Uninformed Non-Consent: Widerspricht eine Impfpflicht dem Autonomieprinzip?
von Daniel Lucas (Marburg)
In Deutschland wird aktuell wieder über eine Impfpflicht – in medizinischen Berufen im Besonderen, aber auch im Allgemeinen – diskutiert. Grund dafür ist die niedrige Impfquote und die damit einhergehende Gewalt, mit welcher die vierte Corona-Welle auf die Bundesrepublik trifft. Während insbesondere der Schutz Dritter als Argument angeführt wird, lässt sich aber durchaus auch damit argumentieren, dass eine Impfpflicht zum Wohle der bisher Ungeimpften ist.
Der Schutz von Dritten: Unmittelbare Verantwortung
Eine unmittelbare Verantwortung zum Schutz von Dritten liegt in jenen Bereichen vor, in welchem besonders vulnerable Gruppen betroffen sind, i.e. solche, die sich nicht oder nur eingeschränkt selbst schützen können. Besonders im Fokus sind dabei medizinische und pflegerische Berufe. Der deutsche Ethikrat etwa meint damit: „Beschäftigte, die schwer oder chronisch kranke sowie hochbetagte Menschen beruflich versorgen, wie ärztliches und pflegendes Personal, aber auch Mitarbeitende des Sozialdienstes, der Alltagsbegleitung oder der Hauswirtschaft, tragen eine herausragende Verantwortung dafür, die ihnen Anvertrauten nicht zu schädigen.“ (Ethikrat 2021, 3)
Der Präsident der Leopoldina, Gerald Haug, fordert im Vorwort zur 9. Ad-hoc-Stellungnahme der Nationalen Akademie der Wissenschaften zudem „Impfpflichten für Multiplikatorengruppen.“ (Leopoldina 2021, 2). Im Spiegel spezifiziert er, dass damit unter anderem Lehrkräfte gemeint sind (Vgl. Traufetter 2021). Anders als bei der Arbeit mit besonderes vulnerablen Gruppen geht es jetzt hier also nicht um den Schutz der Anvertrauten selbst, sondern darum, dass diese nicht wiederum andere gefährden. Da dies insbesondere Minderjährige unter 12 Jahren betrifft, geht es gleichwohl um deren Wohl, da sie von einem schweren oder gar tödlichen Verlauf von Eltern oder anderen Erziehungsberechtigten (zu solchen Auswirkungen siehe etwa Hillis et al. 2021). Zumindest mittelbar geht es also auch um den Schutz dieser Gruppe.
Der Schutz von Dritten: Mittelbare Verantwortung
Während eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen sich durch den Verweis auf die unmittelbare Verantwortung, die diese gegenüber vulnerablen Gruppen haben, begründet, lässt sich bei einer allgemeinen Impfpflicht nur eine mittelbare Verantwortung behaupten. Verweise auf Solidarität haben nur begrenzte Reichweite, da sie auf ein recht kollektivistisches Bild von Gesellschaft zielen, dem individuelle Schutzrechte gegenüberstehen. Zwar lässt sich aus Fairness-Gründen eine solche Pflicht begründen, jedoch steht dem auch das individuelle Recht auf Nichtschädigung entgegen. So bemerkt Peter Schaber: „Der Eingriff in das Recht auf physische Unversehrtheit, den eine Impfung darstellt, ist allerdings zu gewichtig, um uns aus Fairnessgründen für verpflichtet zu halten, uns impfen zu lassen.“ (Schaber 2021, 44). Man muss diese Gewichtung nicht teilen, um zu erkennen, dass hier ein relevanter Einwand vorliegt.
