Selbstbestimmung, Abhängigkeit und Solidarität in der Pandemie

Von Philip Schwarz (Göttingen)


Wenn es um die Aufhebung der Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie geht, ist viel von „Freiheit“ die Rede. Wir müssen uns aber fragen, unter welchen Bedingungen wir überhaupt frei und selbstbestimmt sind. Die Berücksichtigung unserer verkörperlichten Bedingtheit zeigt uns, dass Freiheit Solidarität voraussetzt.

Im dritten Jahr der Pandemie nehmen wir alle starke Einschränkungen unserer Freiheit hin: die Freiheit Konzerte und Theatervorstellungen zu besuchen, die Freiheit ins Restaurant zu gehen, die Freiheit zu reisen – kurz: die Freiheit all das zu tun, was das Leben lebenswert macht. Umgekehrt wird etwa der Stichtag der Aufhebung der Maskenpflicht als „Freedom Day“ bezeichnet. Wir alle haben eine mehr oder weniger konkrete Vorstellung davon, was unser Leben lebenswert macht. Insbesondere die Aufklärung knüpft hier an die die Fähigkeit zur Vernunft an: weil wir vernünftig sind, sind wir imstande für uns selbst zu urteilen, was gut ist, und in der Verwirklichung dessen autonom, also unabhängig und selbstbestimmt.

Dementsprechend erscheint jede Einschränkung dieser Freiheit als moralisch problematisch und rechtfertigungsbedürftig. Umgekehrt erscheint die Aufhebung dieser Beschränkungen als moralischer Imperativ. Nicht einfach nur deswegen, weil die Beschränkungen uns daran hindern, zu verwirklichen, was uns wichtig ist, sondern auch weil diese Beschränkungen selbst nicht ein Ergebnis unserer autonomen Selbstverwirklichung sind. (Wolfgang Kubicki erklärte bekanntlich seine ordnungswidrigen Kneipenbesuche zu Ausübungen seines Rechts auf „autonomes Handeln“.) Es sind andere, genauer: der Staat, die uns sagen, dass wir uns einschränken müssen. Also auch wenn wir diese Einschränkungen hinnehmen, tun wir dies nicht als Ausdruck unserer vernünftigen Selbstbestimmtheit. Es besteht dann immer noch ein moralisches Problem, weil die Einschränkungen nicht in „Eigenverantwortung“ (ein in diesem Zusammenhang beliebter Ausdruck) eingeführt und angenommen werden.

Auf der anderen Seite wird gegen diese Betonung von Selbstbestimmung und Eigenverantwortung das Gemeinwohl in Stellung gebracht. Wir müssten jetzt alle zurückstecken, weil es um etwas geht, das wichtiger ist als unsere individuellen Bedürfnisse. Aber gerade das ist geeignet, Widerstand zu wecken. Warum sollten die Bedürfnisse anderer Vorrang vor meinen haben? Was ist überhaupt dieses ominöse Gemeinwohl, und in welcher Hinsicht betrifft es mich, wenn meine Bedürfnisse doch im Widerspruch zu ihm stehen?

Diesen Fragen geht der schottisch-amerikanische Philosoph Alasdair MacIntyre in seinem Buch Die Anerkennung der Abhängigkeit nach. Er kritisiert dabei den Fokus auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit in der modernen Moralphilosophie. Dabei ist es keinesfalls so, dass sie nach ihm keine Rolle spielten, vielmehr fragt er danach, wie wir Menschen überhaupt in die Position kommen frei, unabhängig und selbstbestimmt zu sein. Er weist darauf hin, dass wir nur deswegen unabhängig und selbstbestimmt werden, weil wir zunächst abhängig von anderen sind.

