wir an die in den Wirtschaftswissenschaften gebräuchliche Verwendung des Ausdrucks denken, können wir das die Rationalitätsbedingung nennen). Zweitens wisse niemand, welche gesellschaftliche Position ihr oder ihm nach Festsetzung der Regeln zukommen werde. Den Urzuständler*innen ist hinter dem ‚Schleier des Nichtwissens‘ beispielsweise verborgen, welchen Beruf und sozialen Status sie in der Gesellschaft einnehmen, ja sogar welche spezifischen Interessen sie ausbilden und welche Lebenspläne sie jeweils verfolgen werden. Um das Verhandlungsproblem nun entscheidungstheoretisch bearbeiten zu können, ist noch eine dritte Prämisse nötig, die Bedingung der Interessenhomogenität: Es gibt etwas, von dem die Parteien im Urzustand wissen, dass es für eine jede von ihnen besser ist, davon mehr als weniger zu haben. Rawls nennt diese frei konvertierbare Währung der Interessenbefriedigung ‚Grundgüter‘ (und dazu zählen, das ist entscheidend, nicht nur materielle Güter, sondern vor allem auch Grundrechte und -freiheiten und die „sozialen Grundlagen der Selbstachtung“). – Rawls möchte nun zeigen, dass sich unter diesen spezifischen Bedingungen die Wahl der Gerechtigkeitsprinzipien von ‚Gerechtigkeit als Fairneß‘ mit entscheidungstheoretischen Mitteln (vor allem der sog. Maximin-Regel) begründen lässt. Dabei darf nicht übersehen werden: Zwar soll die Übereinkunft der Vertragsparteien im Urzustand ausschließlich entscheidungstheoretisch begründet sein, die Modellierung der Urzustandssituation aber, die Wahl der spezifischen einschränkenden Bedingungen, ist natürlich nicht wiederum selbst entscheidungstheoretisch abgeleitet, sondern artikuliert bestimmte normative Hintergrundannahmen, die nicht selbst durch die Urzustandsfiktion ‚bewiesen‘ werden sollen. So wird beispielsweise der Grundsatz der Unparteilichkeit in der Form des Schleiers des Nichtwissens operationalisiert. Nochmals: Das heißt nicht, dass dadurch die Ableitung der Gerechtigkeitsgrundsätze zirkulär oder trivial würde. Rawls schließt aus einer weitgehend unkontroversen Prämisse („Freiheit und Gleichheit einer jeden Bürger*in“) mittels des Urzustandsexperiments auf gehaltvolle, teilweise auch hochgradig umstrittene Gerechtigkeits- und Verteilungsprinzipien (man denke insbesondere an das Differenzprinzip).[3]
Für die werkgeschichtliche Entwicklung nach der Theorie der Gerechtigkeit ist nun eine Kritik entscheidend, die der Rechtsphilosoph H.L.A. Hart vorgebracht hat.[4] Sieht es zunächst so aus, als sei hier nur ein spezifischer Teilaspekt der Theorie berührt, so zeigt sich im folgenden, dass ein substantieller Punkt getroffen ist, der Rawls zu einigen entscheidenden Umbauten seines Modells führt. Harts Kritik besagt – neben anderen Punkten –, dass sich das erste von Rawls vorgeschlagene Gerechtigkeitsprinzip (Vorrang der Grundfreiheiten) durch die Urzustandsfiktion gerade nicht begründen lässt. Es sei nämlich keinesfalls einleuchtend, dass rationale Egoisten es grundsätzlich ablehnen sollten, eine auch nur geringe Einschränkung von Grundfreiheiten