Anders verhält es sich, wenn eine Impfung nicht als Hilfeleistung, sondern als Teil einer Nicht-Schädigung betrachtet wird. Jason Brennan bemerkte dazu bereits 2018, also vor dem Beginn der Pandemie, eine Impfplicht sei dann begründbar, wenn nicht-geimpft zu sein bedeute Teil einer kollektiven Bedrohung zu werden und damit gegen das Schädigungsverbot zu verstoßen: „I argue that people who refuse vaccinations violate the ‘clean hands principle’, a (in this case, enforceable) moral principle that prohibits people from participating in the collective imposition of unjust harm or risk of harm.“ (Brannon 2018, 37.) Im Fall von Covid-19 lässt sich hierbei wiederum zwischen einer mittelbaren und einer unmittelbaren Schädigung sprechen. Zum einen sind vulnerable Gruppen einem höheren Risiko ausgesetzt, so Schaber: „Wer sich nicht impfen lässt, gefährdet bei Krankheiten wie Covid-19 die Gesundheit von Menschen, die sich nicht impfen lassen können.“ (Schaber 2021, 47). Mittelbar werden wir aber alle geschädigt, weil unser Recht auf adäquate Gesundheitsversorgung durch eine Überlastung unseres Gesundheitssystems konkret gefährdet ist. So erläutert Peter Dabrock, in Anschluss an Alena Buyx, im Philosophie Magazin: „Impfen ist eine persönliche Entscheidung, aber keine Privatsache, denn die Konsequenzen der Nichtimpfung sind in der Gesellschaft erheblich – das fängt bei einem selbst oder als Angehörige von Risikopatienten an, geht über die in diesem Maße unnötige Belegung von Intensivbetten und dadurch nötige Verschiebung anderer wichtiger Operationen wie Bypass-Legung oder Krebs-OPs und reicht bis hin zu den – von vielen Impfverweigerern wie selbstverständlich verlangten – Übernahme der Kosten von Bürger:innentests.“ (Dabrock 2021).
Einschränkend lässt sich natürlich feststellen, dass zuvor andere Maßnahmen – sogenannte NPIs (non-physical interventions) – ausgereizt werden müssen. Andererseits lässt ich natürlich ebenfalls kritisch fragen, warum einer Gesamtbevölkerung Maßnahmen auferlegt werden sollen, wenn die Adressierung einer konkreten Gruppe, die in einem signifikant höherem Maße am Pandemiegeschehen beteiligt ist, bessere Erfolge verspricht.
Der Schutz von Ungeimpften: Schutz vor der eigenen Entscheidung?
Wenig bis keine Bedeutung spielt bisher der Schutz der Ungeimpften selbst. Dies liegt, so scheint mir, vor allem darin begründet, dass wir Selbstschädigungen als Teil autonomen Handelns zu akzeptieren gewillt sind. So grenzt auch Schaber den Schutz von Dritten klar gegen unseren eigenen Schutz ab: „Wenn es nur um unsere eigene Gesundheit gehen würde, müssten wir uns nicht impfen lassen.“ (Schaber 2021, 45). Schabers Text ist vor dem Beginn der Impfkampagne entstanden und kann entsprechend nicht das Ausmaß an Des- und Falschinformationen reflektieren, welche die Impfkampagne begleiten. Dies ist meiner Ansicht nach jedoch nötig, um einschätzen zu können, ob eine Entscheidung gegen eine Impfung informiert ist oder nicht. Wer eine Impfung verweigert, tut dies zumeist nicht in Berücksichtigung der damit einhergehenden Risiken für sich und andere. Vielmehr liegt die Einschätzung zu Grunde, dass die vorhandenen Impfstoffe keine Wirkung hätten oder gar in besonderer Weise schädlich seien. Außerdem vertreten Impfverweigerer häufig die Ansicht, Ungeimpfte hätten in gleichem oder sogar geringerem Maße Anteil am Infektionsgeschehen.
Dies sind jedoch, soweit wir es aktuell überblicken können, falsche Überzeugungen. Es handelt sich also nicht um eine informierte Entscheidung. Beachump und Childress sprechen sich dafür aus, dass in solchen Situationen Informationen oktroyiert werden sollten, i.e. es kein Anrecht auf Nichtwissen gibt: „If ignorance prevents an informed choice, it may be permissible or probably even obligatory to promote autonomy by attempting to impose unwelcome information.” (Beauchamp/Childress 2009, 131). Dies ist deutlich stärker als auf das reine Vorhandensein von Informationen zu verweisen, aber noch schwächer als gegen eine – wenngleich nicht-informierte – Entscheidung zu handeln. Ich meine jedoch, dass eine Impfpflicht in zweifacher Hinsicht in diesem Kontext Abhilfe schafft. Erstens zwingt sie zur Handlung. Bisher reicht es, sich einfach nicht impfen zu lassen. Bei einer Impfpflicht müsste eine konkrete Entscheidung für Sanktionen, wie zum Beispiel Bußgelder, getroffen werden. Aktuell sehen wir, dass bereits eine Ausweitung von 2G-Regeln zur Erhöhung der Impfquote beiträgt. Zentral ist allerdings mein zweites Argument: Ich möchte behaupten, dass die meisten Ungeimpften überhaupt keinen Zugang zu den relevanten Informationen haben können.