Als Säuglinge und Kinder sind wir auf die Ernährung, Fürsorge und Erziehung durch andere angewiesen. Eltern und andere Bezugspersonen haben uns gefüttert und erzogen. Lehrkräfte haben uns unterrichtet. Medizinisches Personal hat für uns gesorgt. Zu Beginn unseres Lebens sind wir also erst einmal abhängig von anderen, und dies versetzt sie in eine bestimmte moralische Situation. Weil sie den moralischen Anforderungen dieser Situation nachgekommen sind, haben wir heute die körperlichen und geistigen Fähigkeiten, um selbstbestimmt zu handeln.

Wir sind, wer wir sind, also nur weil wir von anderen empfangen haben. Dies ist eine Grunderfahrung menschlichen Lebens; wir alle machen sie. MacIntyre argumentiert nun, dass die Tatsache, dass wir empfangen haben, uns zum Geben verpflichtet, weil es eben für jedes menschliche Leben gilt: wer Kinder hat, wird sich an die (hoffentlich) in der eigenen Kindheit empfangene Fürsorge erinnern und auf diese Weise erkennen, was die eigenen Kinder brauchen. Wichtig ist, dass dieses Geben asymmetrisch und nicht-berechnend ist. Wir müssen nicht unbedingt denselben zurückgeben, von denen wir empfangen haben, und wir müssen nicht unbedingt in demselben Ausmaß geben, in dem wir empfangen haben, etwa weil wir nicht so viel geben können, oder weil die empfangenden Personen mehr brauchen als wir damals.

Das Geben, das wir im Kontext solcher Abhängigkeitsbeziehungen unternehmen, löst dabei die Grenze zwischen egoistischem und altruistischem Handeln auf. Denn einerseits ist mein Geben auf das gerichtet, was gut für andere ist, andererseits gebe ich, weil ich dann damit rechnen darf, zu empfangen, wenn ich es brauche. Deswegen besteht im Beitrag zu diesen Abhängigkeitsbeziehungen das Gemeinwohl, weil es letztlich gut für alle, mich eingeschlossen, ist innerhalb dieses Netzwerkes zu geben. Dieses nicht-berechnende Geben innerhalb eines Netzwerkes wechselseitiger Abhängigkeitsbeziehungen kann man daher „Solidarität“ nennen. Während für MacIntyre Abhängigkeit und Unabhängigkeit einander abwechseln und er das Geben und Empfangen zeitversetzt versteht, glaube ich nicht, dass wir an dieser Stelle stehen bleiben müssen. Ich denke, wir können sagen, dass Menschen zu jedem Zeitpunkt ihres Lebens von anderen abhängig sind und zu bestimmten Zeitpunkten ihres Lebens andere von ihnen.

Wie lässt sich dieser Gedanke verstehen und was hat dies nun mit der Pandemie zu tun? Wir können uns dem Verständnis über ein Beispiel nähern. Stellen wir uns einen Verein vor, der sein jährliches Sommerfest veranstaltet. Damit genug zu essen da ist, sollen alle, die kommen, etwas für ein großes Buffet mitbringen. Die Beiträge der einzelnen Beteiligten lassen sich als asymmetrisches, nicht-berechnendes Geben verstehen, das auf ein gemeinsames Gut gerichtet ist. Zunächst ist es so, dass keine der betreffenden Personen einer bestimmten anderen Person etwas gibt: man gibt vielmehr allen und man empfängt von allen. Weiterhin gibt man zwar in der Erwartung, etwas zurückzuerhalten, aber es handelt sich nicht um einen gleichwertigen Austausch, weil die jeweiligen Beiträge sich nicht wirklich gegeneinander aufrechnen lassen.

