Querfühlen statt Querdenken? Tocqueville zu Solidarität, Gemeinsinn und Individualismus in Zeiten von Corona
Von Sarah Rebecca Strömel (Regensburg)
Die QuerdenkerInnen-Bewegung ist seit geraumer Zeit in aller Munde. Woche für Woche reklamieren ihre VertreterInnen das kritische Denken und das Hinterfragen der Entscheidungen von etablierten PolitikerInnen für sich. Von Personen, die ihren Unmut über die Maßnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus zum Ausdruck bringen möchten, über generelle ImpfgegnerInnen bis hin zu strikten Leugnern der Existenz eines Coronavirus, VerschwörungstheoretikerInnen und nationalistischen Akteuren, die jede Gelegenheit nutzen, ohne Maske und Abstandsregel ihre Parolen schwingen zu dürfen, ist alles dabei. Der folgende Text möchte zeigen, was Alexis de Tocqueville – kritischer Analytiker der Demokratie – zum Zusammenhang von Emotionen im Kontext des Politischen und dem Erstarken der QuerdenkerInnen-Bewegung beizutragen hat.
Kritisches Denken. Seit jeher ein Zauberwort der Politischen Philosophie. Nicht nur in diversen Bildungskonzepten spielt es eine zentrale Rolle, auch gegen die viel thematisierte Politikverdrossenheit sollen kritische, wachsame, gut informierte und engagierte BürgerInnen helfen. Das Denken der Individuen, insbesondere das kritische, soll also der Schlüssel zum Erfolg einer demokratischen Gesellschaft sein: Die Dinge hinterfragen, sich seine eigene Meinung bilden – einfach mal querdenken.
Freilich wird kaum jemand, der die Wissenschaft – zurzeit insbesondere die Virologie – ernst nimmt und der das Einholen von gesicherten Fakten als Voraussetzung zum kritischen Denken begreift, die QuerdenkerInnen-Bewegung als Sinnbild für kritisches Denken bezeichnen. Dass die Bewegung diesen Begriff für sich vereinnahmt, wo er doch für das exakte Gegenteil steht, ist eine Farce. Ernst nehmen muss man die Bewegung trotzdem. Immerhin fühlt sich offensichtlich ein nicht kleiner Teil der Bevölkerung von ihren Überzeugungen angezogen. Im alten Konflikt zwischen Vernunft und Gefühl, Ratio und Emotio, scheint die Präferenz klar. Und gerade in einem Zeitalter, das nicht nur, aber auch, dank sozialer Medien, Filterblasen und fakenews häufig als postfaktisch bezeichnet wird, scheint zunächst alles in eine Richtung zu deuten: Mehr Vernunft, mehr gesichertes Wissen, mehr Verstand müssen her, um den Versuchungen von Bewegungen dieser Art als demokratische Gesellschaft standhalten zu können. Weniger durch Gefühle, durch Intuitionen und durch Affekte soll unser Agieren als politische Akteure geleitet werden. Nur so kann dem zunehmenden (Rechts-)Populismus Paroli geboten werden. Aber ist die Lösung wirklich so einfach? Und muss eine Emotionalisierung des Politischen grundsätzlich negativ sein?
Die Frage danach, wie sich die QuerdenkerInnen-Bewegung so flächendeckend ausdehnen konnte und weshalb ihre Anhängerschaft zunehmend an Größe gewinnt, muss gestellt werden. Sicherlich nicht die, aber zumindest eine Antwort auf diese Frage, kann mithilfe von Alexis de Tocqueville gefunden werden.
Tocqueville und der Verlust von Gemeinsinn und Solidarität in der Demokratie
Der hierzulande immer noch gern unterschätzte Philosoph hatte schon seinerzeit ein äußerst feinfühliges Gespür für die Ambivalenz der Demokratie, insbesondere für das Spannungsverhältnis von Vernunft und Gefühl. 1805 in der noch jungen, französischen Demokratie geboren, träumt auch der vielschichtige Philosoph adeliger Abstimmung von einem kritisch-denkenden, wachsamen und engagierten Bürger. Als Liberaler der neuen Art – so Tocqueville über sich selbst – bleibt er im Gegensatz zu seinem geistigen Vater Rousseau allerdings skeptisch in Bezug auf die Wahrscheinlichkeit eines solchen Bürgers im demokratischen Kontext. Zu groß sind die Versuchungen, die sich im Zeitalter der Gleichheit der Bedingungen und des Individualismus allen bieten.