für eine wesentliche Verbesserung der Güterversorgung und gesellschaftlichen Wohlfahrt in Kauf zu nehmen. Rawls gibt nun Hart darin recht, dass hier in seinem ursprünglichen Modell eine Begründungslücke existiert. Daraus zieht er aber keinesfalls die Konsequenz, den ersten Gerechtigkeitsgrundsatz oder seinen kategorischen Vorrang zurückzunehmen. Der Vorrang der Grundfreiheiten gehört nämlich zu den absolut grundlegenden und allgemein geteilten normativen Grundüberzeugungen der politischen Kultur und damit zu jenen „vorläufige[n] Fixpunkte[n], denen jede Gerechtigkeitsvorstellung entsprechen muß.“[5] Für Rawls weist die Begründungslücke vielmehr umgekehrt darauf hin, dass die Modellierung der Urzustandssituation bisher unzureichend ist. Deshalb ergänzt Rawls in seinen nachfolgenden Schriften, vor allem in den berühmten Dewey-Vorlesungen (1980), das Urzustandsexperiment um zusätzliche Prämissen, die sicherstellen sollen, dass der Vorrang der Grundfreiheiten als begründet ausgewiesen werden kann. Dies führt in der Folge zu weitreichenden argumentativen Umbauten. Die von Rawls eingeführten zusätzlichen Prämissen beziehen sich nämlich vor allem auf die Art der eigenen Interessen, die von den Verhandlungspartner*innen im Urzustand berücksichtigt werden müssen. Die Parteien im Urzustand – bzw.: die Bürger*innen, die durch die Parteien im Urzustand repräsentiert werden – haben nämlich, so Rawls, neben üblichen Interessen auch noch höherstufige, ‚höher‘- und ‚höchstrangige‘ Interessen‘. Was sind ‚höchstrangige Interessen‘? Man kann hinter diesem Begriff ein kantianisches Personenkonzept erkennen: Personen haben nicht nur dieses oder jenes besondere Interesse, sondern können sich zu ihren Interessen und Wünschen nochmals reflexiv verhalten – und sich beispielsweise die Frage stellen, welche Interessen und Wünsche auszubilden oder zu befriedigen gut ist. Personen können sich aus Gründen gegen die Befriedigung bestimmter Wünsche entscheiden. Und sie haben – so der zentrale Gedanke – das vorrangige Interesse, ihren Status als Person, die sich zu ihren konkreten Interessen evaluativ verhalten kann, und ihren Status als sittliches Subjekt zu erhalten. Rawls nennt, terminologisch etwas gewöhnungsbedürftig, nicht nur den Gerechtigkeitssinn, sondern auch das Vermögen zu einer Konzeption des Guten (welches das Vermögen umfasst, eigene Interessen kritisch zu beurteilen und zu revidieren) „moralische Vermögen“. Die beiden höchstrangigen Interessen, die Personen besitzen, sind nach Rawls deshalb die Interessen an Ausbildung und Erhalt dieser beiden moralischen Vermögen. Das verbesserte Argument für die Wahl des Vorrangs der Grundfreiheiten lautet dann so: Die Parteien wissen um die höchstrangigen Interessen an Ausbildung und Erhaltung ihrer moralischen Vermögen. Es lässt sich zeigen, dass der Vorrang der Grundfreiheiten die notwendigen sozialen Bedingungen zur Ausbildung und Erhaltung der beiden moralischen Vermögen sichert. Also werden sich die Parteien auf den Vorrang der Grundfreiheiten einigen.