Ist eine Schüssel Nudelsalat äquivalent zu einem Blech Kuchen? Bereits die Frage scheint falsch gestellt. Aber auch wenn sich eine Umrechnungstabelle erstellen lässt, gibt es weitere Aspekte, die gegen einen gleichwertigen Austausch sprechen, weil die Situationen der einzelnen Beteiligten mitberücksichtigt werden müssen. Wer alleinerziehend ist und Mindestlohn erhält, hat vielleicht nicht die Möglichkeiten, auf dieselbe Weise beizutragen wie andere. Dennoch würden wir nicht sagen, dass diese Person sich in einem proportional zu ihrem Beitrag geringerem Ausmaß bedienen darf. Die Beteiligten haben also ein gemeinsames Gut, nämlich das Fest. Sie sind für die Verwirklichung dieses Gutes voneinander abhängig, weil sie sich alle darauf verlassen können müssen, dass die jeweils anderen ihren Beitrag leisten. Dieser Beitrag besteht in nicht-berechnendem Geben, das alle einander schulden.

Für die Pandemie gilt nun Ähnliches. Auch hier gibt es ein gemeinsames Gut, nämlich die Gesundheit aller oder möglichst vieler. Auch hier lassen sich die individuellen Beiträge als asymmetrisches, nicht-berechnendes Geben verstehen, das in Erwartung eines ebenfalls nicht-berechnenden Gebens der anderen geleistet wird. Wenn ich in öffentlichen Räumen eine Maske trage, dann schränke ich mich ein um andere zu schützen und gebe in diesem Sinne. Klar ist aber, dass ich nicht einer bestimmten Person gebe, weil ich nicht weiß, wen ich vielleicht anstecken könnte, falls ich unwissentlich positiv bin. Ich gebe also allen, die sich zeitgleich mit mir an diesem Ort aufhalten. Gleichzeitig kann ich erwarten, dass sie mir zurückgeben, soweit sie dazu imstande sind. Wer beispielsweise auf Grund einer Atemwegserkrankung keine Maske tragen kann, kann mir nicht auf dieselbe Weise geben, in der ich gebe. Dennoch dürfen diese Personen erwarten, dass ich ihnen gebe. Tatsächlich sind es ja dieselben Umstände, aus denen sie selbst nicht geben können, die dazu führen, dass sie auf mein Geben angewiesen sind.

Wir sind also nur deswegen in der Lage, eigenverantwortlich zu handeln, weil andere Verantwortung für uns hatten und ihr gerecht geworden sind. Umgekehrt wird es immer wieder Situationen geben, in denen wir Verantwortung für andere haben. Unser ganzes Leben lang befinden wir uns in einem Netzwerk wechselseitiger Abhängigkeiten, in dem wir kontinuierlich geben müssen, weil wir empfangen haben, und Anspruch haben zu empfangen, weil wir gegeben haben. Dabei ist es die Tatsache, dass wir empfangen, die uns in die Lage versetzt, eigenverantwortlich zu tun, was gut für uns ist, und es ist unser Geben, das anderen genau dies ermöglicht.

Wenn wir diesen Umstand anerkennen, dann sehen wir, dass zwischen der eigenverantwortlichen Verfolgung unserer eigenen Bedürfnisse und dem Zurückstecken zugunsten anderer gar keine so starke Spannung besteht. Wir können unsere eigenen Bedürfnisse nur innerhalb einer Gemeinschaft verfolgen, in der durch nicht-berechnendes Geben die nötigen Voraussetzungen dafür geschaffen werden. Dies gilt für alle anderen ebenso, und daher sind wir gegenüber ihnen zum Geben verpflichtet, wie sie gegenüber uns. Weil die Eingebundenheit in diese Abhängigkeitsbeziehungen eine Grunderfahrung menschlichen Lebens ist, und die Einhaltung von Vorsichtsmaßnahmen in der Pandemie ein Ausdruck der Anerkennung dieser Abhängigkeiten ist, erscheinen diese Vorsichtsmaßnahmen dann nicht mehr als notwendige Übel. Vielmehr werden sie erkennbar als die Weisen, in der wir unter den gegebenen Umständen unserem Menschsein Ausdruck verleihen.


Philip Schwarz ist Promotionsstudent in Göttingen und beendet gerade eine Dissertation über Moralepistemologie und Tugendethik. Er interessiert sich vor allem für den Zusammenhang zwischen Menschlicher Natur, Moralität und dem Guten Leben.