Gibt es eine Einheit aller Wissenschaften?

Von Lorenzo Spagnesi (Trier)

Für Kant ist ein wesentliches Kennzeichen von Wissenschaft ihre systematische Einheit. Die Vorstellung, dass die systematische Einheit eine zentrale Rolle in der Wissenschaft spielt, ist heute jedoch relativ unpopulär. Nur wenige Philosophen vertreten die These, dass die Wissenschaften systematisch vereinheitlicht werden sollten. Es ist unbestreitbar, dass der gegenwärtige Stand der Wissenschaft dadurch gekennzeichnet ist, dass es eine Vielzahl von Theorien, Modellen und Klassifizierungen gibt, die jeweils unterschiedliche und oft unvereinbare Perspektiven auf die Phänomene eröffnen. Sollen wir daraus schließen, dass der gegenwärtige Stand der Wissenschaft Kants wissenschaftliches Projekt ungültig macht? Wenn Kants Wissenschaftsideal das eines Systems ist, in dem alle Komplexität auf ein einziges Prinzip reduziert ist, dann ist dieses Ideal nicht nur überholt, sondern kann der Forschung sogar schaden. Systematische Einheit beschränkt sich jedoch nicht auf einen Reduktionismus. Meines Erachtens kann sie auch einen vernünftigen Rahmen bedeuten, in dem verschiedene Perspektiven auf die Phänomene möglich sind und vereinheitlicht werden können (oder nicht). Wenn dies zutrifft, kann systematische Einheit auch heute noch relevant sein; dann nämlich, wenn wir sie als Bedingung der Möglichkeit von Wissenschaft und nicht als deren notwendiges Endergebnis betrachten.