Mit dieser Emphase der höchstrangigen Interessen bricht ein kantianischer Personenbegriff in das entscheidungstheoretische Setting ein. Was aber bedeutet es, dass die Parteien im Urzustand um diese höchstrangigen Interessen wissen? Hier liegt eine Wegscheide der Theorieentwicklung: Wenn die Parteien im Urzustand die höchstrangigen Interessen der Bürger*innen berücksichtigen müssen, wäre es dann nicht doch einfacher, die Bürger*innen selbst diskutierten unmittelbar darüber, welche gesellschaftlichen Ordnungsprinzipien der Ausbildung und dem Erhalt ihrer moralischen Vermögen und damit der Befriedigung ihrer höchstrangigen Interessen förderlich sind? Bricht damit nicht die ‚Arbeitsteilung‘ zwischen Zweckrationalität und Normativität, die das Urzustandsmodell anleitet, zusammen? Eine Antwort auf diesen Einwand[6] ist: Die Parteien im Urzustand wissen zwar, dass sie – bzw. die Bürger*innen, für die sie am Verhandlungstisch sitzen – über diese höchstrangigen Interessen verfügen, aber sie selbst haben zu diesen höchstrangigen Interessen ein bloß äußerliches, nämlich instrumentelles Verhältnis. Sie wissen, dass die Ausbildung höchstrangiger Interessen ein gutes Mittel ist, beliebige besondere Interessen zu fördern.[7] Es ließe sich dann so argumentieren: Die Parteien versuchen, ihre Interessen erster Ordnung (ihre je besondere Konzeption des Guten) bestmöglich zu fördern. Sie wissen, dass soziale Kooperation ein unverzichtbares Mittel zur Befriedigung der eigenen besonderen Interessen ist. Und sie wissen zudem, dass die eigene Moralität eine Bedingung dafür ist, von den anderen Personen als Teilnehmer*in an sozialer Kooperation akzeptiert zu werden. Also wissen sie, dass gerade die Befriedigung ihrer Interessen erster Ordnung davon abhängt, dass ihr höchstrangiges Interesse an Ausbildung und Erhalt der eigenen moralischen Vermögen erfüllt wird. Zu ihrer eigenen Moralität nehmen die Parteien im Urzustand ein rein instrumentelles Verhältnis ein.
Auch wenn sich über diesen argumentativen Umweg die ursprüngliche Anlage des Urzustandsmodells retten lässt, so wird an dieser Stelle doch deutlich, dass durch den Begriff höher- und höchstrangiger Interessen in das entscheidungstheoretische Modell ein diesem ganz fremder, nämlich reflexiver Interessenbegriff, und damit ein diesem Modell möglicherweise inkommensurabler Personenbegriff eingeführt wird. Und: Auch wenn man den Interessenbegriff maximal weit fasst, bleibt doch die kategoriale Differenz zwischen – so wird nennt es – ‚(bloß) rationaler‘ Autonomie der Parteien im Urzustand und ‚vollständiger‘ Autonomie der Bürger*innen. Eine Person handelt nämlich rational autonom, wenn sie sich an solchen Regeln orientiert, die in ihrem eigenen Interesse liegen. Selbst wenn man den Interessenbegriff so weit fasst, dass diese das Interesse an der Erhaltung der eigenen Moralität beinhalten können, so bleibt eine unüberbrückbare Kluft zwischen rationaler und vollständiger Autonomie: Denn vollständig autonom handelt nur, wer sich an solchen Regeln orientiert und nur solche Regeln akzeptiert, denen eine jede zustimmen kann. Das bedeutet: Die Verletzung der Autonomie auch nur einer einzigen Bürger*in beschädigt grundsätzlich die Autonomie aller. Die Urzustandsfiktion versucht – und hier liegt ihre innere Grenze – eine Einigung zwischen vollständig autonomen Bürger*innen mittels des Konstrukts einer Einigung zwischen ‚bloß-rationalen‘ Urzuständler*innen darzustellen.
