Das Recht der Völker

Von Christine Straehle (Hamburg)


Zu Ende der 90er Jahre hatte John Rawls seine Überlegungen zur globalen Gerechtigkeitsdiskussion unter dem Titel Law of Peoples veröffentlicht (dt. Das Recht der Völker). Es sollte als seine Antwort auf all diejenigen gelten, die seine Theorie der Gerechtigkeit auf die internationale Sphäre anwenden wollten. Solchen Versuchen erteilte Rawls eine deutliche Absage. Stattdessen unterstrich er in diesem Band eindeutig wieder die Kantianischen Wurzeln seiner politischen Philosophie, indem Rawls die Rolle des Staates als Garanten des Rechts und der individuellen Freiheit hervorhob. Allerdings stach hervor, dass er eben nicht Staaten als Einheit des internationalen Rechts betrachtete, sondern Völker. Inwieweit diese Abgrenzung allerdings erfolgreich war, ist immer noch umstritten.

Eine erste Absage erteilte Rawls der Idee der internationalen Verteilungsgerechtigkeit. Ursprünglich wurden Vorschläge zur Erweiterung seiner Theorie in diese Richtung von verschiedener Seite formuliert, unter anderem von dem Oxforder Philosophen Simon Caney. Dagegen bestand Rawls darauf, dass jeder Entwuf der Verteilungsgerechtigkeit einen Endpunkt haben müssen, einen Zustand also, an dem man davon ausgehen könne, dass die Prinzipien der gerechten Welt umgesetzt seien. Und das, so Rawls, sei aus globaler Sicht schlicht nicht vorstellbar. Auch bemerkte er, dass es der internationalen Sphäre an den notwendigen Institutionen fehle, die die Prinzipien der Gerechtigkeit umsetzten könnten.

Ebenso eine Absage erhielten diejenigen Philosophen, die Rawls’ Verfahrensethik auf Fragen der Migrationsethik angewandt hatten. Vorreiter in dieser Richtung war Joe Carens, der schon zu Beginn der 80er Jahre vorgeschlagen hatte, das Gedankenexperiment der oirginal position behind the veil of ignorance, also die Konstellation der Theorie der Gerechtigkeit, in der die Beteiligten am Verfahren zur Bestimmung der Grundsätze der Gerechtigkeit diese bestimmen, auf die internationale Bestimmung von gerechten Migrationsprinzipien anzuwenden. Wenn wir nicht wüssten, in welche Staatsbürgerschaft wir hineingeboren werden, so Carens, dann würden sich wahrscheinlich die meisten für eine Maximierung der internationalen Bewegungsfreiheit aussprechen. Dagegen argumentierte Rawls, dass Migration nicht dazu dienen könne, die ungleichen wirtschaftlichen Bedingungen zwischen Staaten auszugleichen. Stattdessen komme es dem Einzelnen zu, zur Verbesserung des Staatswesens beizutragen.

Auch hier sehen wir den Kantianischen Gedanken, dass Einzelne nicht nur Bürgerrechte, sondern auch Bürgerpflichten haben. Kant hatte mit seinem Traktat „Zum Ewigen Frieden“ die Grundlage für eine Form der Völkergemeinschaft gelegt, in der einzelne Staaten einen Staatenvertrag schließen sollten. Nur im Kontext eines solchen Zusammenschlusses konnte nach Kant die Möglichkeit stabiler Verhältnisse geschaffen werden, die internationale Arena zu befrieden. Ähnlich schlägt Rawls vor, eine Gesellschaft der Völker zu gründen. Aber warum nun Völker und nicht Staaten? Die Unterscheidung ist oft kritisiert worden, denn in der tatsächlichen Instrumentalisierung bricht sie häufig zusammen. Allerdings nennt Rawls einige wichtige Gründe für seine Konzeptualisierung des internationalen Rechts als des Rechts der Völker. Seiner Ansicht nach haben zum Ersten Mitglieder liberaler Völker im Gegensatz zu Staaten ein moralisches Empfinden. Zum Zweiten folgt Rawls John Stuart Mill, wenn er annimmt, dass die einzelnen Mitglieder von Völkern einander durch gemeinsame ‚Sympathien’ verbunden sind. Und schließlich postuliert Rawls, dass sowohl liberale als auch ‚achtbare’ Völker grundsätzlich in einer vernünftigen konstitutionellen Demokratie organisiert sind, in der die Interessen der Mitglieder vertreten sind. Als ‚achtbar’ werden dabei diejenigen Völker beschrieben, die Menschenrechte achten, wenn sie auch nicht liberal sind. Von der rechtsgebenden Gemeinschaft der Völker ausgeschlossen bleiben demnach sogenannte ‚Schurkenstaaten’ (rogue states), die sich nicht auf die Verteidigung der Menschenrechte einlassen. Rawls betrachtet also die Beachtung und Verteidigung der Menschenrechte als notwendige Bedingung zur Kooperation. Anders formuliert gelten die Menschrechte als kleinster gemeinsamer Nenner unter den Völkern. Mit dieser Festsetzung stellt sich Rawls deutlich gegen kulturelle Relativisten, die in einem solchen Postulat Anzeichen potentiellen kulturellen Imperialismus zu sehen vermeinen. In Anbetracht der massenhaften Proteste z.B. derzeit in Myanmar, in einem Land also, dessen Machthaber sich auf vermeintliche ‚Asiatische Werte’ berufen, um die Unterdrückung der legitimen Ansprüche der Bevölkerung zu rechtfertigen, ist Rawls’ Position überzeugend. Menschenrechte sind nicht kulturell abhängig, und diejenigen, die eine solche Argumentation hervorbringen, unterstützen implizit Regime, die weit davon entfernt sind, sich um das Wohl ihrer Mitglieder zu kümmern.