Wie bereits oben geschrieben, sind die Impfkampagnen, gerade im deutschsprachigen Raum, von massiven Falschinformationskampagnen begleitet worden. In Deutschland wären hier die Namen Sucharit Bhakdi und Wolfgang Wodarg an erster Stelle zu nennen. Rund um die Querdenken-Proteste hat sich ein ganzer Geschäftszweig von Spendenaufrufen gebildet, verbunden vor allem mit den Namen Rainer Füllmilch, Michael Ballhaus und Bodo Schiffmann. Das Geschäftsmodell ist auf ein isoliertes Weltbild angewiesen, es handelt sich um eine Echo-Kammer. Echo-Kammern sind dabei nicht nur epistemisch abgeschlossene Räume, sie verhindern auch aktiv, dass Informationen außerhalb dieser Räume überhaupt wahrgenommen werden können. Chris Thi Nguyen beschreibt das als disagreement-reinforcement mechanism: Sämtliche Informationen, die dem eigenen Narrativ widersprechen, werden zum Beweis für die eigene Überzeugung umgedreht (Vgl. Nguyen 2020, 147). Ein weiterer Aspekt ist, dass die Pandemie uns beständig nötigt, neue Informationen aufzunehmen und unser Verständnis der Situation zu verbessern, es ist eine Situation großer epistemischer Unsicherheit. Echo-Kammern jedoch, so Breno Santos, tragen dazu bei, dass keine neuen Informationen aufgenommen werden können: „The person who is ignorant, in this sense, might end up with a small number of true beliefs, but by rejecting external epistemic inputs, they will preempt relevant new knowledge – that is, they will stagnate their body of knowledge.” (Santos 2021, 113). Viele Impfverweigerer sind also auch in der Hinsicht epistemisch benachteiligt, dass ihnen die Möglichkeit fehlt, sich in einer unsicheren Situation zurecht zu finden.
Fazit: Eine begrenzte Impfpflicht ist moralisch geboten
Aus den obigen Überlegungen folgt, dass eine Impfpflicht nicht nur im Hinblick auf ein Nichtschadensprinzip gegenüber Dritten geboten ist, sondern wir es auch jenen schuldig sind, die sich aufgrund ihrer epistemischen Situation nicht hinreichend informieren können. Dabei sind die Grenzen zwischen jenen, die Opfer dieser Desinformationskampagnen sind und jenen, die sie selbst betreiben, allerdings fließend. Eine Person kann beides zugleich sind. Weiterhin lässt sich mutmaßen, dass die Androhung von Konsequenzen für Personen, die viel investiert haben – finanziell wie sozial – einen Ausweg bietet, der keinen radikalen Bruch mit den bisher gehaltenen, falschen Überzeugungen bedeutet.
Daniel Lucas ist Wissenschaftliche Hilfskraft und Lehrbeauftragter am Institut für Philosophie an der Philipps-Universität Marburg.
Literatur:
Tom L. Beauchamp, James F. Childress (2009): Principles of Biomedical Ethics. Oxford University Press: New York, Oxford.
Jason Brennan (2018): A libertarian case for mandatory vaccination. Journal of Medical Ethics, 44:37-43.
Peter Dabrock (2021): „Tyrannei der Ungeimpften?” Zugespitzt, aber ethisch richtig. Philosophie Magazin. Onlinezugriff: https://www.philomag.de/artikel/tyrannei-der-ungeimpften-zugespitzt-aber-ethisch-richtig (zuletzt eingesehen am 15.11.2021).
Deutscher Ethikrat (2021): Zur Impflicht gegen Covid-19 für Mitarbeitende in besonderer beruflicher Verantwortung. Ad-hoc Empfehlung.
Leopoldina (2021): Antivirale Wirkstoffe gegen SARS-CoV-2: Aktueller Stand und Ansätze zur verbesserten Vorbereitung auf zukünftige Pandemien. 9. Ad-hoc Empfehlung.
Chris Thi Nguyen (2020): Echo Chambers and Epistemic Bubbles. Episteme, 17(2):141-161.
Breno R. G. Santos (2021) Echo Chambers, Ignorance and Domination, Social Epistemology, 35(2), 109-119.
Peter Schaber (2021): Zur Pflicht, sich gegen Covid-19 impfen zu lassen. Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 107(1):42–51.
Gerald Traufetter: Wissenschaftler der Leopoldina fordern Impfpflicht. Der Spiegel. Onlinezugriff: https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/corona-leopoldina-forscher-fordern-impfpflicht-fuer-bestimmte-berufe-a-9bd9c7d0-deed-4140-abd0-312629a625d5 (zuletzt eingesehen am 15.11.2021).