Eher hält es Tocqueville für wahrscheinlich, dass sich die demokratischen Individuen ins Private zurückziehen, sich ihren persönlichen Vergnügungen oder Belangen hingeben und den Blick für das große Ganze, für die Gesellschaft an sich verlieren. Zwischen einem permanenten Geltungsdrang, dem Kampf um Anerkennung, einem Hang zum Wohlstandsstreben und persönlichen Identitätskrisen läuft sein demokratischer Mensch Gefahr, die Verbindung zu seinen Mitmenschen zu verlieren. Am Ende von Tocquevilles Schreckensszenario, das für ihn nicht ein dystopischer Gesellschaftsentwurf, sondern vielmehr eine mögliche und nicht unwahrscheinliche Zukunft der Demokratie war, steht ein Individuum, das nicht nur den tiefergehenden Kontakt zu seinen Mitmenschen, sondern auch den authentischen Kontakt zu sich selbst einbüßt. Entfremdet ist der demokratische Mensch, der sich „rastlos im Kreise dreh[t], um sich kleine und gewöhnliche Vergnügungen zu verschaffen […]. Jeder steht in seiner Vereinzelung dem Schicksal aller andern fremd gegenüber: seine Kinder und seine persönlichen Freunde verkörpern für ihn das ganze Menschengeschlecht; was die übrigen Mitbürger angeht, so steht er neben ihnen, aber er sieht sie nicht; er berührt sie, und er fühlt sie nicht; er ist nur in sich und für sich allein vorhanden […]“. [1]
Besonders interessant ist hierbei, dass Tocquevilles Individualismus gerade deshalb so gefährlich ist, weil er – im Gegensatz zum Egoismus, den Tocqueville explizit vom Individualismus abgrenzt – den engsten Freundes- und Verwandtenkreis miteinschließt. Es entsteht also kaum ein Leidensdruck, keine auf den ersten Blick sichtbare Einsamkeit oder Isolation, sondern vielmehr ein schleichender, subtiler und unbewusster Prozess, der peu à peu kleine Privatgesellschaften für den individuellen Bedarf errichtet. Die „große Gesellschaft“ bleibt sich selbst überlassen.[2] Solidarität, Gemeinsinn und die Identifikation mit der Gesamtgesellschaft rücken damit in weite Ferne. Für Tocqueville besteht genau hier eine zentrale Schwachstelle der Demokratie, die darüber hinaus die Geburtsstunde des sogenannten sanften Despotismus einläutet. Es handelt sich hierbei um ein Phänomen, das Teil der Demokratie selbst, also schon in ihren Strukturen angelegt ist und das eine funktionsfähige Demokratie nach liberalem, rechtsstaatlichem Maß ernsthaft gefährdet.
Tocqueville und die QuerdenkerInnen
Was würde Tocqueville nun zu unseren QuerdenkerInnen sagen? Und welche Rolle spielt dabei das Spannungsverhältnis von Vernunft und Gefühl? Zu kaum einem Zeitpunkt waren die Auswirkungen des individualistischen Zeitalters, die Tocqueville nicht nur erkannt, sondern auch gefürchtet hat, wohl so sichtbar wie heute. Zweifelsohne – unsere Gesellschaft befindet sich seit nun mehr über einem Jahr im Ausnahmezustand. Die Corona-Pandemie verlangt allen viel ab: Die privaten Selbstverwirklichungsoptionen sind stark eingeschränkt, Privilegien, an die wir uns schon längst gewöhnt haben, sind uns wieder abhandengekommen und zwischen Homeoffice und Homeschooling geraten viele an ihre Grenzen. Auch das Vertrauen in etablierte PolitikerInnen schwindet bei so manchem und zugegebenermaßen haben eine nicht ganz reibungslose Impfstrategie und der Skandal um das Geschäft mit den Masken sicherlich ihren Teil dazu beigetragen. Durchzuhalten ist anstrengend. Wie so oft in politischen Ausnahmesituationen erscheinen die einfachen Antworten auf komplexe Fragen, die lauten Stimmen von vermeintlich charismatischen Führungspersönlichkeiten und die schnellen Lösungen populistischer Parteien für viele plötzlich attraktiv. Diesen Angeboten zu widerstehen, Abstandsregeln und Kontaktbeschränkungen weiterhin konsequent einzuhalten, obwohl unsere emotionalen Bedürfnisse in eine andere Richtung weisen, ist vor allem eine Leistung unserer Vernunft. Oder?
