Absoluter Vorrang der Grundrechte? – Das Leitbild der „lexikalischen Ordnung“ der Gerechtigkeitsgrundsätze bei John Rawls

Von Björn Engelmann (Erlangen-Nürnberg)


Der vorliegende Beitrag behandelt Rawls` Leitbild der „lexikalischen Ordnung“ im Hinblick auf die beiden von ihm entwickelten Gerechtigkeitsprinzipien, nämlich (1) das System gleicher Grundfreiheiten und Chancengleichheit sowie (2) das Differenzprinzip. Hierbei werde ich zunächst eine möglichst präzise Definition des besagten Begriffs der „lexikalischen Ordnung“ voranstellen und sodann auf Anwendungsbeispiele und -probleme einer derartigen Grundfreiheits- bzw. Grundrechtskonzeption zu sprechen kommen.

Der Begriff der „lexikalischen Ordnung“ bezieht sich bei Rawls auf das Verhältnis der von ihm entwickelten Grundsätze der Gerechtigkeit und legt den Vorrang des ersten Grundsatzes „Recht auf ein umfangreiches System gleicher Grundfreiheiten“ vor dem zweiten Grundsatz „gerechte Gestaltung sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheiten“[1] fest.[2] Konkret heißt das, dass es nach Rawls nicht möglich sein soll, die durch eine Liste[3] konkretisierten Grundrechte des ersten Grundsatzes zu Gunsten größerer gesellschaftlicher oder wirtschaftlicher Vorteile einzuschränken.[4] Für die Rechtspraxis in einer auf dem Rawls`schen Gedankenfundament beruhenden Gesellschaft bedeutet dies (wie Rawls in einem etwa zwei Jahrzehnte nach seinem grundlegendem Werk „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ erschienenen Aufsatz besonders treffend präzisiert), „daß eine Grundfreiheit nur um einer anderen (oder mehrerer) willen eingeschränkt oder aufgehoben werden kann, niemals aber […] aus Gründen des öffentlichen Wohls oder aufgrund perfektionistischer Werte“[5]. Damit räumt Rawls den Grundfreiheiten einen „besonderen Status“[6] ein, der sogar so weit gehen soll, dass eine Einschränkung von Grundfreiheiten selbst auf freiwilliger Basis nicht möglich sein soll, d. h. ein freiwilliger Verzicht auf Grundfreiheiten, etwa zu Gunsten größerer wirtschaftlicher oder sozialer Vorteile, ausgeschlossen ist.[7]

            Ein solch herausgehobener Status der Grundfreiheiten erscheint auf den ersten Blick als äußerst wünschenswert, erst Recht, wenn man bedenkt wie mühsam gerade in unserer gegenwärtigen Zeit bürgerliche Grundfreiheiten in real existierenden Gesellschaften erkämpft und verteidigt werden müssen, jedoch hat ein solches Konzept auch gewisse Tücken wenn man es vor dem Hintergrund konkreter Beispiele etwas näher betrachtet. So wäre es nach der Rawls`schen, auf dem Grundsatz der „lexikalischen Ordnung“ fußenden, Grundrechtskonzeption etwa nicht möglich, die Glaubensfreiheit (als Unterfall der Gewissens- und Gedankenfreiheit) zu Gunsten des Tierschutzes einzuschränken, denn der Tierschutz zählt nicht zu den von Rawls enumerativ benannten Grundfreiheiten. Das mögliche Bedürfnis nach einer solchen Einschränkung offenbart sich, wenn man diese Konstellation vor dem gedanklichen Hintergrund einer Religion, die nur den Verzehr auf besonders grausamer Weise oder mit größeren Leiden erlegter Tiere gestattet, durchspielt. Hier führt Rawls` Vorrang der Grundfreiheiten in Verbindung mit der begrenzten Liste an Grundfreiheiten, die Rawls vorgibt, zu dem Ergebnis, dass keine Handhabe bestünde, dem Religionsanhänger (m/w/d)[8] eine derartige Religionsausübung zu untersagen oder diese auch nur mit Auflagen zu versehen. Treiben wir unser Beispiel nun noch auf die Spitze und erstrecken die Essgewohnheiten unseres Gläubigen auch noch auf von anderen Personen als besonders schützenswert angesehene Vertreter aus dem Tierreich, etwa niedliche Hundewelpen oder sanftmütige Schabrackentapire[9] (also intelligente Wirbeltiere), wird deutlich, dass der von Rawls postulierte Vorrang der enumerativ aufgelisteten Grundfreiheiten die Berücksichtigung anderer nicht im Rang einer Grundfreiheit stehender gesellschaftlicher Interessen (hier: Tierschutz) erschweren und damit gesellschaftliche Konflikte heraufbeschwören kann. Ein derart weit reichender Vorrang sämtlicher Grundrechte existiert etwa im deutschen Verfassungsrecht nicht. Dies ermöglicht beispielsweise in Bezug auf die hier angesprochene Kollisionslage „Glaubensfreiheit contra Tierschutz“ differenziertere Lösungen, z. B. beim Schächten von Tieren das Erfordernis einer Ausnahmegenehmigung nach Einzelfallprüfung.[10] Erst wenn sich bei Rawls die anderen gesellschaftlichen Interessen  ebenfalls in einer Grundfreiheit manifestieren (z. B. der Gewissensfreiheit), ist eine (wechselseitige) Einschränkung möglich. Es wird aber (bei sachorientierter, ungekünstelter Argumentation) nicht immer möglich sein, solche konfligierenden gesellschaftlichen Interessen ebenfalls in den Rang einer Rawls`schen Grundfreiheit zu erheben.