Sollte dann die Urzustandsfiktion nicht besser ganz aufgegeben werden? Ich habe geschrieben, dass eines der Motive für den Umweg über die Urzustandsfiktion darin liegt, das reichhaltige Instrumentarium der Spiel- und Entscheidungstheorie in den Dienst der Gerechtigkeitstheorie nehmen zu können. Es lässt sich nun aber einsehen, inwiefern hier noch ein ganz anderes, substantielles moralphilosophisches Motiv im Hintergrund steht. Es ist Rawls‘ erklärtes Ziel, eine Gerechtigkeitstheorie auszuarbeiten, „die die bekannte Tradition des Gesellschaftsvertrags […] verallgemeinert und auf eine höhere Abstraktionsstufe hebt.“[8] Warum ist eine vertragstheoretische Fassung der Gerechtigkeitstheorie so attraktiv? Bei Verträgen kommt es auf die Zustimmung jeder einzelnen Vertragspartner*in an. Die Grundüberzeugung, die hinter jeder Vertragstheorie der Gerechtigkeit steht, ist der Gedanke, dass nur diejenigen Gerechtigkeitsprinzipien gültig sind, die allgemein zustimmungsfähig sind. Der Kontraktualismus benutzt das aus der Lebenspraxis bekannte Konzept des Vertrags zur Versinnbildlichung von Zustimmungsfähigkeit. Dabei ist entscheidend: Allgemeine Zustimmungsfähigkeit ist nicht einfach mit Unparteilichkeit gleichzusetzen. Denn jede Gerechtigkeitskonzeption beansprucht für sich Unparteilichkeit. Auch solche Gerechtigkeitskonzeptionen, die zu einer hochgradig ungleichen Verteilung führen, zeichnen eben dadurch, dass sie diese ungleiche Verteilung, aus welchen Gründen auch immer, als gerecht beurteilen, diese Verteilung als Ergebnis einer unparteilichen Beurteilung konkurrierender Ansprüche aus. Allgemeine Zustimmungsfähigkeit ist dagegen eine spezifische, und zwar, wenn man so will, individualistische Konkretisierung von Unparteilichkeit. Man kann sich das verdeutlichen, in dem man die vertragstheoretische und die utilitaristische Interpretation von Unparteilichkeit gegenüberstellt: Der utilitaristischen Interpretation zufolge heißt einen Konflikt unparteilich beurteilen zu fragen, was für alle gut ist. Der vertragstheoretischen Interpretation zufolge heißt einen Konflikt unparteilich beurteilen zu fragen, was für eine jede gut ist. Die sprachlich zunächst eher subtil erscheinende Differenz zwischen ‚für alle‘ und ‚für eine jede‘ ist hier tatsächlich die Differenz ums Ganze. Denn was für alle gut ist, muss nicht für eine jede gut sein. Die Formulierung ‚gut für alle‘ lässt nämlich die Möglichkeit einer Aggregation und interindividuellen Verrechnung von Vor- und Nachteilen zu. Das heißt, es kann sein, dass gravierende Nachteile, die wenige einzelne erleiden, durch geringe Vorteile, die aber vielen zugutekommen, überkompensiert und damit gerechtfertigt werden. Der utilitaristische Begriff von Unparteilichkeit ist seiner Struktur nach kollektivistisch. Der kontraktualistische Begriff von Unparteilichkeit achtet dagegen die Selbstzwecklichkeit jeder einzelnen. Die Bedingung, eine jede müsse zustimmen können, sperrt den unmittelbaren Rückgriff auf Argumente der Maximierung eines Kollektivnutzens.
Die kontraktualistische Bindung der Gültigkeit von Gerechtigkeitsprinzipien an individuelle Zustimmungsfähigkeit ist aus diesen Gründen hochattraktiv. Die entscheidende Herausforderung liegt nun in einem angemessenen, weder zu weiten noch zu engen Verständnis von Zustimmungsfähigkeit. Stellen wir uns, um das Problem zu verdeutlichen, eine Utilitarist*in vor, die wie folgt argumentiert: Zugegeben, eine Gerechtigkeitskonzeption muss unbedingt dem Kriterium allgemeiner Zustimmungsfähigkeit genügen. Allgemein zustimmungsfähig ist eine Gerechtigkeitskonzeption dann, wenn sie richtig/wahr/gut begründet ist. Die utilitaristische Gerechtigkeitskonzeption (Optimierung des Gesamtnutzens) ist richtig/wahr/gut begründet. Also genügt die utilitaristische Gerechtigkeitskonzeption dem Kriterium allgemeiner Zustimmungsfähigkeit. – Es ist offenkundig, dass eine Vertragstheorie der Gerechtigkeit nicht von einem solchen schwachen Begriff der Zustimmungsfähigkeit ausgehen kann, denn dieser schwache Begriff von Zustimmungsfähigkeit ist mit jeder denkbaren Gerechtigkeitskonzeption verträglich. Man