Es sind also die Mitglieder der Völker, die sich zur Zusammenarbeit im Vertrag der Gesellschaft der Völker verständigen, und nicht Staaten. Letztere seien durch ihre spezifischen Staatsinteressen, wie z.B. die Verteidigung der Souveränität, nicht geeignet, als Grundelement des internationalen Vertrags zu gelten. Diese Trennung ist allerdings oft verwirrend, denn schließlich ist die Funktion des Staates dennoch wiederum ausschlaggebend, wenn es darum geht, die einzelnen Völker zu beurteilen, wie das Kriterium der Verteidigung der Menschenrechte hervorhebt.

Auch methodologisch wurde Rawls’ Vorschlag zur internationalen Gerechtigkeit, den er als eine realistische Utopie bezeichnet, oft kritisiert. Mit der Verteidigung seiner Arbeit als realistische Utopie bezog Rawls Stellung in einer weitverbreitenden Debatte in der politischen Philosophie, die sich an der Trennungslinie des Anspruchs philosophischer Vorschläge ausmachen lässt. Bereits Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit wurde auf ihren methodologischen Anspruch hin untersucht, ob es sich also bei dem Vorschlag um ideale oder nicht-ideale Theorie handele. Die Frage nach der Idealisierung war insofern relevant, also davon abzuhängen schien, in wieweit die vorgeschlagene Theorie Anwendungsansprüche geltend machen wollte und konnte. Rawls hatte bezüglich des ersten Buches immer betont, worum es bei seiner Methode der Verfahrensethik und der Idee, sich eine gesellschaftliche Konstellation vorzustellen, gehe – nämlich darum, mithilfe eines Gedankenexperiments allgemein gültige Prinzipien der Gerechtigkeit zu entwickeln. Natürlich sind wir nicht in der originalen oder Urzustandssituation, aber wir können uns vorstellen, dass wir es wären, und aufgrund der Vorstellung, welche Interessen allen Mitgliedern der Gemeinschaft eigen sind, Prinzipien der Gerechtigkeit bestimmen. Das Recht der Völker wurde von Rawls programmatisch als eine realistische Utopie bezeichnet um genau diesen Anspruch anzumelden, dass nämlich die darin entwickelten Prinzipien Anwendung finden könnten. Nach Rawls ist politische Philosophie dann realistisch utopisch, wenn sie das bisher politisch Erreichte und Vorstellbare erweitert. Rawls’ Methode ist also empirisch fundiert, aber normativ ausgerichtet. Damit begründen sich auch die verschiedenen Kategorisierungen der verschiedenen Völker – nur wenn politische Philosophie bei der Beschreibung der Vielfalt der Völker realistisch ist, kann sie tatsächlich darauf hoffen, aufgenommen und weitergedacht zu werden.

Genau das haben in Folge der Veröffentlichung von Recht der Völker zahlreiche Philosoph*innen getan – die Anzahl der Aufsätze und Sammelbände zu Rawls’ Werk sprechen für sich. Und auch wenn das Urteil gegenüber diesem Ergebnis von Rawls’ Überlegungen oftmals kritischer ausfiel als die Bewertung seiner Arbeiten zum Politischen Liberalismus und der Theorie der Gerechtigkeit, so lässt sich die Wirkung dieses Beitrags zur internationalen Gerechtigkeitsdebatte nicht hoch genug einschätzen.  


Christine Straehle ist Professorin für Praktische Philosophie  an der Universität Hamburg und Herausgeberin der Zeitschrift Global Justice: Theory, Practice, Rhetoric.