            Als weiteres Beispiel sei etwa der Aufmarsch extremistischer Kader genannt, die unter Ausnutzung ihrer Versammlungsfreiheit (Grundrecht nach der Liste von Rawls[11]) die öffentliche Ordnung stören, ohne jedoch die Grenze zur Grundrechtsbeeinträchtigung Dritter (zu denken wäre hier etwa an psychologische Unterdrückung als Eingriff in die persönliche Freiheit[12]) zu überschreiten. Soll man diese gewähren lassen, weil das Klima der Angst und Einschüchterung, das sie heraufbeschwören, die Schwelle zu einer konkreten Beeinträchtigung der Freiheit anderer Bürger um Haaresbreite noch nicht überschreitet?

            All dies zeigt: Das konkrete Austarieren von explizit festgeschriebenen Grundrechten (oder nach der Terminologie von Rawls: Grundfreiheiten) im Verhältnis zu allgemeiner gefassten gesellschaftlichen Interessen ist und bleibt – das führt uns auch der tägliche Diskurs um die Einschränkung von Grundrechten aus Gründen des Gesundheitsschutzes in Pandemiezeiten und die hiervon tangierten anderen gesellschaftlichen Interessen[13] wie der Genuss von Kunst-, Kultur- und Bildungsangeboten vor Augen – eine extrem diffizile Angelegenheit. Dabei mögen die angeführten Beispiele verdeutlicht haben, dass der von Rawls angeführte besondere Status der Grundfreiheiten durchaus diskussionswürdig ist und dass der von anderen Rechts- und Moralphilosophen erhobene Vorwurf[14], Rawls lasse sich hier zu sehr von einer liberalen Grundmaxime und zu wenig von der von seiner eigenen Gerechtigkeitskonzeption verfolgten Kernfrage, für welches Gerechtigkeitsmodell Bürger im Urzustand votieren würden, leiten, nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen ist. Gerade durch seinen sehr radikalen Ansatz eines kompromisslosen[15] Vorrangs eng umgrenzter Grundfreiheiten, der, wie gezeigt wurde, maßgeblich auf seiner „lexikalischen Ordnung“ der Gerechtigkeitsgrundsätze beruht, hat Rawls dennoch fraglos die Diskussion um die „richtige“ Grundrechtskonzeption vorangetrieben und in entscheidender Weise bereichert.


Zitierte Literatur:

Geis, Max-Emanuel (1995): Das revidierte Konzept der “Gerechtigkeit als Fairness” bei John Rawls – materielle oder prozedurale Gerechtigkeitstheorie?, in: Juristenzeitung (JZ) 1995, 324-331.

Hart, H. L. A. (1975): Rawls on Liberty and its Priority, in: Daniels, Norman (Ed.): Reading Rawls. Critical Studies of A Theory of Justice, Oxford: Blackwell, 230-252.

Rawls, John (1975): Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Rawls, John (1998): Politischer Liberalismus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.


Zum Autor:

Björn Engelmann ist Volljurist und hat Jura, Philosophie und Politikwissenschaft studiert. Er ist Doktorand am Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Erlangen-Nürnberg.

Kontakt: Twitter: @Engels_Post


[1] Zum vollen Wortlaut der Grundsätze vgl. Rawls 1975: 81 (Ausgangsformulierung) bzw. 104 (Modifikation des zweiten Grundsatzes) bzw. Rawls 1998: 406 (Neuformulierung beider Grundsätze).

[2] Vgl. Rawls 1975: 82.

[3] Vgl. ebd.

[4] Vgl. ebd.

[5] Rawls 1998: 410; vgl. auch bereits Rawls 1975: 82, 85.

[6] Etwa Rawls 1998: 410.

[7] Vgl. Rawls 1975: 84.

[8] Allein um der besseren Lesbarkeit willen wird in diesem Beitrag oftmals exemplarisch nur auf ein Geschlecht abgestellt. Stets sind hiermit jedoch sämtliche Geschlechter (m/w/d) gemeint.

[9] Um ein solches zu bewundern vgl. etwa http://de.wikipedia.org/wiki/Schabrackentapir

[10] Vgl. etwa BVerfG, Urteil vom 15.01.2002 – 1 BvR 1783/99 (= BVerfGE 104, 337 = BeckRS 2002 30232064 der Urteilsdatenbank von Beck-Online).

[11] Vgl. Rawls 1975: 82.

[12] Vgl. wiederum die Liste der Grundfreiheiten a. a. O. Wäre die Grenze überschritten, wäre auch nach Rawls eine Einschränkung der Versammlungsfreiheit möglich, da diese dann mit einem anderen Grundrecht kollidieren würde.

[13] Nach deutschem Verfassungsrecht sind von Corona-Maßnahmen hier in der Regel zudem auch Grundrechte, jedenfalls das „Auffangrundrecht“ der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), betroffen. Ausführlich hierzu Björn Engelmann, https://praefaktisch.de/covid-19/ich-zaehle-also-bin-ich-ueber-die-probleme-der-corona-politik-das-ungezaehlte-und-unzaehlbare-angemessen-zu-erfassen/.

[14] Vgl. etwa Hart 1975: 251 f., der seine Kritik vor allem an der fehlenden Austauschbarkeit (bestimmter) Grundrechte gegen wirtschaftliche oder soziale Vorteile festmacht. Ebenso Geis 1995: 327, der eine einseitige von einer liberalen Gerechtigkeitstradition beeinflusste Sichtweise bemängelt und bei der Auflistung der Grundrechte und Grundgüter immaterielle Werte „wie Friede, Sicherheit, Liebe oder zwischenmenschliche Solidarität“ vermisst.

[15] Zumindest im Kern-Anwendungsbereich der Grundfreiheiten genießen diese bei Rawls uneingeschränkten Vorrang, vgl. Rawls 1975: 82; Ders. 1998: 410 ff.