Ziviler Ungehorsam – wo ist Dein Standort? Ein Kurztrip zwischen Mottenkiste, Moral und Verfassungsrecht
Von Eckardt Buchholz-Schuster (Coburg)
In regelmäßigen Intervallen wird ziviler Ungehorsam in Demokratien gesellschaftlich, politisch und rechtlich aktuell, so auch seit einiger Zeit wieder in Deutschland. Und jedes Mal hat es fast den Anschein, als ob diese rechtsphilosophisch seit langem differenziert und aus verschiedenen Perspektiven ausgeleuchtete Kategorie nicht nur auf praktischer, sondern auch auf theoretischer Ebene neu erfunden oder doch zumindest neu legitimiert werden müsste. Dabei könnte ein wenig Rückbesinnung auf klassische, rechtsphilosophisch fundierte Beschreibungen zivilen Ungehorsams viel zur Versachlichung mitunter aufgeregter Diskurse der Gegenwart beitragen.
Ziviler Ungehorsam – ein Begriff aus der „Mottenkiste“?
„Aus der Mottenkiste politischer Theorie“ lautet auszugsweise der Titel eines Beitrages, in dem Klaus Ferdinand Gärditz im Jahr 2023 eine kritische grundrechtsdogmatische Position gegenüber dem Begriff des zivilen Ungehorsams einnimmt.[1] Auch in der Spruchpraxis bundesdeutscher Gerichte wurden Begriff und Relevanz des zivilen Ungehorsams in den vergangenen Jahrzehnten eher fremdelnd bis ablehnend thematisiert.[2] An kritischen Stimmen aus dem Bereich der Politik fehlte es zuletzt ebenfalls nicht.[3] – Anfang 2024 haben Klimaaktivisten der „Letzten Generation“ zwar bekundet, von Straßenblockaden und Klebeaktionen absehen zu wollen.[4] Ein Ende von Protestaktionen ist jedoch nicht in Sicht.
Vor diesem Hintergrund stellt sich weiterhin die Frage, ob die faktischen und politischen Ergebnisse demokratisch-rechtstaatlicher Verfahren zu allen Zeiten automatisch so fehlerlos und frei von schwerwiegenden Missständen sind, dass man risikolos glauben kann, auf die verfassungskonform zu interpretierende Ultima Ratio des zivilen Ungehorsams und ihr theoretisches Fundament verzichten zu können. Natürlich erscheint es immer möglich, einen bestimmten Begriff wie vorliegend den des zivilen Ungehorsams als überholt oder rechtlich wertlos einzustufen. Allerdings erleichtert dies nicht unbedingt den rationalen Austausch über Fragestellungen, die in gesellschaftlicher und rechtlicher Hinsicht ebenso relevant wie sensibel sind – und die unter Berücksichtigung der Perspektive zivilen Ungehorsams potenziell vollständiger erfasst werden können, als aus rein politischer oder strafrechtlicher Perspektive. Es gibt nicht nur einen Ernst des Lebens, sondern mitunter auch einen Ernst des Begriffs. Ein so facettenreicher Begriff wie der des zivilen (!) Ungehorsams kann und sollte in funktionaler und inhaltlicher Sicht differenzierter ausgeleuchtet werden, als dies z.B. Gerichten im Akkord alltäglicher Rechtsverwirklichung möglich ist.
Begriff und Rolle bei John Rawls und Ralf Dreier
Etwas erstaunlich mutet es an, dass ziviler Ungehorsam nach wie vor Anlass zu politischer und rechtlicher Skepsis gibt, obwohl sein Begriff und seine potenzielle Rolle im Rechtsstaat in den vergangenen Jahrzehnten Gegenstand verschiedener seriöser Analysen waren, auch und gerade außerhalb der politischen Theorie. Dies gilt etwa für die nachstehend zu skizzierenden rechtsphilosophischen bzw. demokratietheoretischen und verfassungsrechtlichen Perspektiven die John Rawls und Ralf Dreier in Bezug auf zivilen Ungehorsam eingenommen haben.
