Zwischen Tugend- und Sozialethik: Armut in der Patristik und im Frühmittelalter

Dieser Blogbeitrag bezieht sich auf einen ausführlichen Beitrag im neuen Handbuch Philosophie und Armut, welches im April 2021 bei J.B. Metzler erschienen ist.


Von Peter Schallenberg (Mönchengladbach)


Alles Nachdenken einer christlich inspirierten Philosophie zur Armut beginnt mit dem programmatischen Satz Jesu: „Denn wo euer Schatz ist, da ist euer Herz!“ (Mt 6, 21) Es geht nicht um Reichtum und Armut an sich, es geht in gut platonischer und altkirchlicher Tradition um das Ziel des Denkens und Handelns, letztlich des menschlichen Lebens: Wozu ist der Mensch auf Erden?

Illustriert wird das durch die Erzählung vom reichen Jüngling, der auf der Suche nach dem letzten Ziel des Lebens auf Jesus und den Gedanken der Nachfolge (vgl. Egger 1979) stößt: „Da ging er traurig weg, denn er hatte ein großes Vermögen.“ (Mk 10, 22) Schon hier beginnt das Missverständnis, geht doch der junge Mann vorschnell von dannen, bevor er den Rest der Worte Jesu hört: „Du wirst einen Schatz im Himmel haben!“ Es geht nämlich nicht einfach um Verlust oder Gewinn, sondern um endgültig bleibenden Gewinn.

Die frühe Kirche und die Patristik greifen die jesuanische Stoßrichtung vielfältig auf. Clemens von Alexandria (150-215) fordert in seiner kleinen Schrift „Quis dives salvetur?“ (mit nachhaltiger Wirkung auf die christliche Tradition bis zum Vorabend der modernen katholischen Soziallehre ab der Enzyklika „Rerum novarum“ von Papst Leo XIII.) die Reichen auf, die Armen zu unterstützen, ohne aber grundsätzlich soziale Strukturen in Frage zu stellen und damit an den Grundlagen unfreiwilliger erlittener Armut zu rütteln und daher die Perikope vom reichen Jüngling spiritualisierend. Das Eigentum ist zwar sozialpflichtig, das Geld und der Besitz aber werden rein äußerlich betrachtet. (vgl. Lindemann 2006, 89-109) Einschlägig sind Überlegungen zu Habgier und Geiz als Wurzelsünden des Reichen. Hingegen versucht sowohl das anachoretische Mönchtum radikal, wie auch das koinobitische Mönchtum in milderer Form die Armut gemäß der Weisung Jesu (Mt 19, 21) konkret zu leben, ohne freilich dadurch zu einer systematischen Ethik der Armut zu gelangen. Das Mönchtum wird zur Kontrastgesellschaft, nicht aber zum Keim der neuen verwandelten Welt. Diese Sicht gelingt erst Augustinus (354-430), dem großen Schüler des Ambrosius (339-397), welcher selbst noch stehen bleibt bei der Ermahnung der Reichen zum Almosen, freilich mit wirkmächtigen Bildern: „Wer den Armen gibt, der leiht Gott auf Zins!“ (vgl. Ambrosius 2019, 64).

Vor dem Auftreten des Christentums verband sich mit den heidnischen Religionen im eigentlichen Sinn keine umfassende systematisch entfaltete Ethik der Gerechtigkeit oder gar der Barmherzigkeit, auch wenn es starke Ansätze individueller Tugendethik gibt, etwa in der Stoa. Auch das Christentum entwickelte zunächst in der Frühzeit keine soziale oder politische Ethik im modernen Sinn. Gemäß der Benedictus-Regel (auf der Grundlage der Regel des Johannes Cassian im 5./6. Jh.) sollte im Armen an der Klosterpforte Christus gesehen und ihm geholfen werden; systematische Ursachenforschung wurde nicht betrieben. Im Zentrum des Interesses stand stets die persönliche und höchst individuelle Bekehrung, aber die Brücke zur systematischen Ethik war doch vorgezeichnet und wurde bald zaghaft beschritten. „Die politischen Institutionen waren an sich kein Gegenstand christlicher Reflexion.