beachte unbedingt die gegensätzlichen Erklärungsrichtungen: In der eben paraphrasierten Argumentation der Utilitarist*in wird, was es bedeutet, dass etwas allgemein zustimmungsfähig ist, damit erklärt, dass es gerecht ist. Die Vertragstheoretiker*in möchte umgekehrt, was es bedeutet, dass Regeln gerecht sind, dadurch erklären, dass diese allgemein zustimmungsfähig sind. Ein Wissen um das, was gerecht ist, darf also, bei Strafe der Zirkularität, in der Erläuterung von Zustimmungsfähigkeit nicht bereits in Anspruch genommen werden. Wir sehen jetzt deutlicher, worin die Funktion des Urzustandsmodells eigentlich besteht: Es erläutert das Kriterium der Zustimmungsfähigkeit durch die Fiktion einer Verhandlung, in der für die Verhandlungspartner*innen der unmittelbare Rückgriff auf Gerechtigkeitsargumente gesperrt ist (dies folgt aus der Rationalitätsbedingung, wonach die Parteien allein ihren eigenen Vorteil maximieren möchten). Die Bedingung, dass die Parteien sich auf die Verfolgung eigener Interessen beschränken müssen, funktioniert als ein Argumentationsfilter, der verhindert, dass die kontraktualistische Fassung der Gerechtigkeitsprinzipien zirkulär wird. Er verhindert zudem auch, dass utilitaristische Argumente der Gesamtnutzenoptimierung als solche irgendeine rechtfertigende Kraft haben. Dass etwas den Gesamtnutzen optimiert, ist dann und nur dann ein legitimes Argument, wenn gezeigt werden kann, dass im konkreten Fall die Optimierung des Gesamtnutzens im Interesse einer jeden ist bzw. ihr aus der Perspektive einer jeden zugestimmt werden kann.
Wir haben nun allerdings gesehen, dass der Ausdruck ‚eigener Vorteil‘ bzw. ‚eigenes Interesse‘ selbst wiederum im höchsten Maß erläuterungsbedürftig ist. Die Urzustandsfiktion muss, wenn ihr Beweisziel erreicht werden soll, mit einem Interessenbegriff arbeiten, der nicht auf solche Interessen reduzierbar ist, die das eigene Wohlergehen betreffen. Ein Argumentationsfilter, der nur selbstbezogene Interessen durchlässt, ist viel zu eng. Es hat sich gezeigt, dass die Urzustandsfiktion sogar mit einem Begriff reflexiver, höher- und höchstrangiger Interessen arbeiten muss. Ist der Filter auf der anderen Seite aber zu grob und zählten bereits Gerechtigkeitsargumente als solche im Urzustand, so könnte die Urzustandsfiktion ihre Aufgabe einer nicht-zirkulären Erläuterung von Zustimmungsfähigkeit nicht mehr erfüllen. Die Aufgabe, die sich nach und mit Rawls stellt, liegt deshalb darin, das kontraktualistische Grundmodell aus dem spiel- und entscheidungstheoretischen Korsett und dessen verengtem Personen- und Interessenbegriff weiter zu emanzipieren, ohne den Vorteil der Nicht-Zirkularität zu verspielen. Wir brauchen einen Ersatz für die Funktion der Urzustandsfiktion als zirkularitätsblockierender Argumentationsfilter, der aber weniger grob ist als das Originalmodell. Es geht darum, einen Begriff individueller Zustimmungsfähigkeit zu entwickeln, der nicht beliebig wird, aber das Spektrum möglicher individueller Zustimmungsgründe auch nicht zu sehr einengt.[9]
Eine Vertragstheorie der Gerechtigkeit, die den unmittelbaren Rückgriff auf utilitaristische Begründungen sperrt, ist heute, im Angesicht der zunehmenden Verbreitung utilitaristischer Argumentationsformen in ganz unterschiedlichen Lebensbereichen, von unveränderter, vielleicht sogar gestiegener Relevanz. Ein Beispiel unter vielen anderen dafür, dass es diese Diskussion keine akademische Spielerei ist, sondern höchste praktische Relevanz hat, ist nicht nur die Diskussion um Prinzipien der Allokation knapper Ressourcen in der Medizin im allgemeinen, sondern auch im speziellen die gegenwärtige Diskussion um eine ‚Corona-Triage‘.[10] Wenn wir den Individualismus der Vertragstheorie gegen den utilitaristischen Kollektivismus verteidigen wollen, müssen wir philosophisch weiter daran arbeiten, eine Erläuterung von individueller Zustimmungsfähigkeit zu entwickeln, die auf der einen Seite den Begriff des Gerechten noch nicht voraussetzt, auf der anderen Seite Zustimmungsfähigkeit aber auch nicht auf dasjenige reduziert, was im selbstbezogenen Interesse kluger Egoisten liegt.