John Rawls beschreibt zivilen Ungehorsam im Rahmen seiner prominenten „Theorie der Gerechtigkeit“ als eine öffentliche, gewaltlose, gewissenbestimmte, aber politische gesetzwidrige Handlung, „die gewöhnlich eine Änderung der Gesetze oder der Regierungspolitik herbeiführen soll“.[5] (Moralisch) gerechtfertigt ist ziviler Ungehorsam für Rawls dann, wenn er „auf Fälle wesentlicher und eindeutiger Ungerechtigkeit“ beschränkt bleibt, als letzter Ausweg notwendig ist und nur in einem Umfang ausgeübt wird, der „die Achtung vor Gesetz und Verfassung“ nicht zerstört.[6] Innerhalb einer fast gerechten Gesellschaft mit demokratischer Regierungsform wird zivilem Ungehorsam von Rawls die Rolle zugeschrieben, „einer wohlgeordneten oder fast gerechten Gesellschaft Stabilität“ zu bringen.[7] – Man mag diesen Ansatz je nach begrifflicher Vorliebe als moralisch, rechtsethisch, überpositiv oder auch vernunftrechtlich bezeichnen – in jedem Falle ruft er in Erinnerung, dass auch in Bezug auf fast gerechte Gesellschaften bzw. demokratische Regierungsformen schwerwiegende Ungerechtigkeiten bestehen können.[8]
Ralf Dreier gelingt es, einen solchen rechtsethischen Ausgangspunkt zivilen Ungehorsams quasi verfassungsrechtlich zu „erden“. Ausgangspunkt hierfür ist seine These, wonach sich der bisweilen zivilen Ungehorsam auslösende, alte Konflikt zwischen Recht und Moral in rechtsstaatlichen Zeiten zunehmend in das positive Recht verlagert.[9] Die rechtfertigende Berufung auf ein „Recht auf zivilen Ungehorsam“ im Sinne einer Grundrechtsausübung setzt nach Dreier folgendes voraus[10]:
- Ungehorsamsakt (ggf. auch nur prima facie), gerichtet gegen eine bestimmte Verbotsnorm
- öffentliche Handlung
- Gewaltlosigkeit (keine bewussten und gewollten oder voraussehbaren „Verletzungen von Personen sowie Zerstörungen und Beschädigungen von Sachen, deren Wert im Verhältnis zum Protestzweck nicht völlig unerheblich ist“[11])
- politisch-moralische Motivation
- Protest gegen schwerwiegendes, allerdings nicht notwendiger Weise evidentes Unrecht (Beispiel: legislatives oder administratives Unterlassen[12]; Maßstab: Grundrechte, Staatszielbestimmungen; demgegenüber selbstverständlich nicht rechtfertigungsfähig: Versuche zur Beseitigung der rechtsstaatlich-demokratischen Ordnung) und
- Verhältnismäßigkeit, u.a. also Erforderlichkeit und ein angemessenes Verhältnis zwischen Folgen und Zweck.
Der vorstehend skizzierte, differenzierte Kriterienkatalog von Ralf Dreier stammt ursprünglich bereits aus dem Jahre 1983[13], hat jedoch auch in den zwanziger Jahren des 21. Jahrhunderts nichts an Aktualität eingebüßt. Und er ist in seinen einzelnen Bestandteilen gewiss nicht unbestimmter als vieles von dem, womit Studierende der Rechtswissenschaften routinemäßig bereits in ihren ersten Semestern konfrontiert werden. Zum grundrechtstheoretischen Verweis auf Art. 1 Abs. 2 GG (unveräußerliche Menschenrechte) tritt bei Dreier insbesondere auch ein in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzendes demokratietheoretisches Argument, wenn er dem Einwand, die Akzeptanz eines Rechts auf zivilen Ungehorsam fördere die Unterminierung des Prinzips der repräsentativen Demokratie entgegenhält, dass „der Wandel, dem vorgebeugt werden soll, bereits eingetreten ist und die Aufgabe in seiner Kanalisierung besteht“.[14]
Rechtswissenschaftliche Systemimmanenz
Aus rein rechtspositivistischer oder auch (grund-)rechtsdogmatischer Perspektive wäre das beschriebene Recht auf zivilen Ungehorsam gegenüber demokratisch legitimierten Entscheidungen bzw. geduldeten Missständen gleichwohl systemimmanent abzulehnen – und natürlich kann man diese Position im Ergebnis z.B. auch aus rein politischen Gründen und ohne entsprechendes rechtsphilosophisches Fundament teilen. Die Frage ist dann jeweils nur, was gefährlicher ist: Grenzenloses Vertrauen in die Ergebnisse demokratisch-rechtsstaatlicher Entscheidungsprozesse und Verfahren im Zeitalter der Industriegesellschaft – oder die moralischen Urteilsbildungen und Handlungen von Akteuren, die sich auf zivilen Ungehorsam berufen. –
Der hier einmal mehr latent zugrundeliegende, in der Rechtsphilosophie seit langem ausgeleuchtete Konflikt zwischen Recht und Moral ist mitsamt seinen Begrifflichkeiten und Konsequenzen keineswegs irgendwann einmal aus der Zeit gefallen. Vielmehr zählt er zum festen Bestand rechtlicher Zeitgeschichte und erhält in verschiedenen Ausprägungen alle paar Jahrzehnte neue Aktualität. Gleichwohl kann man juristische Prüfungen in Deutschland ablegen, ohne dabei befürchten zu müssen, zu den rechtsphilosophischen Dimensionen dieses Konflikts substantiell befragt zu werden.
In der tendenziell eher ablehnenden Haltung von Rechtswissenschaft und Rechtspraxis der Gegenwart gegenüber der demokratietheoretisch und rechtsethisch gut begründbaren Kategorie des zivilen Ungehorsams zeigt sich in Deutschland einmal mehr eine beklagenswerte monodisziplinäre Verengung fachjuristischer Perspektive, von der ausgehend es – ähnlich wie etwa auch im Verhältnis zu Neuro- oder Sozialwissenschaften[15] – offenbar immer wieder schwer fällt, sich auf inhaltliche und methodische Bezüge außerhalb des gewohnten rechtsdogmatischen Terrains einzulassen.