Papst Gelasius I. (492-496) entfaltet die augustinische Zwei-Reiche-Lehre zur Zwei-Gewalten-Lehre, und dies ist dann in der Tat neu gegenüber dem politischen Denken der heidnischen Antike, aber konsequent in der Weiterentwicklung der politischen Eschatologie des Alten Testamentes. Es kommt zur Differenzierung von sakramentalem forum internum und politischem forum externum, die voneinander unterschieden bleiben. Daher sind auch Staat und Kirche, Politik und Religion unterschieden und dennoch aufeinander bezogen, und zwar in der augustinischen Rangfolge des Innen vor dem Außen: Erst eine innere Bekehrung vermag die äußeren Umstände zu verwandeln, aber zugleich stützen und ermöglichen äußere gerechte Zustände eine innere Bekehrung des Menschen zum Guten, der ohne äußere Gerechtigkeit einer inneren Lieblosigkeit zum Opfer fiele. Auf diesem Hintergrund entwickelt sich das Christentum in den zwei Gleisen von Dogma und Ethik, von Orthodoxie und Orthopraxie, und die Ethik nochmals in den zwei Ausfaltungen von Tugendethik und Sozialethik.

Am Ende des frühen Mittelalters, nach der einflußreichen Bewegung der Waldenser ab 1176 und mit dem Tod des hl. Franziskus 1226 beginnt die Institutionenethik mit dem Ziel der Überwindung unfreiwilliger Not und Armut. Das Ende der Welt steht nicht mehr wie bei der weltflüchtigen monastischen Ethik vor Augen, sondern die Vollendung der Welt durch menschliches Handeln. So entstehen die ersten „montes pietatis“ als genossenschaftliche Sparkassen und Pfandhäuser, die das Kapital der Reichen den Armen zugute kommen lassen. Die Verbindung von Gott und Mensch, von Gnade und Natur muß sich fortsetzen in einer aktiven Ethik des Alltags zugunsten der Armen. Hinwendung zum Armen in der Nachfolge des armen Christus: Das ist, kurz gefasst das ethische Programm der franziskanischen Armutsbewegung, das sich nun entfaltet. So wird der doppelte Weg der freiwilligen Armut und des Teilens zu einer breiten Straße der Sozialethik im Zeichen der Solidarität und der Absicherung gegen existentielle Not.

Das tiefste menschliche Leid ist indes seit der verhängnisvollen Untat des Kain die vollständige Verarmung durch erlittene Lieblosigkeit, die Armut an Liebe. Es erscheint jetzt geradezu als die vordringliche Aufgabe des Menschen, jede Ungerechtigkeit durch mehr Gerechtigkeit zu heilen, und darüber hinaus jede bloße und immer letztlich ungenügende Gerechtigkeit durch mehr Gerechtigkeit, eben durch Barmherzigkeit, die nicht mehr auf die Mehrung des äußeren Reichtums, sondern auf den Weg innerer Hingabe und damit verbunden äußerer Armut schaut. Diese Überbietung der Gerechtigkeit im Zeichen der Barmherzigkeit trägt den Namen Liebe (agape, caritas). Was dem Menschen eigentlich zukommt, sein eigentliches Recht bildet und erst ganz ihm gerecht wird, ist freie und ungeschuldete Liebe, da er von Natur aus in Armut an liebender Zuwendung verelendet. Diese Liebe bildet paradoxerweise das ursprünglichste Recht eines jeden Menschen, ohne dass jedoch dieses Recht auf Liebe vor irgendeinem Gerichtshof der Welt, außer vor Gott, eingeklagt werden könnte. Indem Gott Mensch wird und dem Menschen in Liebe begegnet, rechtfertigt er das dem Tod der Liebesarmut verfallende Leben des Menschen und rettet es aus dem bloßen Überlebenskampf. Gerade diese Paradoxie macht das Wesen des Menschen aus und erklärt zugleich sein verzweifeltes Mühen um mehr als die bloße Garantie des schieren Überlebens. Glück, nicht Zufriedenheit ist das Ziel des Menschen.


Peter Schallenberg ist seit 2008 Inhaber des Lehrstuhls für Moraltheologie an der Theologischen Fakultät Paderborn und seit 2010 Direktor der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle Mönchengladbach.


Literatur

Ambrosius von Mailand: Der Mächtige und der Arme. Freiburg/Br. 2019.

Augustinus: De civitate Dei.

Egger, Wilhelm: Nachfolge als Weg zum Leben. Chancen neuerer exegetischer Methoden, dargelegt an Mk 10, 17-31 (ÖBS 1). Klosterneuburg 1979.

Die griechischen christlichen Schriftsteller der ersten drei Jahrhunderte (GCS). Berlin 1972, 157-191.

Lindemann, Andreas: Eigentum und Reich Gottes. Die Erzählung „Jesus und der Reiche“ im Neuen Testament und bei Clemens Alexandrinus, in: Zeitschrift für evangelische Ethik 50(2006)89-109.