„Ampeln“ für die moralische Bewertung von Lebensmitteln
Von Norbert Paulo (Berlin)
Seit etlichen Jahren wird über die Einführung von „Lebensmittelampeln“ diskutiert. Sie sollen eine einfache und schnelle Einordnung ermöglichen, wie gesund oder ungesund ein Lebensmittel ist. Viel ist bisher nicht daraus geworden. Eine Lebensmittelampel, die anzeigt, wie ein Lebensmittel in moralischer Hinsicht abschneidet, wäre allerdings noch wichtiger. Darauf sollte die Politik sich konzentrieren.
Die Diskussion über die Einführung einer Lebensmittelampel ist eine der unerfreulichen politischen Dauerbrenner, die nie zu einem Ende zu kommen scheinen. Einige Länder haben inzwischen zumindest eine einheitliche Kennzeichnung eingeführt, wenn auch bisher fast immer freiwillig. Ob eine verpflichtende Kennzeichnung sinnvoll ist, ist schwer zu sagen. Was für wen in welcher Lebenssituation in welchen Mengen und in welcher Häufigkeit als gesund oder ungesund gelten kann, ist nicht so klar, wie man vielleicht vermuten würde. Weder Fett noch Kohlenhydrate sind an sich ungesund. Hingegen können selbst Smoothies ungesund sein, wenn man über sie zu viel Fruchtzucker konsumiert.
Dass es bestimmte Zutaten und Lebensmittel gibt, die unter so gut wie keinen Umständen und für niemanden gesund sind, steht allerdings außer Frage. Bei vielen Zutaten und Lebensmitteln ist das aber ziemlich schwer zu sagen. Wenn es primär darum geht, die wirklich ungesunden Sachen langsam aus dem Markt zu verdrängen, hätte die Politik andere Möglichkeiten als verpflichtende Lebensmittelampeln, etwa eine höhere Besteuerung oder partielle Verbote. Das sanfte Nudging durch Ampelkennzeichnungen belässt den Konsumentinnen zwar die Entscheidung, ob sie nun die ungesunde Cola kaufen wollen, dürfte aber eben auch deutlich weniger effektiv sein als Besteuerung und Verbote.
Außerdem, so könnte man sagen, finden die Konsumentinnen ja gesundheitsrelevante Angaben zu dem jeweiligen Lebensmittel schon jetzt auf jeder Packung. Nur sind diese in einer Tabelle zusammengefasst und nicht mit einer klar ersichtlichen Bewertung verknüpft. Wer sich wirklich dafür interessiert, wie gesund oder ungesund ein Lebensmittel ist, kann sich also bereits informieren. Und diese Angaben sind nicht nur vereinheitlicht (und damit zwischen ähnlichen Produkten vergleichbar), sondern auch verpflichtend. Auch dürften die allermeisten ziemlich genau wissen, was eher gesund ist (Obst, Gemüse, Olivenöl, Nüsse, Joghurt…) und was eher ungesund (hochgradig verarbeitete Lebensmittel, Wurst, Soft Drinks…). In dieser Hinsicht ist die Lage für die Konsumentinnen also gar nicht so schlecht.
In einer anderen Hinsicht besteht jedoch wirklich Handlungsbedarf. Was vielen bei der Kaufentscheidung neben dem Gesundheitsaspekt wichtig ist, ist nämlich die moralische Bilanz eines Produkts. Die Produktion eines Lebensmittels soll idealerweise kein (unnötiges) Leid verursachen, Produzentinnen nicht ausgebeutet werden und Anbau, Verarbeitung, Transport, Lagerung und Entsorgung keine negativen ökologischen Folgen haben. Klar, es gibt bereits Bio- und Fair-Trade-Siegel, die als Heuristik für eine moralische Bewertung genutzt werden können. Sie decken aber nur einzelne Aspekte ab. Auch gibt es bestimmte Firmen, die ein besonders moralisches („grünes“) Image haben. Auch das kann bei der Kaufentscheidung helfen, ist aber in Ausmaß und Reichweite sehr begrenzt. Außerdem gibt es das Phänomen des „Greenwashings“.
Waren Sie zuletzt mal bei McDonalds? Da hat man inzwischen fast den Eindruck, eine Oase der Gesundheit und der Moralität zu betreten. Alles ist schön hell und leicht grün gehalten. Auf etlichen Plakaten und Monitoren wird einem versichert, wie nachhaltig die Produktion der Lebensmittel ist, wie glücklich die Tiere und die Landwirtinnen. Nichts davon kann man in seinem Wahrheitsgehalt wirklich selbst beurteilen. Und das gilt nicht nur für McDonalds, sondern für fast alle Lebensmittel, die man nicht selbst produziert.