Tim Reiß ist Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin und dort wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für christliche Ethik und Politik (ICEP). In seiner Buchveröffentlichung „Diskurstheorie der Demokratie und Religion“ (2019) beschäftigt er sich u.a. mit dem Verhältnis von Religion und Öffentlichkeit beim späten Rawls.
[1] Maus, Ingeborg (2013): Der Urzustand, in: Ottfried Höffe (Hg.): John Rawls. Theorie der Gerechtigkeit. 3., bearb. Aufl., 71-95, hier 82.
[2] Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit (1971). Frankfurt a. M., 1979 (1975), 435.
[3] Das Argument mit dem Urzustand hat dann grob folgende Struktur: (1) Alle Bürger*innen sind frei und gleich. (2) Die Freiheit und Gleichheit aller Bürger*innen wird am besten von solchen Regeln zum Ausdruck gebracht, auf die sich Bürger*innen in einer Situation einigen würden, in der sie ausschließlich als gleiche und freie repräsentiert werden. (3) Im Urzustand werden die Bürger*innen ausschließlich als gleiche und freie repräsentiert. (4) Also (aus [2] und [3]): Die Freiheit und Gleichheit aller Bürger*innen wird am besten von denjenigen Regeln zum Ausdruck gebracht, auf die sich die Bürger*innen unter Bedingungen des Urzustands einigen würden. – Es sollte deutlich sein, dass sich die Prämissen (2) und (3) unabhängig voneinander vertreten lassen. In der Rawls-Kritik wird leider häufiger nicht hinreichend unterschieden, welche der beiden Prämissen angegriffen wird.
[4] Hart, H. L. A.: Rawls on Liberty and Its Priority, in: The University of Chicago Law Review 40 (1973), 534-555 (dt. in: Ottfried Höffe (Hg.): John Rawls. Eine Theorie der Gerechtigkeit. 3., bearb. Aufl. Berlin 2013, 107-134).
[5] Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit (1971). Frankfurt a. M., 1979 (1975), 37.
[6] Vgl. für diesen Einwand Habermas, Jürgen: Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch (1999/1996), in: ders., Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt a. M., 65-94, hier 70.
[7] Vgl. Cohen, Joshua (2015): Original Position and Scanlon’s Contractualism, in: Timothy Hinton (Hg.): The original position. Cambridge, 179-200, hier 190-194; Maus, Ingeborg (2013): Der Urzustand, in: Ottfried Höffe (Hg.): John Rawls. Theorie der Gerechtigkeit. 3., bearb. Aufl., 71-95, hier 74-76; Freeman, Samuel (2007): Rawls. London u. New York, 151, 167f., 297-299, 303, 343; Pogge, Thomas W. (1994): John Rawls. München, 66.
[8] Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit (1971). Frankfurt a. M., 1979 (1975), 27f.
[9] Einige Schüler von Rawls haben sich dieser Aufgabe angenommen, vgl. vor allem Scanlon, T. M. (1998): What We Owe to Each Other. Cambridge, Mass. und London; dazu Cohen, Joshua (2015): Original Position and Scanlon’s Contractualism, in: Timothy Hinton (Hg.): The original position. Cambridge, 179-200.
[10] Vgl. dazu Tim Reiß (2020), „Erfolgsaussicht, Maximierungsimperativ, Utilitarismus. Anmerkungen zur Debatte um eine ‚Corona-Triage‘“, in: EthikJournal 6 (2020), frei verfügbar unter https://www.ethikjournal.de/fileadmin/user_upload/ethikjournal/Texte_Ausgabe_10_2020/Final_Reiss_Corona_Triage.pdf