Mit Tocqueville ließe sich darüber streiten. Die Fähigkeit, sich nicht nur in den nächsten Bekannten, sondern auch in den entfernt lebenden Mitmenschen hineinversetzen zu können, den Unbekannten, der sich mit uns zunächst nicht mehr als das Mensch-Sein oder die deutsche Staatsangehörigkeit teilt, zu sehen und ihn in seiner Lage wahrzunehmen, schwindet. Aus der Erkenntnis über die Situation des abstrakten Mitbürgers dann aber auch noch entsprechende Konsequenzen zu ziehen, das eigene Verhalten anzupassen und sich gegebenenfalls zurückzunehmen, eigene Bedürfnisse zurückzuschrauben, wird für Tocqueville unter demokratisch-individualistischen Vorzeichen nahezu unmöglich. Durch Individualismus und sanften Despotismus sieht er seinen demokratischen Menschen mit Umständen konfrontiert, die „das Band menschlicher Zuneigung dehn[en] und locker[n]“[3]. Der Individualist wird langfristig auch Egoist.[4] Er ist jedenfalls nicht dazu bereit, das Wohl der Gesamtgesellschaft über sein eigenes zu stellen – seien die Einbußen der anderen auch noch so groß und seine eigenen im Vergleich noch so gering.
Unter den besonderen Gegebenheiten der Corona-Pandemie und der QuerdenkerInnen-Bewegung wird also eine demokratische Schwachstelle sichtbar, die schon vorher existiert hat. Insofern wäre Tocqueville von der Bewegung vermutlich nicht überrascht. Allem republikanischen Wunschdenken zum Trotz geraten Solidarität und Gemeinsinn zu Gunsten von individuellen Bedürfnissen in den Hintergrund. Das allgemeine Mitgefühl kommt uns abhanden.
Mehr Gefühl!
Für die Erklärung, weshalb diese Tendenzen gerade im demokratischen Kontext entstehen, nimmt Tocqueville sich Zeit. Er erläutert in seinem umfangreichen politiktheoretischen Hauptwerk Über die Demokratie in Amerika (1835/40) diverse Phänomene, die negativ konnotierte Gefühle hervorrufen. So bringt eine übersteigerte Liebe zum materiellen Wohlergehen beispielsweise Neid und Habgier mit sich, die sogenannte Stellenjägerei schürt Konkurrenzdruck und Missgunst und auch Verunsicherung, Angst und Überforderung spielen dank der Öffentlichen Meinung oder dem Individualismus eine wesentliche Rolle.[5] Die allumfassende Gleichheit der Demokratie bietet eben nicht nur Chancen, sondern birgt auch Risiken. Dass jeder – zumindest de jure – alles werden kann, erzeugt Druck. Was Alain Ehrenberg mit seinem erschöpften Selbst später als Depression durch Überforderung, durch zu viel Individualität und Orientierungslosigkeit, subsumiert[6], erkennt bereits Tocqueville in den demokratisch-individualistischen Strukturen der Gesellschaft seiner Zeit.
Eine Emotionalisierung des Politischen würde er aber trotzdem nicht pauschal verurteilen. Im Gegenteil. Denn so sehr die oben beschriebenen negativ konnotierten Emotionen dazu führen mögen, dass der homme démocratique seine Authentizität und sein Gespür für die Gesamtgesellschaft verliert und Gefahr läuft, sich von problematischen Bewegungen überzeugen zu lassen – die Verantwortung für sein Verhalten trägt der demokratische Mensch immer noch selbst. Und so entdeckt Tocqueville in der Re-Aktivierung des Gefühls also auch jede Menge Potenzial. Nicht weniger, sondern mehr (Mit-)gefühl bräuchte es, um das Öffentliche wieder mit demokratischem Leben zu füllen und eine engagierte, tatsächlich kritisch-denkende Bürgerschaft zu gewinnen. Vernunft und Gefühl in Einklang zu bringen ist das eigentliche Ziel.