Einfach ist noch zu sagen, dass für ein veganes Lebensmittel keine Tiere gelitten haben. Aber wissen Sie wirklich, wie es den Kühen bei der Produktion Ihres gesunden Joghurts ergangen ist? Können Sie einschätzen, wieviel Energie die Kuh über ihr Futter konsumiert hat, um die Milch für den Joghurt zu produzieren, wie effektiv also die Nutzung der pflanzlichen Nahrungsmittel für den Joghurt ist? Wäre es nicht vielleicht besser, sich direkt pflanzlich zu ernähren und weniger Kühe zu halten? Weil das in vielen Fällen tatsächlich für das Klima besser wäre, empfiehlt Jonathan Safran Foer in seinem Buch Wir sind das Klima, den Konsum tierischer Lebensmittel radikal einzuschränken.
Was Obst und Gemüse angeht, ist es keine gute Heuristik, einfach nur regionale Produkte zu kaufen, es sei denn, Sie lagern Obst selbst im Keller ein. Im Winter haben Äpfel aus Neuseeland im Zweifel eine bessere Bilanz als die heimischen Äpfel, die lange sehr aufwändig frisch gehalten wurden. Regional und saisonal ist schon besser, schränkt aber natürlich die Auswahl ziemlich ein. Und selbst bei veganer Ernährungsweise und wenn Sie regional und saisonal einkaufen, wissen Sie üblicherweise nichts darüber, ob der Handel fair abläuft. Da müssen Sie schon direkt, ohne Zwischenhändler, beim Erzeuger einkaufen. So schön ein lebhafter Wochenmarkt auch sein kann, im Alltag der allermeisten Menschen dürfte es eher nicht realisierbar sein, viele oder alle Lebensmittel dort zu kaufen.
Und wie ist es mit Verpackungen? Je weniger, desto besser. Aber soll es für die Mandelmilch lieber ein Tetrapack, eine Einweg- oder eine Mehrwegglasflasche sein? Auch das hängt von allerhand Kriterien ab, die man als normale Konsumentin üblicherweise nicht einschätzen kann. Wie weit ist die Recyclinganlage entfernt, wie kommt das Glas dorthin? Wie genau ist das Tetrapack beschaffen? Wie wird es nach Gebrauch verarbeitet?
All diese moralisch relevanten Aspekte können Menschen viel schlechter einschätzen als den Gesundheitsaspekt eines Lebensmittels. Bisher gibt es nicht einmal verpflichtende Vergleichsangaben zu moralischen Kernkategorien (z.B. Tierhaltung, CO2-Bilanz und Fair Trade), an denen man sich orientieren könnte. Als Konsumentin tappt man im Moment ziemlich im Dunkeln, wenn man seine Kaufentscheidung auch an moralischen Kriterien ausrichten will. Und das sollten wir alle tun, schließlich sind es moralische Kriterien. Ob ich mich gesund ernähre, ist grundsätzlich mein Problem (von indirekten Langzeitfolgen für Familie und Gesellschaft abgesehen). Ob ich Lebensmittel kaufe, die moralisch vertretbar sind oder nicht, betrifft direkt, hier und jetzt, andere Menschen und Tiere – und hat außerdem Langzeitfolgen.
Es spricht also vieles für verpflichtende Lebensmittelampeln in Bezug auf moralische Aspekte. Anders als bei Gesundheitsaspekten entfällt hier auch das Bewertungsproblem. Es ist zwar nicht leicht zu sagen, was in welchen Mengen gesund ist. Es dürfte aber immer besser sein, moralisch schlechte Aspekte eines Produkts zu minimieren und moralisch gute zu maximieren.
Demgegenüber treten praktische Probleme in den Hintergrund: Wer nimmt die schwierigen Bewertungen anhand welcher Kriterien vor? Auch wenn es sicher Punkte gibt, die umstritten sind, dürften die allermeisten moralischen Aspekte unstreitig sein, die Bewertung wird normalerweise von Fakten über die Produkte abhängen, die die Produzentinnen kennen. Auch ist es nicht sonderlich kompliziert, saisonal wechselnde Bewertungen der gleichen Lebensmittel zu markieren. Ein regionaler Apfel mag im Sommer ein grünes Licht bekommen, im Winter hingegen ein gelbes oder rotes.
Lebensmittelampeln für die moralische Bewertung von Lebensmitteln könnten die Kaufentscheidung anleiten. Sie nehmen den Konsumentinnen die Unsicherheit, nehmen sie aber auch in die Pflicht. Wer sich wider besseres Wissen für ein unmoralisches Produkt entscheidet, trägt dafür auch die Verantwortung. Sollten sich die Ampeln nicht als effektiv erweisen, unmoralische Produkte nach und nach aus den Regalen zu verbannen, könnte man natürlich auch in diesem Bereich über Steuern und Verbote nachdenken. Vielleicht sind solche Maßnahmen sogar moralisch geboten.
Norbert Paulo ist Privatdozent an der Universität Graz und Vertretungsprofessor für Praktische Philosophie an der Freien Universität Berlin. Er ist Mitgründer von praefaktisch.