300 Jahre Kant: Kant lesen, Kant und Philosophie

Beiträge von Lucian Ionel, François Ottmann und Dina Emundts aus der Reihe 300 Jahre Kant – Das Unzeitgemäße in seiner Philosophie.


Kant zwischen Buchstabe und Geist

Von Lucian Ionel (Leipzig)

Wenn wir Kants Textkorpus untersuchen, stoßen wir zunächst auf die Grenze des Buchstabens. Der Buchstabe ist die Grenze des Geistes: Der Geist kann sich nur im Buchstaben verstehen; der Buchstabe ist aber auch die Weise, in der er sich verfehlen kann. Davor warnt uns Kant, wenn er sagt, Philosophie könne man nicht lernen. Er meint damit, dass philosophische Erkenntnis nicht in der Form von Lehrsätzen erworben werden kann. Philosophische Erkenntnis kann man nur erwerben, indem man philosophiert. Das Einzige, was wir von ihm lernen können, ist das Philosophieren. Wenn wir Kant stattdessen buchstäblich lesen, dann grenzen wir unser Verständnis dessen, was wir sind, selbst ein.

Die Übersetzung des kantischen Geistes in Buchstaben wird deutlich in der Art und Weise, wie seine Kritik unserer Erkenntnisvermögen – also seine Artikulation dessen, was wir von dem wissen, was wir als geistige Lebewesen können – zumeist verstanden wird. Allzu oft wird Kants Unterfangen als eine Aneinanderreihung gegebener Dispositionen verstanden – als wären die Erkenntnisvermögen Dispositionen des Geistes, so wie die Zerbrechlichkeit eine Disposition der Knochen ist. Kant aber mahnt, dass es eine natürliche Illusion unserer Selbsterkenntnis ist, das Subjekt für ein Objekt, unser selbstbewusstes Können für eine gegebene Anlage zu halten. Diese Einsicht ist Ausdruck seines kritischen Geistes in der Frage der philosophischen Psychologie, der Selbsterkenntnis des Menschen. Diesen kritischen Geist brauchen wir auch heute – auch um Kant nicht als ein bloßes Lehrgebäude, als toten Buchstaben am Leben zu erhalten.


Kann man heute (noch) grenzenlos Kantianer sein?

Von François Ottmann (Toulouse)

Die Frage ist doppeldeutig. Grenzenlos Kantianer sein bedeutet zunächst, ähnlich wie man grenzenlos glücklich sein kann, dass man durch und durch Kantianer sein könnte, das heißt, dass man Kants System absolute – unbeschränkte, ohne Grenze oder Schranke – Gültigkeit einräumt, oder um mit Kant zu sprechen: dass es allgemein gültig wäre. Diese Allgemeinheit führt aber zu einem zweiten Verständnis der Frage: Kann man heute noch über die (politischen) Grenzen hinaus – das heißt nicht nur im westlichen, eurozentrischen Denken – Kantianer sein? Erkennt man aber die gegenseitige Abhängigkeit beider Fragen, fragt sich letztlich: Wie allgemein kann tatsächlich ein System gelten, das so angelegt ist, dass es nur dadurch gelten kann, dass es allgemein gilt? Kants Idee des Transzendentalen erzwingt diese Frage. Mit ihr stößt man offenbar an Kants Grenzen, an jene Krise der Universalität, die mit der Aufklärung in Westeuropa ansetzt und neue Wissensparadigmen – etwa der Geisteswissenschaften – notwendig macht. An dieser Paradoxie selbstreferentieller (reflexiver) Vernünftigkeit grenzt also offenbar Kants Denken. Sollte jedoch diese Grenze nicht gerade als positives Produkt von Kants System betrachtet werden? Macht dieses Grenzen an der Antinomie selbstreferentieller Vernünftigkeit nicht gerade diejenige Krise aus, die sich nur in einer Kritik aussprechen kann, und somit die Grundform jeglicher künftigen Philosophie bestimmt (das heißt, in einem nun problematisch anmutenden Sinne, begrenzt)?


Das Antiquierte und Unzeitgemäße bei und in Kant

Von Dina Emundts (Berlin)

Angenommen, wir sehen Kinder im Sandkasten spielen; das eine siebt den Sand und teilt Sand, Stöckchen und Steinchen säuberlich in drei Eimer, geht dann dazu über, die Steine nach Größen zu sortieren und die Stöcke zur Hecke zu bringen; all dies, während das andere aus dem Gemisch ein Haus gebaut hat, in dem man jetzt spielen könnte. Wenn die dabeisitzenden Eltern die Berufe ihrer Kinder erraten müssten, wo würden sie den der Philosophie vermuten?

Kant hätte nicht gezögert. Das Kind mit den gründlichen Trennungen wäre es gewesen. In der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft schreibt Kant: „Was Chemiker beim Scheiden der Materien, was Mathematiker in ihrer reinen Größenlehre tun, das liegt noch weit mehr dem Philosophen ob, damit er den Anteil, den eine besondere Art der Erkenntnis am herumschweifenden Verstandesgebrauch hat, ihren eigenen Wert und Einfluß sicher bestimmen könne.“

Hier, wie an vielen anderen Orten, macht Kant deutlich, dass Philosophie Ordnung herstellt, dass sie dem ‚Herumschweifen‘ entgegenwirken sollte und dass sie auch in ihrem Auftritt möglichst trocken und nüchtern sein muss. An einer anderen Stelle heißt es bei Kant: „Im Grunde ist wohl alle Philosophie prosaisch; und ein Vorschlag, jetzt wiederum poetisch zu philosophieren, möchte wohl so aufgenommen werden, als der für den Kaufmann: seine Handelsbücher künftig nicht in Prosa sondern in Versen zu schreiben.“

Ich möchte nicht sagen, dass Kant hier ein falsches Bild der Philosophie hat. Ordnung schaffen, Sortieren sowie klare Grundsätze und Nüchternheit zu pflegen, sind philosophische Tugenden. Das Ideal, das Kant hier geschaffen hat, war prägend und ein Stück weit hänge ich ihm auch an. Dann aber wurmt es mich plötzlich, ob dies nicht das Bild der Philosophie als einer Begriffspolizei bedingt hat, das mir manchmal in anderen Disziplinen begegnet ist und das ich auf keinen Fall als Ideal meiner Arbeit ansehe. Hatte Hegel nicht Recht, die Dialektik als die bessere Methode der Philosophie darzustellen? Muss in einer komplexen, lebendigen Welt die Philosophie nicht die Kunst der Übergänge mehr als die der Trennungen pflegen? Und muss sie dies wirklich immer so nüchtern tun? Soll sie ordnen und sortieren oder soll sie etwas bewohnbar machen und herstellen? Fehlt es unserer Zeit an Emphase oder an Nüchternheit von Seiten der Philosophie? Unzeitgemäß ist vielleicht am Ende sogar die Trennung von diesen Beiden: Nüchternheit und Emphase werden heute gar nicht mehr als Gegensätze verstanden. Wenn Kant hierin „unzeitgemäß“ ist, dann ist dieser Ausdruck aber nun in dem Sinne gemeint, dass etwas unzeitgemäß ist, wenn es aus einer anderen Zeit ist, in einem gewissen Kontrast zur eigenen Zeit steht und gerade dadurch etwas Überraschendes, Aufweckendes und Neues haben kann – das gilt dann bei diesem Thema auf jeden Fall von Kants Bemerkungen dazu, was für einen Charakter die Philosophie hat.