So kommt es auch, dass Tocqueville die Hoffnung nie ganz aufgibt und in einer vor allem instrumentell verstandenen Religion die Möglichkeit sieht, durch ein institutionalisiertes Praktizieren von Ritualen in der Gemeinde eine Identifikation mit dem demokratischen Mitbürger zu schaffen. Tocqueville selbst war übrigens Agnostiker und macht kein Geheimnis daraus, dass ihn seine Beobachtungen der Demokratie in Amerika gelehrt haben, dass für dieses Wirken der Religion nicht zwangsläufig ein tatsächlicher Glaube notwendig sei. Religion ist demzufolge im Tocquevilleschen Kontext also vor allem ein Instrument der Politik. Wie dem auch sei, Tocqueville findet in den Vereinen, der Dezentralisierung und der lokalen Selbstverwaltung weitere Möglichkeiten, der mangelnden Identifikation des Bürgers mit seinen Mitbürgern entgegen zu wirken. Die Bedeutung vom Wohlergehen aller, dem Wohlergehen der Gesamtgesellschaft, soll dem demokratischen Mensch so wieder nähergebracht werden. Ob Tocquevilles Hoffnung am Ende enttäuscht wird oder sich der Traum vom kritisch-denkenden, umfassend informierten und aktiv partizipierenden Bürger, der in seinen Entscheidungen auch das Gemeinwohl im Blick hat, doch noch erfüllt, ist viel diskutiert worden. Eine abschließende Antwort gibt auch Tocqueville nicht und so lässt er den Ausgang seines Buches, die Frage nach der Zukunft der Demokratie, mit einem eindringlichen Appell an seine Leserschaft offen.
Es ist also eine ausdrückliche Warnung vor einer vom sanften Despotismus durchzogenen Demokratie, die am Ende bleibt. Querfühlen statt Querdenken – so lautet die Devise, die uns Tocqueville mit Blick auf unsere heutige Situation vielleicht empfehlen würde. Nicht zu viel, sondern zu wenig Gefühl, zu wenig echte Verbindung zu den anderen sah er am Werk, wenn er sich mit den Pathologien der demokratischen Gesellschaft befasst hat. Der Individualismus und der sanfte Despotismus rufen Phänomene ins Leben, die den demokratischen Menschen emotional leiten und unfrei in seiner Art zu denken und zu fühlen machen. Zu erkennen, inwiefern Neid, Missgunst, Habgier, Angst, Unsicherheit oder Überforderung gelegentlich Motive sind, von denen wir uns emotional als politische Akteure leiten lassen und die uns von unseren Mitmenschen entfernen, wäre ein Anfang. Zu verstehen, weshalb die Demokratie auch von echten, aufrichtigen und nicht inszenierten Gefühlen profitieren kann und die Kraft aufzubringen, in der momentanen Situation Solidarität ins Zentrum zu rücken, wäre ein Fortschritt. Vernunft und Gefühl in Einklang zu bringen, um die (gegenwärtigen) politischen Herausforderungen zu meistern, wäre das Ziel. Unterschätzen sollte man die Bedeutung der Gefühle in politischen Entscheidungs- und Verhaltensprozessen jedenfalls nie.
[1] Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, (Hg. Jacob P. Mayer), München 1976, S. 814.
[2] Ebd., S. 585.
[3] Ebd., S. 586.
[4] Das Wort „l’égoïsme“ wird im Deutschen übrigens sorglos mit „Selbstsucht“ übersetzt: Vgl. ebd., S. 585.
[5] Zu Neid, Habgier, Missgunst, dem Rückzug ins Private und dem permanenten Streben nach Anerkennung bei Tocqueville vgl. Karlfriedrich Herb und Sarah Rebecca Strömel, Einsame Herzen. Tocqueville und die Demokratie, in: Zeitschrift für Politik (ZfP) 66, Nr. 4 (2019), hier S. 371.
[6] Vgl. Alain Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt am Main 2015.
Sarah Rebecca Strömel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Politische Philosophie und Ideengeschichte an der Universität Regensburg.
Zum Thema:
Strömel, Sarah Rebecca (2021): Eine Frage des Gefühls. Alexis de Tocqueville und die Emotionalisierung der Politik, in: Helfritzsch, Paul und Müller Hipper, Jörg: Die Emotionalisierung des Politischen, Bielefeld, transcript Verlag, S. 19-43.
Strömel, Sarah Rebecca und Herb, Karlfriedrich (2019): Einsame Herzen. Tocqueville und die Demokratie, in: Zeitschrift für Politik (ZfP), 66 (4), Nomos: S. 365-383.
Interview im WDR ZeitZeichen (2020): 29.07.1805 – Geburtstag von Alexis de Tocqueville (gemeinsam mit Karlfriedrich Herb); Zum Radiobeitrag:
https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/zeitzeichen/tocqueville-100.html