Ziviler Ungehorsam als potentielles Bindeglied zwischen gesellschaftlichen, politischen und rechtlichen Diskursen
Nähme man die Bedeutung der Kategorie zivilen Ungehorsams für eine Demokratie (auch) im heutigen gesellschaftlichen Kontext grundsätzlich ernst, so müsste und würde man m.E. anlassbezogen und detailliert stets aufs Neue über den oben wiedergegebenen, vergleichsweise differenzierten Kriterienkatalog diskutieren – nicht nur in der gerichtlichen Spruchpraxis, sondern auch im Rahmen gesellschaftlicher und politischer Diskurse und nicht zuletzt auch im Kontext kritischer Selbstreflexion innerhalb aktivistischer Kreise. Im Zentrum stünde dann neben probaten Fragen bezüglich der Gewaltlosigkeit und Verhältnismäßigkeit von Ungehorsamshandlungen auf Augenhöhe auch die bisweilen eher in den Hintergrund gedrängte Frage nach möglicherweise schwerwiegendem staatlichem Unrecht (z.B. durch Unterlassen). Wie diese Fragen dann jeweils einzelfallbezogen zu beantworten wären, mag an dieser Stelle offenbleiben. In jedem Fall aber könnte eine solche thematische Öffnung innerhalb einer starken Demokratie thematisch einschlägige gesellschaftliche und (rechts-)politische Diskussionen über verschiedene Ebenen hinweg versachlichen, diskursive Brücken schlagen – und insoweit dazu führen, dass man mehr miteinander spricht und weniger übereinander. Die diesbezügliche Hoffnung stirbt zuletzt.
Eckardt Buchholz-Schuster ist Jurist und Rechtsphilosoph. Er lehrt seit 2003 als Professor für Recht an der Fakultät für Soziale Arbeit der Hochschule Coburg. Von 2011 bis 2016 leitete er das BMBF-geförderte, interdisziplinäre Bildungsprojekt „Der Coburger Weg“.
https://www.hs-coburg.de/en/personen/prof-dr-eckardt-buchholz-schuster/
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[1] Gärditz, K. F.: Aus der Mottenkiste politischer Theorie: Ziviler Ungehorsam als Lizenz zur Straftat?, VerfBlog, 2023/5/30, https://verfassungsblog.de/aus-der-mottenkiste-politischer-theorie/ (04.02.24), DOI: 10.17176/20230530-231036-0.
[2] Vgl. nur BVerfGE 73, 206 oder zuletzt OLG Celle, NStZ 2023, S. 113.
[3] S. „Buschmann zieht historische Parallele zu Aktionen von ‚Letzte Generation‘“; in: LTO vom 21.4.23; abrufbar unter https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/buschmann-vergleicht-proteste-der-letzten-generation-mit-strassenprotesten-der-zwanzigerjahre-berlin/ (04.02.24).
[4] von Werder, F.: „Verantwortliche direkt konfrontieren“: Letzte Generation kündigt Ende der Straßenblockaden und Klebeaktionen in Berlin an; in: Tagesspiegel vom 29.01.2024, https://www.tagesspiegel.de/berlin/verantwortliche-direkt-konfrontieren-letzte-generation-kundigt-ende-der-strassenblockaden-und-klebeaktionen-in-berlin-an-11130310.html (04.02.24)
[5] Vgl. Rawls, J.: Eine Theorie der Gerechtigkeit, 20. Aufl. Frankfurt a.M. 2017, S. 399 ff., 401.
[6] Ders. a.a.O., S. 409 ff.
[7] Ders. a.a.O., S. 421.
[8] Vgl. a.a.O., S. 420.
[9] Vgl. Dreier, R.: Widerstandsrecht im Rechtsstaat? Bemerkungen zum zivilen Ungehorsam; in: Recht – Staat – Vernunft. Studien zur Rechtstheorie, 2. Aufl. Frankfurt a.M. 2016, S. 41.
[10] Ders. a.a.O., S. 64-67.
[11] So wörtlich ders. a.a.O., S. 65.
[12] S. zu entsprechenden Unrechtsanalysen Buchholz-Schuster, E.: Extreme Wrong Committed by National and Supranational Inactivity: Analyzing the Mediterranean Migrant Crisis and Climate Change from a Legal Philosophical Perspective / Extremes Unrecht durch national- und überstaatliches Unterlassen: Eine Analyse der Migrantenkrise im Mittelmeer und des Klimawandels aus rechtsphilosophischer Perspektive; 2. Aufl, Berlin / Stuttgart 2023, S. 117 ff., 129 ff.
[13] Dreier, R.: Widerstandsrecht und ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat; in: Glotz, P. (Hrsg.): Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat, Frankfurt/M. 1983, S. 54 ff.
[14] Ders., a.a.O. (Fn. 7), S. 70 f.
[15] S. hierzu z.B. Kruse, J.: Neurojurisprudenz – Potenziale und Perspektiven; in: NJW 2020, S. 137 ff.; Rottleuthner, H.: Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft; in: Hilgendorf/ Joerden (Hrsg.): Handbuch Rechtsphilosophie, Stuttgart 2017, S. 251 ff.